Verletzlichkeit als Kunst- und Lebensform

Gedanke

von  dubdidu

Doch, doch: Ich habe immer eine Lösung vorgeschlagen und sie lautet: Verletzlichkeit als Kunst- und Lebensform. Jeder Mensch hat mit Verletzlichkeit zu tun, mit seiner eigenen und mit der anderer. Der Verachtung anderer geht immer die Verachtung der eigenen Verletzlichkeit als Schwäche voraus. Je weniger das Bewusstsein um die eigene Verletzlichkeit unterdrückt wird, je weniger ein Mensch versucht, seine Verletzlichkeit zu verbergen oder zu überwinden oder zu bekämpfen, und da gibt es viele bürgerlich-sittlich akzeptierte Möglichkeiten, desto weniger wird dieser Mensch andere verachten oder ihrer Grandiosität wegen bewundern (können). Es geht hier um etwas Tieferes als die Bejammerung der eigenen Lage und Fremdanklage. Es geht hier um etwas Tieferes als Mitleid. Solange Verletzlichkeit in diesem Rahmen verhandelt wird, befindet man sich noch innerhalb der Verachtungslogik. Es geht darum, sich mit der eigenen Verletzlichkeit gemein zu machen, sie als Wesenskern vollumfänglich anzuerkennen und als eine Stärke zu schützen und zu pflegen, die jenseits von Oben-unten-wir-die-Phantasmen nach innen und außen gleichermaßen wirkt. Dies ist die Voraussetzung für Kunst und Liebe. Leugnung von Verletzlichkeit führt in der Kunst zu steif-göttlichem Formgetue und/oder vulgär-selbstgefälligem Antiheldentum, also Pathos, Kitsch und in der Liebe zu oberflächlichem Begehren und Romantisieren, also auch Pathos, Kitsch. Das ähnelt einem Sänger, der nicht aus dem Bauch singt, sondern aus dem Hals; er mag die Stimme im Hals noch so geschickt manipulieren, einen vollen Klang wird sie nicht entwickeln, nicht im Schmeicheln und nicht in der Kritik.


Es ist dies: die schwierigste, schmerzlichste, intimste Zuwendung zum Leben hin, als ein aktives, freiwilliges Zugrundegehen am selbigen, durch das man sich gleichsam lebendig hält. Sie muss jeden Tag aufs Neue begonnen werden, gegen alle Widerstände, innere wie äußere. Es ist eine unbezahlte und unbezahlbare Leistung; und wie sollte man es jemandem verdenken, ihr entfliehen zu wollen? Es ergibt wenig Sinn, sich zu einem Gregers Werle (Ibsen: die Wildente) aufschwingen zu wollen, der die Lebenslügen der Anderen aufdecken will. Die Bereitschaft dazu muss aus jedem Menschen selbst kommen und kein Einzelner mit noch so viel Bereitschaft wird diese Aufgabe bis zu seinem Tod je ganz vollendet haben.


Aber das macht nichts. Denn es werden Menschen nach ihm kommen, die weitermachen. Indem sie bei sich selbst neuanfangen, führen sie auch weiter, was andere begonnen haben und erfahren in ihrem Zugrundegehen, das ein einzigartiges und gleichwohl allgemeinmenschliches ist, Mut, Kraft und Trost durch ihre Vorgänger und spenden diese auch, allein durch ihr Streben und Scheitern, unermüdlich und getragen von Müdigkeit. In diesem tätigen Verletzlich-Sein und -Bleiben, in dem keine Zeit für Schwadronieren darüber bleibt, was gut oder nicht gut (genug) sei, auf keiner Ebene, wird niemand sich als Opfer fühlen, nicht als Opfer irgendwelcher Akteure, Umstände oder Zeiten, mögen sie noch so grausam sein: „Nein! Das sind genau die Zeiten, in denen Künstler sich an die Arbeit machen. Keine Zeit für Verzweiflung, kein Ort für Selbstmitleid, keine Notwendigkeit zu schweigen, kein Raum für Angst. Wir sprechen, wir schreiben, wir machen Sprache. So heilen Zivilisationen“*.



Anmerkung von dubdidu:

* Toni Morrison: No Place for Self-Pity, No Room for Fear. In times of dread, artists must never chose to remain silent. The Nation, 2015. Übersetzung: dubdidu.

https://www.thenation.com/article/archive/no-place-self-pity-no-room-fear

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Kommentare zu diesem Text


 AlmÖhi (20.09.25, 19:19)
Fast schon ein radikaler Ansatz, wenn man bedenkt wie pandemisch das Stockholm-Syndrom geworden ist.

 dubdidu meinte dazu am 20.09.25 um 21:19:
Fast heißt was, es ist ein radikaler Ansatz, er kennt nur ein Kollektiv: alle Menschen und ist für alle zu jeder Zeit offen, da seine Wurzel das Scheitern daran miteinbezieht.

 Saudade (20.09.25, 22:54)
Wir sprechen, wir schreiben, wir machen Sprache. So heilen Zivilisationen“*.
Erinnere dich an die Aufklärung, das waren zunächst "Spinner" und dennich wurde weitergeschrieben. Und jetzt, im Heute, kann jeder frei meinen, Konsequenzen sind natürlich da, aber das Meinen ist frei.
Ich habe nur das düstere Gefühl, dass die Gesellschaft momentan festgefahren ist und die Zeit der engagierten Literatur vorbei ist. Hie und da blitzt noch etwas auf, eher Empörung, aber die bewirkt nix. Meinst nicht?

 dubdidu antwortete darauf am 21.09.25 um 09:44:
Hm, ich weiß nicht genau, was du unter engagierter Literatur verstehst, bzw., ob wir darunter dasselbe verstehen. Verletzlichkeit als Kunstform kann die unterschiedlichsten Texte hervorbringen, jedoch nicht: seichte Empörung. Sie wendet sich ja gerade vom Meinen ab, hin zur Ausgesetztheit des Einzelnen in einer komplexen Umwelt.

 Saudade schrieb daraufhin am 21.09.25 um 10:39:
Eine Literatur, die etwas bewirkt, siehe den "Blum-Skandal" von Böll/Bild-Zeitung. 
Seichte Empörung ist doch auch eine Form der Verletzlichkeit, getarnt.
Ich pudel mich doch nur auf, wenn mich etwas trifft.

Antwort geändert am 21.09.2025 um 10:41 Uhr

 dubdidu äußerte darauf am 21.09.25 um 11:40:
Seichte Empörung ist doch auch eine Form der Verletzlichkeit, getarnt.
Es geht darum, diese Tarnung ablegen zu wollen. Siehe oben die Analogie zum Singen. Verletzlichkeit ist keine soziale Position innerhalb einer Hierarchie, sondern eine Haltung jenseits von Hierarchie.


Ich plädiere nicht für eine engagierte Literatur im Sinne Bölls, auch wenn ich dieser ihre Berechtigung keinesfalls absprechen möchte und ihn stets gerne gelesen habe.


Ich pudel mich doch nur auf, wenn mich etwas trifft.
Hm.... Ich denke da wirken mehrere Faktoren zusammen. Ich beobachte hier Anschlussfähigkeiten, die aus einem wie mir scheint ganz unterschiedlichen Zusammenwirken von persönlicher Verzweiflung/Enttäuschung und deren Einordnung und Deutung analog zu bestehenden (z.T. miteinander verwobenen) überlieferten Narrativen, die letztendlich in derselben Empörungs-Bubble gebündelt werden.

 Saudade ergänzte dazu am 21.09.25 um 11:44:
Wenn du mir eine Sache glauben darfst, dann, dass Verletzlichkeit zeigen ein No-go ist.
Der Großteil will das nicht.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 11:47:
Genau. Deshalb ist es auch die radikalste Form des Widerstandes, eine die das Zeug zur Kunst hat und sich vor KI nicht zu fürchten braucht.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 11:49:
Wahrlich nicht.

 eiskimo (21.09.25, 11:59)
Ich finde den Ansatz sehr spannend. Was ich mich frage: Ist das praxistauglich? Wird der Verletzliche nicht sofort von allen Seiten ausgenutzt? Er, das Schaf in einer Umgebung voller Wölfe...
LG
Eiskimo

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 15:36:
Spontan würde ich sagen: unwahrscheinlich. Eine bewusst gelebte Verletzlichkeit hat nichts zu geben als sich selbst, erwartet nichts und hat damit nichts zu verlieren. 

Ich erinnere mich an eine Doku, in der es um Hochstapelei ging. Auf die Frage, wie es ihnen gelungen war, andere Menschen mit derart obskuren Geschichten hinters Licht zu führen, antworteten sie: Gier. Die ausgenutzten Leute ließen sich locken, weil sie selbst etwas haben wollten.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 15:59:
Denk an Burger, der ist am Geschriebenen zugrunde gegangen. Ich glaube auch nicht, dass das praxistauglich ist.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:09:
Aber das Zugrundegehen wird doch gerade bejaht. Warum sollte es praxistauglicher sein, im Panzer zu verschrumpeln?

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 16:19:
Aber, unten haben wir ein gutes Beispiel - der geht immer auf die Verletzlichkeit los, das macht "stark".
Nee, da sind wir nicht einer Meinung, gerade das Aufschreiben und die Veröffentlichung von Verletzlichkeit macht angreifbar. 
Ich bin gerade in so einer "Notsituation" und das funktioniert nicht. Mit der Verletzlichkeit bietest du der Gesellschaft Verhöhnungsfläche.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:35:
Aber nur wenn man deren Verachtungslogik folgt. Die Verletzlichkeit bedeutet Befreiung daraus.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 16:41:
Nee. Manchmal hält man Verachtung schwer aus, weil sie Überhand nimmt. Es ist nicht jeder so stark.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 17:11:
Dass man sie manchmal schwer aushält, gehört dazu, das ist die malträtierte innere Lebendigkeit. Aber die leidet eben langfristig noch mehr, wenn man sie versucht, zu umpanzern. Nach Verachtungslogik wird Stärke fälschlicherweise mit Härte identifiziert.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 17:18:
Also, ich zieh mich da eher aus dem Feld, wenn ich sensibel bin. Schreiben ja, aber nicht antworten, wenn es zu weit geht. Obwohl ich eine trainierte "Kampfmaschine" bin. Nein, da gehen wir nicht konform. Denke, dass der Großteil der Gesellschaft nicht mehr bereit ist zu fühlen, mitzufühlen.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 17:58:
Ich glaube, viele vermissen es oder haben eine unbestimmte Sehnsucht danach.

Im Übrigen spricht nichts dagegen, sich aus dem Feld zu ziehen, wenn man gerade keinen Kugelhagel in sich aufnehmen kann. Das kann auch eine Möglichkeit sein, seine Verletzlichkeit zu bewahren.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 18:07:
Ja!

 Augustus (21.09.25, 12:23)
Verletzlichkeit in der Literatur bedeutet (auch) immer sie zu ästhetisieren, wonach sich idealerweise aus dem bloßen Leser ein emotionaler, mitfühlender, mitleidender Leser entwickelt. Verletzlichkeit der Charaktere literarisiert, öffnet zudem den Zugang zu eigenen Emotionen. Es ist ferner eine Begegnung mit sich selbst; ermöglicht durch die Literatur. Der Leser wird etwa in die Gefühls-und Gedankenwelt einer „Anna Karenina“ eingeführt, mit dem Zweck, an ihrer Seite dieselben mitzuempfinden. 
Verletzlichkeit zeigen bedeutet Menschlichkeit zu zeigen; und wo Mensch Menschen begegnet, rüttelt das Menschliche im Menschen, mag es versteckt, verdrängt, ignoriert und unterdrückt sein, immer
Aber auch in Bildern wird oftmals Verletzlichkeit dargestellt; nicht der Verstand, der Intellekt sollen angesprochen werden, sondern das Herz, ein Organ, der eine eigene Welt beherbergt, von der die meisten die Sprache nicht sprechen und darum wie vor hyieroglphen stehen, ohne Anleitung sie diese auch nicht verstehen. 

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 15:44:
Grundsätzlich zu allem ja, nur das Beispiel der Anna Karenina finde ich eher so mittel. Tolstoi'sche Figuren sind m.E. unterkomplex, werden der Verletzlichkeit von Menschen sind gerecht. Aber natürlich könnte man solche Soap Opera Charaktere anders erzählen. Dann würde der Leser z.B. tief in die Abgründe der verzweifelt hohlen Existenz von Anna Kareninas Bruder (wie heißt er noch mal, Stepan?) gestoßen.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 15:50:
Okay...diesmal streiten wir nicht. :D
Dennoch hast du in mir eine Empörung ausgelöst, die ich dir durchaus mitteilen möchte. :D

 Anfank meinte dazu am 21.09.25 um 16:05:
Der Text wirkt unbeholfen, gewollt intellektuell.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:08:
Schreib doch noch eine Fassung von cor, Aron.

 Anfank meinte dazu am 21.09.25 um 16:12:
Hast du mir bei dir cor das gruselig reingedrückt oder Corinna?

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:17:
Ich
doch
nicht

 Anfank meinte dazu am 21.09.25 um 16:23:
Dann war es Corinna.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 16:25:
Ich weiß gar nicht, ob es hier eine Corinna mit zwei n gibt? Ich glaub nicht.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:30:
Har-
fouch?

Besser gealtert als Iris Berben, finde ich.

 Anfank meinte dazu am 21.09.25 um 16:32:
Ob mich Corinna noch liebt?

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:36:
Aron, reicht es nicht, dass niemand dich liebt?

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 16:38:
@dibdidu: Findest du?
Jedenfalls weiß ich nicht, wen der Typ meint. Aber, lustig, was Eitelkeit aus einem Menschen macht. 
Tröst dich, Aron, mir hat auch so ein Volli. eine schlechte Bewertung gegeben, ich sah dem sogar zu als er es machte. Das kratzt doch niemanden.

Antwort geändert am 21.09.2025 um 16:39 Uhr

 Anfank meinte dazu am 21.09.25 um 16:39:
Will auch von allen geliebt werden ...

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 16:42:
Der Typ... ja. Ist halt jedes Wochenende allein.

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 16:49:
@Saudade: ja. Vielleicht auch da eine Frage der Eitelkeit, da diese ja innerlich wie äußerlich schlecht altert.

Mensch, Aron, was machen wir da nur mit dir. Vielleicht konzentrierst du dich an den Tagen, an denen du Pause von schlafenden Schülern und lästernden Kollegen im Lehrerzimmer hast, einfach mal wieder auf dein Werk. Statt dem Trittin, der du gerne wärst, ähnelst du immer mehr Kubicki.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 16:53:
Ich finde beide sehr fesch. Tatsächlich.

 Anfank meinte dazu am 21.09.25 um 16:54:
Ich bin am Wochenende eben immer so einsam ... Mal sehen, ob Corina mir verzeiht ...

 dubdidu meinte dazu am 21.09.25 um 17:03:
Am schönsten finde ich Senta Berger. Aber am allerschönsten war die hochbetagte Brigitte Horney.

 Saudade meinte dazu am 21.09.25 um 17:07:
Senta Berger mit ihrem Wiener Charme... ja.

 Savanne (22.09.25, 16:31)
Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt.

 dubdidu meinte dazu am 22.09.25 um 17:38:
Du meinst, niemand würde zuhören? Ein paar haben sich auf den Gedanken doch eingelassen.
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