Die zärtlichen Lichter der Nacht

Text

von  Pearl

Die Stadt kam ihr anfangs wie eine ratternde Maschine vor. U - Bahntüren spuckten Hunderte von Menschen aus ihren offenen Löwenmäulern aus. Und das Läuten von Kirchenglocken wich dem rasenden Gesang der Blaulichtsirenen. Hier umarmten Freunde und Verwandte zum Abschied einander, auch zur Begrüßung. Bei ihr zuhause gab man sich drei Küsschen auf die Wangen.

Doch mit der Zeit vertraute sie ihm. Dem Moloch. Sie gewöhnte sich an die vielen Bettler, Obdachlosen. Die grellgesichtigen Gesichter der Geschäfte. Sie gewöhnte  sich auch den hastigen Gang der Stadtbewohner an.

Zwanzig Jahre lebte sie nun schon hier. Zwanzig Jahre Auf- und Abs. Sie dachte an die Stadt nicht mehr wie an etwas Fremdes, etwa wie an einen dritten Arm. Sie war zusammengewachsen mit ihr, diesem vielarmigen Tintenfisch, der verschiedenste Kulturen, Individuen, Lebensgewohnheiten in sich beherbergte.

Der Bus schaukelte sie durch die Südtiroler - und Tiroler Berge, ganz so wie ein zu klein geratenes Boot auf offener See.

Dann, im Zug, wurde die vorbeigleitende Landschaft flacher, sanfter, weniger wild. Was sie nicht wirklich mitbekam, denn sie starrte meist regungslos auf das Display ihres Handys und hörte Musik. Überhaupt kam sie sich vor wie ein unbewohnter Geist, dessen Seele irgendwo im weiten Weltall schwebte.

Die blaue Stunde, nannte ihr Vater die Zeit, kurz bevor die Nacht begann ihre zarten Fühler auszustrecken. Er erinnerte sich gerne an seine Kindheit in Deutschland zurück, wie die Familie zu dieser Abendzeit beieinandersaß, Tee oder Cognac trank, miteinander sprach und murmelte.

Sie würde auch gern sprechen, mit ihm, ihrer Mutter, Schwester. Doch ihr hatte etwas die Zunge in Gold verwandelt. Schweigen ist Gold, sagt man doch. Sie wünschte, ihre Zunge wäre silbern.

Als sie aus dem Zugfenster sah, war aus den dumpfen und grauen Nachmittagsstunden Nacht geworden. Leuchtende Bahnhöfe, Sendemasten, Orte wie Engel aus elektrischem Licht. Es waren die zärtlichen Lichter der Nacht. Sie breiteten sich in einem Geflecht über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Diese drei Teile wurden in ihrem Inneren zu einem hoffnungsvollen Ganzen wie sie selbst, ihre Schwester und ihre Eltern. Unperfekt. Doch liebevoll und schön.


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Kommentare zu diesem Text


 Saira (21.10.25, 12:47)
Liebe Pearl,

wie du aus der Fremdheit langsam Vertrautheit webst und die Stadt zu einem lebendigen Wesen machst, hat große Zärtlichkeit.


Und das Bild der „silbernen Zunge“ - welch starke Metapher für das Sehnen nach Nähe, die sich ausdrücken möchte.

 
Ein wunderschön erzähltes Stück leiser Transformation.
 
Herzliche Grüße
Saira

 Pearl meinte dazu am 21.10.25 um 13:00:
Danke, liebe Saira. Dieser Text ist den vier wichtigsten Personen meines Lebens gewidmet, meiner Schwester, unseren Eltern und mir :)

Er gehört zu meinen Lieblingstexten von mir.

Liebe Grüße, Stefanie

 Quoth (21.10.25, 13:34)
Ja, die Harmonie besiegt die Disharmonie. Ein Miniatur-Bildungsroman. Sehr schön. Sehr eigen. 
ein unbewohnter Geist, dessen Seele irgendwo im weiten Weltall schwebte.
So habe ich das noch nie gelesen. "Ein unbewohnter Körper, dessen Geist ..." Das verstünde ich leichter ... Der Körper ist gar nicht da. Er ist der Text selber.

 Pearl antwortete darauf am 21.10.25 um 13:42:
Hallo! Und Danke. Ich würde es eher als Zerissenheit  eine innere, (die sich nicht ausdrücken kann), und eine äußere ( durch die verschiedenen Wohnorte bedingt) ausdrücken. Auch Sehnsucht ist da, Heimweh. Doch Liebe birgt Harmonie in sich. 

Liebe Grüße, mein Freund!

Pearl

Antwort geändert am 21.10.2025 um 13:42 Uhr
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