Februar 1998
Ich befand mich zu dieser Zeit auf einem Tauchurlaub auf den Malediven, wie einigen Lesern aus meiner Erzählung >Taucher’s Freund< bereits bekannt ist.
Da auf dieser von mir besuchten Insel die Aktivität Tauchen ganz besonders groß geschrieben wird, sind gut neunzig Prozent der Gäste Taucher, und dementsprechend vielseitig ist auch das Angebot der dort ansässigen Tauchbasis. Unter anderem werden regelmäßig Ganztagesfahrten zum anderen Ende des Atolls angeboten, wo als Tauchspot ein sogenannter Manta Point liegt. Wie der Name schon sagt ist dies ein Platz, an dem die Chance auf eine Begegnung mit Mantas (oder Teufelsrochen) ganz besonders hoch ist. Ich selbst mag die Bezeichnung Teufelsrochen ganz und gar nicht, wird sie diesem sanften, neugierigen Riesen des Meeres absolut nicht gerecht. Sie dürfte wohl schauerlichen Ammenmärchen früherer Seefahrer zu verdanken sein und hängt auch damit zusammen, dass der Manta über zwei sehr bewegliche, sogenannte Kopfflossen verfügt, die, wenn er sie zusammenrollt, durchaus an Hörner erinnern.
Die Plätze auf einer Fahrt zu einem solchen Mantapoint sind natürlich sehr begehrt, trotz der langen Anfahrzeiten und des damit verbundenen Aufpreises. Doch kann ich sagen: trifft man Mantas an ist diese Begegnung die Kosten absolut wert.
Die mehrstündige Fahrt mit dem Tauchboot wird einem in Anbetracht der Möglichkeit, Mantas aus nächster Nähe zu beobachten nicht fad. Manche Taucher verhalten sich ruhig und gelassen, beobachten das Meer, in ihre Träume und Hoffnungen versunken. Wieder andere verlieren sich in Spekulationen oder diskutieren mit anderen Tauchern, die bereits das Glück hatten, Mantas zu begegnen oder reden über andere Beobachtungen auf ihren Tauchgängen. Aber man merkt irgendwie jedem die innere Anspannung an, ganz egal ob derjenige schon Mantas zu Gesicht bekam oder eben noch nicht.
Dass es dann bald soweit sein wird erkennt man daran, dass ein begleitender Tauchguide um Ruhe bittet und mit dem sogenannten Briefing beginnt. Dabei wird man über alles Wissenswerte den Tauchplatz betreffend informiert; Beschaffenheit, Strömungsverhältnisse, Tiefe, zu Beachtendes und auch wie man sich in Anbetracht der Wesen zu verhalten hat, denen man an diesem Tauchplatz begegnen kann. Auf den Malediven herrschen im allgemeinen sehr strenge Tauchregeln, deren Einhaltung meist streng überwacht wird. Nichtbeachtung kann je nach Schwere mit einem Tag Tauchverbot bis hin zum kompletten Ausschluss aus dem Tauchprogramm führen. Diese hohe Konsequenz hat dafür gesorgt, dass die dortigen Tauchreviere nach wie vor zu den schönsten auf der Welt zählen, auch wenn manche sie für übertrieben halten.
Nachdem also das Briefing beendet ist, können die Taucher dann in aller Ruhe damit beginnen, ihre Gerätschaften zu prüfen und sich tauchbereit zu machen.
Der Tauchgang, von dem ich nun berichte, beginnt damit, dass wir über einem großen Riffdach abspringen, das in fünf bis zehn Meter Tiefe liegt, an seinen Rändern aber jäh in eine Tiefe abfällt, deren Boden nicht mehr auszumachen ist. Wie wir erfahren haben, haben die Mantas relativ feste Zeiten, zu denen sie an bestimmten Punkten erscheinen, oder auch nicht. Das hängt mit Strömungsverhältnissen und Nahrungsangebot zusammen, ist aber doch relativ verlässlich. Wir sind angehalten den Tauchguides zu folgen und uns allesamt an einem Punkt des Riffdachs zu sammeln und dort zu verharren, bis die Mantas auftauchen. Zuerst sollen die Mantas uns sehen und beobachten können um zu erkennen, dass von uns keine Gefahr ausgeht. Erst wenn dies geschehen ist, und die Tauchguides sich vom Riffdach lösen, dürfen wir uns ebenfalls frei auf dem ganzen Riffdach bewegen, das eine Fläche von etwa einhundert mal zweihundertfünfzig Meter hat, wie ich später von einem Tauchguide auf Nachfrage erfahre. Bei diesem besonderen Tauchgang wird die Tauchzeit nicht limitiert, sondern hängt davon ab, wie gut der Taucher mit seinem Luftvorrat umgehen kann. Wird die Reservemenge von fünfzig bar erreicht, hat der Taucher aufzutauchen und wird vom Tauchboot aufgesammelt. Eine äußerst bequeme Art des Tauchens. Da wir uns nur in niedrigen Tiefen aufhalten, ist eine Tauchzeit von neunzig bis einhundertzwanzig Minuten für einen geübten Taucher möglich.
Wir liegen inzwischen angespannt seit etwa knapp einer viertel Stunde auf dem Riffdach, jeder in eine andere Richtung starrend. und plötzlich erhalten wir von einem der Tauguides ein Zeichen. Sämtliche Blicke heften sich auf den vagen Punkt, in dessen Richtung er zeigt. Zuerst ist nichts zu erkennen, doch dann lösen sich wie aus einem dichten Nebel die Schemen des ersten Mantas aus dem Blau, gefolgt von einem zweiten, einem dritten, einem vierten. Sie haben uns gewiss schon längst erspäht, befinden sie sich in ihrem Element, in welchem wir Menschen nur zu Gast sind. Zögerlich kommen sie langsam näher, ganz gewiss ebenso neugierig auf uns wie wir auf sie. Zwei weitere Mantas schälen sich aus der Unendlichkeit des Wassers, folgen ihren Artgenossen, die nun bestenfalls noch zwanzig Meter von uns entfernst sind. Würde ich nicht das Blubbern der Luftblasen aus unseren Atemreglern wahrnehmen, würde ich schwören, dass jeder atemlos gebannt von diesem Anblick gefangen ist, für die meisten, auch mich selbst zum ersten mal.
Der erste ist inzwischen noch näher gekommen, bestenfalls noch fünf bis sieben Meter entfernt. Nun kann man bereits deutlich seine wachsamen Augen erkennen, die er nicht von uns lässt. Beeindruckend schlägt er mit den gigantischen Flossen, die sich Flügeln gleich ausgebildet haben, und schließlich gleitet er über uns hinweg in einem Abstand von vielleicht 2 Metern. Mit ungefähr einer Spannweite von dreieinhalb Metern ist er bei weitem noch nicht ausgewachsen. Seinem Beispiel folgen nun die anderen Mantas, und wir betrachten dieses Schauspiel inzwischen auf dem Rücken liegend. Wie wir erkennen, macht es ihnen sichtlich Spaß, durch die Luftblasen zu gleiten, die sich aus unseren Atemreglern den Weg zur Wasseroberfläche bahnen, auf diesem Weg ständig größer werdend und zerplatzend. Die Mantas scheinen unsere Anwesenheit nun akzeptiert und für ungefährlich befunden zu haben. Sie verteilen sich über das Riffdach, jedoch meist näher an den Kanten, wo sich Strömungen befinden und sie sich bevorzugt zur Nahrungsaufnahme aufhalten.
Nun lösen sich auch die Tauchguides von unserem Wartepunkt, für uns das Signal, es ihnen gleich zu tun. Von den meisten unbemerkt, sind inzwischen weitere Mantas hinzugekommen, wie ich beim Umschauen und Zählen feststellen kann. In dieser geringen, von Sonnenlicht durchfluteten Tiefe ist eine Menge zu erkennen, ich glaube, elf Tiere gezählt zu haben, bin mir aber nicht sicher, den ein oder anderen doppelt erwischt zu haben, da sie ständig in Bewegung sind. Was mir dabei auffällt ist das individuelle Aussehen jedes Einzelnen von ihnen. Zwar ist jeder an der Oberseite als dunkel und der Unterseite als hell zu bezeichnen, doch befinden sich immer irgendwelche Flecken und Schattierungen dazwischen. Man könnte sie also durchaus auseinanderhalten und ihnen Namen geben, hätte man Gewissheit, ihnen häufiger begegnen zu können.
Inzwischen liege ich wieder auf dem Riffdach an einer Kante und beobachte mehrere von ihnen, die mit gewaltigen Flossen-, passender ist eigentlich Flügelschlägen, engelsgleich das Riffdach umrunden, das gewaltige Maul aufgesperrt um Kleinstlebewesen aus dem Wasser zu filtern, denn diese Giganten ernähren sich davon. Es klingt unglaublich, dass diese Tiere sich von etwas ernähren können, das wir selbst kaum wahrnehmen und dabei eine solche Größe erreichen.
Ich drehe ein wenig den Kopf und entdecke einen weiteren Manta über das Riffdach gleiten, inzwischen so unbeeindruckt von uns, dass er sich von einem Taucher aus nächster Nähe fotografieren lässt. Inzwischen kann ich es glauben, dass man auf diesen Tieren sogar reiten kann, wie man schon manchmal in Fernsehsendungen über das Meer sehen konnte. Uns wurde strikt untersagt, zu versuchen die Tiere anzufassen, was ich absolut in Ordnung finde, ist doch diese Begegnung traumhaft genug. Auch sind die Tauchguides allgegenwärtig und darauf bedacht, dass ihren Anordnungen Folge geleistet wird.
Mit einem Mal wird es dunkel um mich herum, in dieser geringen Tiefe, die kurz zuvor noch sonnendurchflutet war. Als wir mit dem Boot unterwegs waren, war noch keine Wolke am Himmel, sollte das Wetter heute noch umschlagen und sich nun Wolken vor die Sonne schieben? Doch in einigem Abstand von mir sind nach wie vor die Sonnenstrahlen zu erkennen, die das Riffdach in eine prächtige Farbenwelt tauchen. Mir fällt nur eine weitere Möglichkeit ein, nämlich dass ich mich nun zufällig unter unserem Tauchboot befinde, das inzwischen damit begonnen haben dürfte, die ersten Taucher aufzusammeln, deren Atemluft nun langsam zur Neige geht.
Neugierig, nur um meine Annahme zu bestätigen, schaue ich nach oben -!! und erstarre in Ehrfurcht. Ich drehe mich langsam um, um ihn ja nicht zu vertreiben, denn über mir schwebt ein riesiger Manta und geniest das Bad in den Luftblasen aus meiner Pressluftflasche. Die Luftblasen umfliesen seinen Körper, bis sie endlich am Rand seinen gigantischen Körpers nach oben entweichen können. So ähnlich wie ich in diesem Moment dürfte sich ein Mensch fühlen, der nachts in den Sternenhimmel schaut und über sich einem Raumschiff gewahr wird. Würde ich meine Hand ausstrecken, könnte ich ihn fast berühren, doch ich kann diesen sehnlichen Wunsch unterdrücken. Es gibt Momente, deren Schönheit sollte man nicht leichtsinnig herausfordern nur um sie zu steigern, weil man sie damit unweigerlich zerstören würde. Ich möchte ihn nicht zur Flucht veranlassen, und somit bleibe ich einfach liegen, um dieses Erlebnis auszukosten. Viele Details kann ich erkennen, die wachsame Neugier in seinen Augen, die anfangs schon erwähnten Kopfflossen und die Kiemenspalten an seiner Unterseite. Mit langsamen, anmutigen Schlägen seiner gewaltigen Flossenflügel dreht er nun ab, begibt sich wieder hinaus ins offene Meer und scheint sich jäh die Riffkante hinab zu stürzen, denn aus dem Augenwinkel sehe ich nun einige Taucher näherkommen, die inzwischen auf uns aufmerksam geworden sind, und dieses riesige Tier ebenfalls gern näher betrachtet hätten. Doch so sind diese wilden Geschöpfe der Natur. Sie bestimmen das Geschehen, und mir war es wohl nur vergönnt, weil ich mich ruhig verhielt und den Manta nicht bemerkt hatte, als er sich an mich anpirschte. Er hatte die Kontrolle über das Geschehen, und ich bin dankbar, dass es mir zuteil wurde.
Später an Bord erfuhr ich dann von einem Tauchguide, der zu der sich nähernden Gruppe gehört hatte, dass es einer der größten Mantas war, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Seine Spannweite betrug angeblich zwischen sechseinhalb und sieben Metern. Ich kann dies nicht bestätigen, glaube es aber nur zu gern, denn aus dieser kurzen Entfernung war es mir unmöglich, seine Dimensionen abzuschätzen. Ich bin mir lediglich bewusst, wie riesig er im Vergleich zu mir war.
Auf der Heimfahrt an diesem Abend beteiligte ich mich nicht wie sonst üblich an den Gesprächen über den zurückliegenden Tauchgang. Ich saß allein am Bug des Bootes, betrachtete die untergehende Sonne und ihr Farbenspiel auf den sanften Wellen, und dachte über dieses Erlebnis nach, in der Hoffnung irgendwann wieder etwas Vergleichbares erleben zu dürfen.