Jahresbilanz

Brief zum Thema Hoffnung/Hoffnungslosigkeit

von  ZornDerFinsternis

Lieber Unbekannter (oder doch mir bekannter...wer auch immer),

das Jahr neigt sich dem Ende zu und wieder werde ich auf all die bedeutungslosen Dinge
zurückblicken müssen, ohne sagen zu können "gelebt" zu haben, oder "glücklich" gewesen zu sein.
Diese Momente sind Mangelware. Ich kann mich an nichts derartiges zurückentsinnen.
Vermissen tue ich sie manchmal, aber in den vergangenen 6 Jahren, ist es mir einfach egal geworden.
Ich blicke zurück auf so viele leblose Gesichter mit stummen, leeren Augen. An einigen Gräbern habe
ich gestanden. Mit Blumen in der Hand und Tränen in den Augen, was nichts besonderes ist.
Die Freude habe ich verloren, zusammen mit den Menschen, die mir am liebsten waren und mein Leben
ausgemacht haben. Die Traurigkeit und die Schmerzen aber, bleiben. Sind noch intensiver und unerträglicher
geworden. Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen, habe ich im Frühlahr neben deinem Grab gestanden. Gewartet,
dass der Schnee schmelzen und diese eisige Leere in mir, endlich verschwinden würde. Hatte noch den ganz
banalen, winzigen Schimmer von Hoffnung in mir bewahrt, dass ich dich ein letztes Mal sehen dürfte.
Aber, wer einmal an diesem stillen, kalten Ort liegt und schläft, der schläft für alle Ewigkeit. Und,
kommt nie zurück. Im Schatten der Bäume habe ich in lauen Sommernächten neben dir geschlafen. Geweint und
die Stunden und Tage gezählt. Als hätte das etwas gebracht, Zeit, Stunden, Tage - das alles ist so bedeutungslos
ohne dich. Und jeder Tag mehr, hier unten, ist eine Strafe. Eine große Last, die ich nicht mehr weiterschleppen
kann. Ich schaffe es ja kaum, mich selbst zu (er-)tragen. Die Augen, die mich morgens verheult aus dem Spiegel
anstarren. Mit diesem endlosen Hass und der Leblosigkeit eines Eisklotzes. Dieses Gesicht, das so wenig Anmut trägt,
dass es die ganzen Schläge in seinem Leben, alle verdient hat. Ich würde am liebsten einfach nur kotzen.
Wie kann man mich schon ertragen? Selbst, wenn man nur die "inneren Werte" betrachten würde, würde mir, und vorallem
aber euch, nichts anderes übrig bleiben, als zu kotzen - mich abgrundtief zu hassen. Wenn es doch so einfach wäre,
sich von all diesem wertlosen Schein und Sein loszureißen. Einfach wegzulaufen und nie mehr wiederzukommen.
Die Schnitte am Handgelenk sind längst verblasst. Über ihnen schimmern dunkelrote, neue Furchen.
Und erst das Gefühl, das man empfindet, wenn man kalten, rauen Stahl durch taubes, empfindungsloses Gewebe pflügen
lässt, ja, erst dann merke ich, dass ich tatsächlich noch bin. Dass auch ich Gefühle habe. Dass auch ich,
ein Mensch bin - wenn auch kein wertvoller. Oder ein jemand, der "Bedeutung" trägt. Ich vermisse dieses
Unbeschwerte. Warme. Herzliche. All das, was ich früher hatte, als ihr bei mir wart.
Diese Welt wird mir nicht fehlen. Und ich weiß genau, dass ich am 01. Januar, wieder genau hier sitzen werde.
In meiner Einsamkeit. In der Stille und vor mich hin vegetiere. Auch, wenn ich mir wünschte,
dass ich endlich mal einen dieser Briefe selbst nie wieder lesen würde, so weiß ich doch, dass ich wieder einmal
zu dumm, und zu feige sein werde, das Leben zu verlassen. Die Türe hinter mir zu schließen und vor mir in den
Schnee zu spucken.
Tja, ich werde keine Vorsätze für das neue Jahr mitnehmen. Nur den Schmerz und die beschissene Erinnerung.


XYZ

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Kommentare zu diesem Text

KoKa (41)
(30.12.09)
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 ZornDerFinsternis meinte dazu am 30.12.09:
Stimmt, da hast du Recht. Das ist tatsächlich ein Vorsatz...hmm...ok, dann habe ich nur den einen :) Danke, für dich auch und weiterhin viel Freude und Eingebungen beim Schreiben ;) Anni
reinART (57)
(30.12.09)
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 ZornDerFinsternis antwortete darauf am 30.12.09:
Ich würde lügen müssen, wenn ich sage, dass es ausschließlich LyrI betrifft. Aber in einem Punkt kann ich mit Sicherheit für Beruhigung sorgen, es sind einfach nur die Gedanken und Ängste aus meinem Kopf. Wenn ich das, was ich am liebsten täte, niederschreibe, kann ich den Schmerz minimieren. So lächerlich und dämlich es auch klingen mag. Drück dich ganz lieb und hab vielen, vielen Dank :) Anni
reinART (57) schrieb daraufhin am 30.12.09:
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 Mondgold (30.12.09)
ach liebe anni, mit bilanzen sollten sich ausschließlich steuerberater herumschlagen, die bekommen geld dafür... allen anderen rauben sie nur zeit, mit denen sie neue segel setzen könnten ... tja, dann KANN es ja nur noch besser werden (-; in diesem sinne - ahoi! M

 ZornDerFinsternis äußerte darauf am 30.12.09:
Es wird, es wird, Liebes ;) Das kann ich dir sogar versprechen! Drück dich ganz lieb und wünsche dir goldige Träume ^^

 Dieter Wal (31.12.09)
Tipp: Schreibe eine solche Bilanz ganz für dich allein. Mit allen Gedanken und Gefühlen, zu denen du fähig bist, so realistisch und aufrichtig wie möglich. Lese sie, sobald sie fertig ist, gründlich durch, damit du sie nicht vergisst. Drucke sie aus. Lösche die Text-Datei. Dann gehe nach draußen in den Winter mit einem Feuerzeug. Und an einem besonders schönen und stillen Ort verbrennst du sie und gehst zurück.

Bilanzen sollen uns verwandeln. Das können sie nur, wenn wir uns mit ihnen verwandeln. Daher ist ihre symbolische Verbrennung sinnvoll.

Ein gutes neues Jahr!
(Kommentar korrigiert am 31.12.2009)

 ZornDerFinsternis ergänzte dazu am 31.12.09:
Das ist eine schöne Idee, Dieter. Das werde ich mir mal für das neue Jahr vormerken ;) Ich wünsche dir auch ein schönes, gutes, glückliches und gesundes neues Jahr
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