Befreiung des Menschen

Text

von  autoralexanderschwarz

Kunst des Starrens 33 (Befreiung des Menschen)

„Wenn es aber tatsächlich wahr ist“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, nachdem ich eine Weile gedacht, geschwiegen und dabei gestarrt habe, „also dass die große Knechtschaft der Menschheit kein natürlicher sondern ein gänzlich künstlicher Zustand ist, der fortwährend durch technische Apparate aufrechterhalten werden muss, dann folgt daraus ja notwendigerweise, dass der sinnvollste Ansatz zur Befreiung des Menschen eben in der Zerstörung all dieser technischen Apparate bestehen muss. Und wenn sich dann all die befreiten Individuen verwundert und wie aus einem Traum erwacht umsehen und jedes für sich und dabei alle gemeinsam den großen Irrtum der Menschheit erkennen, dann, ja dann wäre ja erst der Boden für eine wirkliche und nachhaltige Veränderung bereitet. Das hat sich ja schließlich verändert“, sage ich, „zu Bakunins Zeiten, da sind die Leute ja noch mit Dampflokomotiven gefahren.“

„Und wie willst du das anstellen?“, fragt Olaf, der Sohn des Apothekers, aus der Küche, in welcher er nun schon seit einiger Zeit verschwunden ist.

„Naja“, antworte ich, „man bräuchte halt so einen elektromagnetischen Impuls, der idealerweise zeitgleich und aus verschiedenen Richtungen kommend auf den Planeten wirkt. Das erscheint mir zum einen wichtig, damit nicht irgendwo irgendwelche Maschinen überleben, die zu einem ungünstigen Zeitpunkt von der einen in die andere Zone getragen werden und es hat zum anderen – da kenne ich mich nicht so aus – vielleicht auch eine Bedeutung hinsichtlich des Einflusses auf das natürliche Magnetfeld des Planeten. Wenn die Kräfte aus vier Richtungen gleichzeitig und mit gleicher Stärke wirken, lässt sich so vielleicht verhindern, dass man aus Versehen den Golfstrom umkehrt oder dass der Mond ins Meer stürzt.“

„Ich meine praktisch“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, der mit zwei dampfenden Bechern aus der Küche kommt, „wie willst du das anstellen? Nach deiner Beschreibung bräuchte man ja wohl zumindest vier Raumstationen und soweit ich weiß, besitzt du ja nicht einmal eine einzige, und das ganz abgesehen davon, dass du ja auch keinerlei Ahnung von elektromagnetischen Wellen und deren Beschaffenheit hast und dein kleines Wissen bezüglich EMPs wohl hauptsächlich auf Science Fiction, Videospielen und US-amerikanischen Actionfilmen basiert. Hier.“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, und reicht mir einen dampfenden Becher. „Ist heiß“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers.

„Ich weiß nicht“, sage ich und nehme den dampfenden Becher entgegen, halte ihn mit der rechten Hand, denke und starre, während Olaf, der Sohn des Apothekers, vorsichtig an seinem Becher nippt.

„Das ist ja nur eine erste Idee“, sage ich, „bestimmt gibt es ja bereits Apparate, die so klein sind, dass sie auf einen Satelliten passen und wenn man ein gutes Konzept hat, kriegt man vier kleine Satelliten vielleicht schon per Crowdfunding zusammen. Schließlich ginge es ja um die Befreiung des Menschen“, sage ich und bin dabei selber gar nicht mehr wirklich überzeugt von meiner Idee, „vielleicht hast du Recht“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers,

„vielleicht ist es eine dumme Idee“.

„Und du würdest auch nicht nur alle Menschen töten, die das Pech haben, auf einen Herzschrittmacher angewiesen zu sein, du würdest auch in jedem Krankenhaus auf dem Planeten auf einen Schlag alle lebenserhaltenden Maßnahmen beenden, die Brutkästen und Beatmungsmaschinen abschalten, selbst das Licht im OP und wenn dann schließlich die überhitzten Atomkraftwerke eines nach dem anderen explodieren, werden sich die Überlebenden wohl nicht wirklich befreit fühlen. Selbst deine Crowdfunder würden ihr Investment wohl bereuen“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, und er sagt es mit einem gewissen Triumph,

„und“, ergänzt Olaf, der Sohn des Apothekers, und ich merke an seiner Stimme, dass er dies nur noch der Vollständigkeit halber anfügt: „All die Sturmgewehre, Mörser und Granaten, die - mehr oder weniger gleichmäßig - überall auf dem Planeten verteilt sind, funktionieren dann ja trotzdem noch und es gibt ja auch mehr als genug Munition, dass sich die verbliebene Menschheit damit dann in den Trümmern deiner anarchistisch-apokalyptischen Weltbefreiung im Kampf um die letzten - noch nicht abgelaufenen - Konservendosen gänzlich auslöschen könnte. Um die Menschheit aus der großen Knechtschaft zu befreien“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers mit Pathos, „bräuchte es wohl deutlich mehr als einen elektromagnetischen Impuls.“

Hierauf schweigen wir, denken und starren, rekapitulieren, was wir zuvor starrend gedacht haben. Wir sind ja schon viel zu abhängig von den Maschinen, denke ich, um uns überhaupt noch von ihnen befreien zu können.

„Probier doch mal“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers nach einer Weile, und meint damit den dampfenden Becher, den ich noch immer in meiner Hand halte.

Erst jetzt fällt mir auf, wie heiß er geworden ist, denn je tiefer man denkend und starrend in das assoziative Dickicht vordringt, desto weiter entfernt man sich zwangsläufig von der sonstigen sinnlichen Wahrnehmung. Manch einer hat sich so, denkend-starrend-vertieft, schon eine schmerzhafte Verbrennung zugezogen. Selbst die Zeit verliert dabei manchmal jegliche Bedeutung.

„Dann gibt es wohl gar keine Hoffnung mehr“, sage ich schließlich irgendwann.

Erst dann nippe ich an meinem Becher.




Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online: