6.2 ZugNull
Text
von Isensee
Der Zug hält am Gleis 3. Es ist 18:23 Uhr. Der Regionalexpress nach Halle (Saale) über Wolfen, Delitzsch und Schkeuditz steht bereit. Die Türen öffnen sich. Es riecht nach Metall und abgestandener Luft. Der Sitz ist noch warm von der vorherigen Person. Kein Wort wird gesprochen. Es ist ein Waggon der älteren Bauart, mit roten Polstern, die einmal orange gewesen sein könnten, oder vielleicht auch nicht. Eine Durchsage. „Bitte beachten Sie: Dieser Zug fährt nicht weiter als Halle (Saale) Hauptbahnhof. Fahrgäste in Richtung Erfurt steigen bitte in Halle um.“ Die Stimme ist neutral. Sie hat keinerlei Absicht. Der Zug setzt sich in Bewegung. Der Motor summt gleichmäßig, ein unaufgeregtes, rhythmisches Schaukeln beginnt. Die Landschaft gleitet vorbei: graue Betonblöcke, ein einzelner Baum, ein Feld. Dann wieder nichts. Das Nichts hält an. Es ist kein interessantes Nichts, sondern das übliche. Ein Mann isst einen Apfel. Er kaut langsam. Der Apfel ist weder knackig noch mehlig. Einfach nur ein Apfel. Der nächste Halt ist Wolfen. Ein Ort, der mehr wie ein Konzept als wie eine Realität wirkt. Menschen steigen aus. Menschen steigen ein. Niemand spricht. Die Tür piept drei Mal. Dann schließt sie sich. Die Weiterfahrt wird angekündigt. Das Wort „Wolfen“ verhallt im Lautsprecher und wird durch das rhythmische Rattern der Räder ersetzt. Jemand niest. Niemand sagt „Gesundheit.“ Im Gang liegt eine zerknüllte Quittung von Edeka. Sie bleibt dort liegen. Niemand hebt sie auf. Die Luft ist abgestanden. Ein Fenster wird geöffnet, aber nur für einen Moment, bevor jemand es wieder schließt. Es zieht. Der Zug fährt weiter. Hinter Bitterfeld wechselt die Landschaft. Es ist keine spürbare Veränderung, sondern eine, die man nur registriert, wenn man hinsehen würde. Ein ausgedienter Baukran steht am Horizont, dann wieder Felder, unterbrochen von Strommasten. Das Sonnenlicht bricht sich an einer dreckigen Scheibe. Es blendet nicht. Es macht auch nichts schöner. Delitzsch. Drei Menschen steigen ein. Einer trägt eine Plastiktüte mit undefinierbarem Inhalt. Die Tüte raschelt. Dann ist sie still. Der Zug fährt weiter. Ein Handy klingelt. Es ist ein alter Nokia-Ton. Die Person drückt die Annahmetaste. Sie sagt „Ja.“ Danach nichts mehr. Dann legt sie auf. Schkeuditz. Die Durchsage ist dieselbe wie zuvor. Nur der Name des Bahnhofs hat sich geändert. Halle (Saale). Endstation. Der Zug hält. Die Türen piepen drei Mal. Sie öffnen sich. Es riecht nach Bahnsteigluft, die nicht anders ist als Zugluft, aber doch eigen. Die Sitze werden leer, dann warm von neuen Reisenden.