Tagebuch

Text

von  MagunSimurgh

Dieser Text ist Teil der Serie  Aus der Hand verlesen

Meine Erinnerungen 

sind aus Tinte, 

die niemals trocknet. 


Etwas flüstert mir:

Rühr sie nicht an! 

Verwischst dir sonst 

den ganzen Tag. 


Und schreit dann:

Schreib‘s ab, 

los, schnell! 

Halt es fest, 

ehe es dich loslässt. 


Blättere ich um, 

verläuft alles 

zu undeutbaren 

Klecksen.




Ursprüngliche Version:

Meine Erinnerungen
sind aus Tinte,

die niemals trocknet.


Rühr sie nicht an!

Verwischst mir sonst

den ganzen Tag.


Schreib‘s ab,

los, schnell!

Halt es fest,

ehe es dich loslässt.


Blättere ich um,

verläuft alles

zu undeutbaren

Klecksen.




Anmerkung von MagunSimurgh:

Danke an Monalisa für die sehr ertragreiche Diskussion.

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Kommentare zu diesem Text


 monalisa (01.03.22, 22:48)
Hallo Magun,
die Erinnerungen aus Tinte, die niemals trocknet, also praktisch immer frisch (?) ist, und gleich anschließend die, ich nenn es mal, Warnung, sie nicht anzurühren, um den Tag nicht zu verwischen, dazu der Befehl, alles abzuschreiben und so festzuhalten. Etwas wie eine Erklärung wird nachgeschoben, denn wenn die Tinte nicht trocknet, wird die Schrift zwangsläufig verlaufen, aber was macht so ein Tagebuch für einen Sinn, wenn nur die jeweils letzte Seite (aufgeschlagen) lesbar bleibt?
Es scheinen schon etwas harsche Töne, die LI da anschlägt, so als wäre es unter Druck, in Eile, aufgeregt, erregt …
Mal angenommen, ich als Leserin bin dieses Du, an das sich die Worte richten, dann bin ich vor allem einmal eins: verwirrt! Man erwartet von mir, etwas abzuschreiben, ohne es zu berühren, um es nicht zu verwischen, zu verändern zu verzerren? Obendrein muss ich mich beeilen, weil es mich sonst loslässt. Ich soll also etwas bewahren, wozu der Autor selbst nicht in der Lage ist? Warum, frage ich mich? Oder lassen sich die Erinnerungen gar nicht extern (in einem Tagebuch) bewahren, wird auch die Abschrift wieder verlaufen? Können die Erinnerungen nur durch den Vorgang des Schreibens selbst quasi internalisiert (sich angeeignet) werden? Aus all dem spricht, so meine ich jedenfalls, der Wunsch, um keinen Preis zu vergessen. Können die Erinnerung außerhalb eines Ich und Du nicht überleben?

Es ist nicht die Schrift, es sind nicht die Worte, sie können nur mangelhaft tradieren, es ist das, was wir in uns tragen, in uns aufnehmen, bewusst und vielleicht auch mit etwas Mühe, mit eigener Hand mitschreiben und uns so aneignen, das als Erinnerung in uns selbst weiterleben kann. Könnte das eine mögliche Botschaft des Textes sein? 

Ich hoffe, ich habe jetzt nichts verwischt oder unstatthaft berührt!? Ich bin mir nach wie vor sehr unsicher, was ich mit dem Text anfangen soll. Am besten, ich schreib ihn erst mal ab :) !

Liebe Grüße
mona

 MagunSimurgh meinte dazu am 02.03.22 um 20:39:
Liebe Mona,

vielen Dank für die ausführliche Beschreibung dessen, was du beim Lesen des Textes erlebst. Es hat mir auch jeden Fall gezeigt, dass der mittlere Teil noch nicht so gut funktioniert, aber eins nach dem anderen. Ich würde dir den Text gerne "erklären", weil ich mir davon erhoffe, dass ich die Mitte klarer machen kann.

Die Tinte, die niemals trocknet, ist im Grunde eine Tatsache: Erinnerungen sind nichts Starres, Festes, sie sind keine unumstößlichen Tatsachen. Sie sind nicht verlässlich, sie sind hoch selektiv, sie sind flüchtig und sie sind veränderlich. Immer, wenn man sich an etwas erinnert, verändert man auch die Erinnerungen. Dazu gibt es zahllose Beispiele aus Untersuchungen zu Zeugenbefragungen. (Ich erspar mal die wissenschaftlichen Details, reiche sie aber gern nach, falls es jemanden interessiert.)

Du hast total richtig erkannt, dass die letzte Strophe dann die Fortsetzung dieses Bildes sein sollte. Ich dachte dabei konkret an die Rohrschach-Tafeln. Die Erinnerungen werden nach dem Umblättern zu einem Tag, Monat, Jahr, verwaschen, sie verlaufen, Details gehen verloren – und in gewisser Weise werden Erinnerungen zu einer Projektionsfläche, man mag dann in Nostalgie an Dinge zurück denken, unter denen man tatsächlich aber gelitten hat, beispielsweise. 

Ich glaube, der Knackpunkt, an dem der Text falsch abbiegt, ist die Mitte. Denn in meiner Vorstellung gab es tatsächlich nie ein lyrisches Du. Ich sehe das lyrische Ich alleine vor seinem Tagebuch sitzen und die Aufforderungen sind ein Selbstgespräch, es sind Aufforderungen an sich selbst: Pass auf, dass du nicht zu viel veränderst, sei vorsichtig, solange die Erinnerungen noch frisch sind. Eine weitere mögliche Deutungsebene: zu schnell macht man sich die schönen Erinnerungen kaputt (durch Anzweifeln) oder zu schnell weckt man alte Dämonen, wenn man das nicht so Schöne an einem Tag zu sehr anrührt (so in etwa).

Gleichzeitig verspürt das lyrische Ich eine Dringlichkeit, festzuhalten, die Erinnerungen nicht einfach ziehen zu lassen, sondern zu protokollieren, ein exaktes Tagebuch zu führen und zwar schnell, eh das Erleben, die Erinnerungen wieder verwischen, weil man umblättern muss. Möglicherweise ist es ein Wunsch, einen schönen Moment nicht vorbei ziehen zu lassen, sondern ihn zu bewahren oder eine Idee zu nutzen. Ein bisschen dachte ich an das Gefühl, wenn man unbedingt etwas Schreiben will zu etwas, das man erlebt hat, aber das Schreiben nicht "passiert", sich die Inspiration nicht so recht einstellen mag.

Alles andere, was du schreibst, ist schon etwas, das für mich in dem Text mitschwingt – aber es ist kein Dialog, es ist ein Selbstgespräch. Wie kann ich denn klarer machen, dass es sich um ein Selbstgespräch handelt?
Was wäre denn, wenn es in Strophe zwei heißen würde: "verwischst dir sonst den ganzen Tag"? Wäre das klarer?

Hast du Ideen? Ich bin für jeden Vorschlag sehr dankbar. Ich mag den Text sehr wegen des Bildes, das den Rahmen liefert, das mag ich sehr, deswegen würde ich dann den Mittelteil auch gerne so überarbeiten, dass es etwas zugänglicher wird. 

Liebe Grüße 
Magun

 monalisa antwortete darauf am 02.03.22 um 21:30:
Hallo Magun,
nur weil ich mich zwischen Schrift und Klecksen verirrt habe, muss das nicht heißen, dass der Text für andere nicht so, wie von dir angelegt hast, funktionieren kann :) .
 
Ich glaube, mich hat vor allem auch, das "abschreiben" irritiert, weil ich am Beginn schon die "Einnerungs-Tintenschrift", die nicht trocknet, gesehen habe, was ja auch durch das "verwischst mir/dir den Tag" verfestigt wird.
Nach deiner Erklärung meine ich aber, die Erinnerungen aus nicht trocknender Tinte könnten sich vielleicht noch in einer Art "Tintenglas-Zwischenspeicher" (Kurzzeitgedächtnis) befinden? Diese Vorstellung würde dann ein "aufschreiben" unterstützen, meine ich. Dann müsste aber aus dem "anrühren" eher ein "um-" oder "durchrühren" passen.
Oder etwas mit:
"verschütten"
Keine Angst, ich möchte dein schönes Gedicht nicht komplett umgestalten. Der Gestalter bist nur du. Ich sag dir einfach, was mir so durch den Kopf geht.

Mir fällt gerade ein, etwas wie
"schreibs ins Reine"
könnte da vielleicht ein Fingerzeig in die von dir gewünschte Richtung sein. Bei abschreiben denk ich irgendwie immer, dass eine/r vom/von der andern abeschreibt.

Kann sein, das ist dir jetzt zu unpoetisch:
"rühr sie nicht an,
sage ich mir,
verwischst dir ..."

Naja, du siehst ein ganzes Lexikon an Möglichkeiten, schlag einfach noch mal nach in deiner internen Ausgabe. Du wirst bestimmt fündig. Meine ungaren Ideen möchten dir bloß den Steigbügel zu deinen Ideen halten.

Liebe Grüße
mona

 MagunSimurgh schrieb daraufhin am 06.03.22 um 08:25:
Liebe Mona,

danke für die ganzen Ideen. Das mit den Auslassungen von "ich" ist schon ein Kommentar, den ich immer mal wieder bekomme und nicht nur bei dir kommt das fehlende "ich" öfter nicht an, vielleicht sollte ich daraus mal was lernen (;

Wie fändest du es denn so:

Meine Erinnerungen 
sind aus Tinte, 
die niemals trocknet. 
Etwas flüstert mir:
Rühr sie nicht an! 
Verwischst dir sonst 
den ganzen Tag. 
Und schreit dann:
Schreib‘s ab, 
los, schnell! 
Halt es fest, 
ehe es dich loslässt. 
Blättere ich um, 
verläuft alles 
zu undeutbaren 
Klecksen.

 monalisa äußerte darauf am 06.03.22 um 08:55:
Jaaa, durch das "etwas flüstert mir" ist alles glasklar und eindeutig. Wie einfach das eigentlich ist, hat man erst einmal die richtige Idee! Diese "etwas" dazwischen zu stellen löst auch die Unsicherheit um "mir" und "dir".

Also von meiner Seite gar keine Einwände mehr :) !

Liebe Grüße
mona

 MagunSimurgh ergänzte dazu am 06.03.22 um 09:12:
Sehr schön, freut mich sehr, nach tagelangem Nachdenken so eine gute Lösung gefunden zu haben :) Vielen Dank!
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