Deutschland ist ein grauer Gedanke, der seit Jahrzehnten unbewegt im eigenen Schädel liegt, wie eine vergessene Tablette, die sich nicht auflöst. Ein Gedanke, der funktionieren will, obwohl seine Menschen längst aufgehört haben, es zu tun. Wer weint, wird verdächtig. Wer zittert, wird unzuverlässig. Wer nicht mehr kann, wird zum Problemfall und Probleme löst man hier mit Formularen oder Feuerwaffen.
Manchmal stehe ich vor einem Polizisten und denke: Er existiert nur, damit der Staat glaubt, dass er noch Puls hat. Ein mechanischer Reflex, gegossen in Uniform. Man füttert junge Menschen mit Dienstanweisungen, Angst und halbgaren Ethikseminaren, und wundert sich dann, dass sie in einer Wohnung stehen, in der jemand bricht, und das Einzige, was ihnen einfällt, ist lauter zu werden als seine Verzweiflung. Deutschland bildet keine Ordnungshüter aus. Es produziert Nervensysteme mit Waffenschein.
Dann liegt wieder jemand am Boden. Vielleicht ein Erwachsener, vielleicht ein Kind. Zwölf Jahre alt. Viel zu jung, um die deutsche Bürokratie des Sterbens zu verstehen. Später sagt das Protokoll: „Die Lage war unübersichtlich.“ Natürlich war sie das. Menschen sind unübersichtlich. Krisen sind unübersichtlich. Nur die Berichte sind klar, kalt, steril, so präzise wie die chirurgische Entfernung jeglicher Verantwortung. Die Mordkommission ermittelt, was in Deutschland bedeutet: Der Staat hält die Hand des Staates und sagt ihm, dass alles gut wird.
Wir sind längst kaputt, aber nicht kaputt genug, um es zu merken. Wir drücken eine Zigarette aus, murmeln, dass es ohnehin egal ist, weil jede Gesellschaft irgendwann so müde wird, dass sie nur noch mechanisch Gewalt erzeugt, wie andere Länder Strom. Ein Staat, der seine Schwächsten erschießt, hat mehr Angst vor sich selbst als vor jedem „Gefährder“.
Deutschland hat ein Problem mit Menschen, die nicht funktionieren. Wer nicht funktioniert, ruft die Polizei. Wer Hilfe sucht, wird zur Bedrohung erklärt. Und plötzlich ist deine Wohnung ein Tatort, dein Körper ein Risiko, deine Existenz eine „Eskalation“.
Hier gilt das älteste Gesetz der Bundesrepublik:
Werde nicht zur Situation.
Die Situation darf erschossen werden.
Danach reden die Verantwortlichen über Reformen, Schulungen, über neue Konzepte der „Deeskalation“, als wären sie Glaubensgemeinschaften, die eine neue Religion testen. Dabei wäre die Lösung so einfach: Menschen müssten Menschen sein dürfen. Auch wenn sie zerbrechen. Auch wenn sie schreien. Auch wenn sie mit einem Messer in der Hand dastehen, weil sie nicht wissen, wohin mit sich selbst. Es ist nicht gefährlich, ein Mensch zu sein. Es ist gefährlich, von einer Gesellschaft abhängig zu sein, die Menschlichkeit als
Ausnahmezustand behandelt.
Deutschland ist müde.
Die Bullen sind müde
Die Bürger sind müde.
Müdigkeit ist gefährlich, wenn man Waffen trägt.
Vielleicht bleibt nur dies: ein Land, das sich selbst verwaltet, bis es niemanden mehr gibt, der es bewohnt. Ein Land, das seine Schutzsuchenden erschreckt, seine Schwachen korrigiert, seine Kranken für unzumutbar hält. Ein Land, das seine Fehler zu Naturkatastrophen erklärt. Jeder „bedauerliche Vorfall“ ist ein Tropfen, der zeigt: der Staat ist nicht böse. Er ist müde, taub und strukturell überfordert.
Die gefährlichste Waffe dieses Landes ist nicht die Dienstpistole.
Es ist die Gleichgültigkeit, die sie legitimiert.