Wir befinden uns im Mittelalter. Am Ufer des Rheins ankert ein schweres Handelsschiff, dessen dunkle Konturen sich geheimnisvoll gegen den vom Vollmond erhellten Nachthimmel abzeichnen. An Deck erkennt man zwei Gestalten. Es sind der Bootsbesitzer Adam und sein Freund Tobias, beide Ehrenmänner im besten Alter.
Nachdem Adam Tobias den Mannschaftsraum, den Lagerraum und vor allem das riesige, imponierende Steuerrad gezeigt hat, führt er ihn durch einen langen, schmalen Gang tief im Innern, der nur von wenigen Fackeln beleuchtet wird, auf seine Privatkabine im hinteren Teil des Kahnes zu. Auf den Wänden zucken bizarre Schatten, das Bodenholz knirscht unter ihren Schritten. Überhaupt herrscht eine eigentümliche, bedrückende Atmosphäre, die sich als Zentnerlast auf Adams Gemüt und erst recht auf das seines Gastes legt. Die Unterhaltung verstummt, Adams Miene ist plötzlich verschlossen wie eine Maske. Allein seine Augen beginnen unruhig zu flackern. Tobias liest in Adams Gesicht. Ihm wird unheimlich und es beschleicht ihn Furcht. Eine Furcht, die er nicht zu begründen vermag.
Sie haben die Hälfte des Weges bereits hinter sich, da bleibt Adam plötzlich stehen. Sein Gesicht wird kalkweiß, die Hände zittern und seine Stimme bebt vor mühsam unterdrückter Panik.
„Irgendetwas ist hier, Adam, irgendetwas stimmt nicht!“, dringt Tobias in ihn.
Ihn beschleicht das ungute Gefühl, dass sie nicht mehr allein sind, sondern von allen Seiten beobachtet werden. Adam antwortet nicht. Er steht regungslos, seinen Blick mit weit aufgerissenen Augen auf die rechte Wand gerichtet. Tobias sieht auf eine Tür, verbarrikadiert mit zwei mächtigen Holzbalken.
„Adam, was bedeutet das?“, flüstert er tonlos.
Von dieser Tür strömt ihm Eiseskälte entgegen. Ihn fröstelt es.
„Lass uns weiter gehen!“, drängt er.
Er will fort, fliehen vor diesem unheimlichen Sog, der auch ihn unweigerlich dorthin zieht. Noch immer erhält er keine Erklärung. Stattdessen bewegt sich Adam, wie eine Marionette von unsichtbarer Hand gezwungen, willenlos auf die Türe zu. Entsetzt reißt Tobias seinen Freund am Ärmel, will ihn zurückhalten.
„Adam, nein. Mir graust es... Sie sind um uns, nicht wahr? Sie, die Dämonen aus der anderen Welt!?“
Diesmal bekommt er eine Antwort, jedoch in einer Weise, die so schrecklich ist, dass ihm der Atem stockt.
Adam boxt unter Stöhnen die beiden Holzbalken aus ihren Klammern, lässt sie willkürlich zu Boden krachen. Wie hypnotisiert stieren die beiden Männer auf die Türe, unfähig, doch noch die Flucht zu ergreifen und dadurch dem übermächtigen Einfluss des Unirdischen zu entgehen. Sie stieren, sind keines klaren Gedankens mehr fähig und harren ihres Schicksals.
Wie von Geisterhand öffnet sich langsam die schwere Türe. Kein Knarren, kein Quietschen, nichts. Die totale Lautlosigkeit, deren Grausamkeit die beiden Freunde lähmt, verdammt sie für diesen Augenblick zur absoluten Widerstandslosigkeit.
Mittlerweile steht der Eingang des Schreckens weit offen. Unsere beiden Freunde sehen nicht länger in schwärzliche, bedrohliche Düsternheit. Gräuliche Nebelschwaden wabern ihnen entgegen, versuchen sie einzuhüllen. Doch dabei bleibt es nicht allein. In diesem Grau formen sich schemenhafte Gestalten, Körper Verstorbener, die sie aus leeren Augenhöhlen durchbohrend fixieren. Aber sie halten sich im Hintergrund, starrten nicht etwa den Versuch eines Angriffes, blicken Adam und Tobias nur unaufhörlich an.
Plötzlich tritt eine der Schattengestalten vor. Sie bleibt nicht länger ein Schemen. Ein Mensch, eine alte Frau steht vor ihnen. Sie trägt edle Gesichtszüge und lächelt sanft. Die Männer vernehmen eine liebliche Frauenstimme, die sie lockt, die sie einlullen will:
„Komm zu mir, mein Sohn. Trete ein in diese meine Welt, damit wir für immer vereint sind! Dich erwartet die Unsterblichkeit! – Koomm... !!“ Die Stimme wird drängender, bohrt sich tiefer und tiefer in Adams Herz. Es ist seine Mutter, die ihn zu sich ruft, zu sich in die Welt der Unsichtbaren.
Der heuchlerische Singsang ihrer Stimme löst die Starre in Adams Seele. Er wird wach und spürt den Atem des Bösen. dieser kann ihm jedoch nichts anhaben, denn Adam ist ein Ehrenmann. Das Gute ist sein Schutzschild und auch das seines Freundes. Von diesem Moment an haben sie keine Angst mehr, egal, was ihnen noch begegnet.
Inzwischen wagt sich das Wesen, dass Adams Mutter ist, näher und näher. Es setzt all seine dämonische Kraft ein, um diese zwei Menschen doch noch in seine Gewalt zu zwingen. Mit lieblichen Worten war es ihnen nicht beigekommen. Nun zeigt es sein wahres Gesicht, eine abscheuliche Fratze der Verlogenheit und grausame Krallenhände, die in ihrer Schrecklichkeit von etwas künden, von dem bisher allein Adam Kenntnis hatte. Ein Geheimnis, dessen Kenntnis er zeitlebens in seinem Herzen verschlossen hielt.
„Du musst dich nicht fürchten. Sie kann uns nichts. Wir sind zu stark. Uns schützen die Geister des Guten, warte ab!“
Durch Adams Worte aufgerüttelt aus der Hypnose des Grauens, gelingt es Tobias, dem höllischen Einfluss ebenfalls endlich Widerstand entgegen zu stellen. Fragen zu stellen, ist es ihm noch unmöglich, aber die von Gott eingesetzte Macht des Vertrauens, das Vertrauen zu seinem Freund ist mächtiger als die dämonische Zauberkraft.
„Wir sind behütet!“, betont Adam.
Seine Mimik ist nicht länger die eines Gehetzten, sondern zeugt von aufkeimender Zuversicht. Ohne den Geist seiner Mutter aus den Augen zu lassen, wendet er sich zur linken Wand. Auch dort findet sich eine Türe. Jedoch ist sie weder mit Symbolen der Brutalität noch gewaltsam verschlossen. Auf ihren Flanken entdeckt Tobias ein weißes Kreuz, mehr nicht. Sind es Adams Worte, die ihn zur Ruhe bringen oder ist es sein eigener Glaube? Oder beides? Er weiß es da nicht zu sagen.
Adam öffnet diese Türe. Auch sie knarrt nicht, auch sie quietscht nicht. Aber die Lautlosigkeit ist eine andere. Es ist die Stille des Friedens. Fasziniert blicken die beiden Männer, Tobias verzaubert, Adam trotz allem noch wachsam dem Geiste seiner Mutter gegenüber, in den Raum hinter dieser Türe. Sie sehen in ein helles Licht und vernehmen leise Musik, von unsichtbaren Geigen gespielt. In diesem Licht schreitet ein Kind langsam auf die beiden Männer zu. Ein seliges Lächeln umspielt seinen Mund. Bald steht es neben ihnen.
„Mein Bruder!“, spricht es Adam an. „Und du, Tobias… Fürchtet euch nicht. Adam, in Deinem Herzen waren wir immer zusammen, nie getrennt! Folgt mir in meine himmlische Welt!“
Während es so spricht, richtet das Gute seinen Blick auf das Böse, das sich schreiend und fluchend unter diesen Worten krümmt und windet. Die Magie der Hölle ist machtlos. Die Fratze der Mutter verzerrt sich, ihre Gestalt verblasst, zerreißt in Fetzen und verschwindet in den schwarzen Abgrund des Verbrechens, in die ewige Verdammnis, um niemals mehr aufzutauchen. Ihre Kraft ist endgültig gebrochen. Wie von Zauberhand verschließt sich die Höllentüre hinter ihr, um nie mehr Bedrohliches freizugeben.
Adam und Tobias fallen auf die Knie und bekreuzigen sich. Sie fühlen sich aufgehoben in Gottes Hand.
„Werdet ihr mit mir gehen?“, fragt das Kind ein zweites Mal.
Forschend sieht es sie an und erkennt die Antwort.
„Noch nicht, nooch ist es zu früh!“, stammelt Adam. „Doch nun werde ich Tobias alles erzählen. Auch er wird im Herzen mit dir verbunden sein!“
Ein Leuchten geht über das Gesicht des Kindes.
„Braucht ihr Hilfe, dann ruft mich jederzeit! – Ich gehe jetzt zurück in meine Welt!“
Einen Moment lang streichelt es Adams Hand. Wieder erklingt jene zarte Musik. Das Kind tritt zurück in den Raum. Lautlos schliesst sich die Tür hinter ihm.
Der Gang, der ihnen so viel Schrecken bescherte, ist nicht länger düster und kalt. Es ist, als ob Tausende von Fackeln entzündet wurden. Die beiden Männer empfinden den neuen Frieden und gehen ruhigen Herzens ihres Weges. Dann, in Adams Kabine, stellt Tobias die Frage aller Fragen:
„Adam, bitte erzähle mir. Was ist damals geschehen?“
„Tobias, meine Eltern waren sehr arme Leute, die tagtäglich ums Überleben kämpften. Ich, ihr ältester Sohn, war ein Wunschkind, für das sie viele Opfer brachten. Doch die Jahre gingen ins Land und die Ehe meiner Eltern war beinahe schon zerrüttet. Trotzdem kam noch ein Geschwister, mein Bruder, zur Welt. Mittlerweile aber hasste meine Mutter meinen Vater, wünschte ihn zur Hölle. Genauso fing sie an, meinen Bruder zu hassen. Sie gab ihm kaum zu essen und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Eines Tages dann kam es zur Katastrophe: Nach einem schlimmen Streit mit meinem Vater stürzte sie sich voller Gram und unbezähmbarer Wut auf meinen wehrlosen Bruder, prügelte ihn blutig und erwürgte ihn dann zu Tode.“
Er verhält einen Augenblick, holt tief Luft, um dann fortzufahren:
„Wie nicht anders zu erwarten, ereilte sie die Gerechtigkeit und sie endete am Galgen. Während sie mit dem Tode rang, verfluchte mein Vater sie:
„Dein Geist soll niemals Ruhe finden, die Dämonen der Hölle dich solange quälen, bis eines Tages der Himmel in Gestalt deines eigenen Sohnes dich für immer vernichtet!“
„Und dein armer Bruder?“, fragt Tobias erschüttert.
„Du bist Zeuge, mein Freund!“, erwidert Adam. „Er war ein unschuldiges Kind. Die Heimat eines solchen Kindes ist der Himmel.“
Noch lange sitzen die beiden Männer zusammen. Das Band des gemeinsamen Geheimnisses macht ihre Freundschaft noch inniger.