Genie und Wahnsinn XIX: Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893)

Essay zum Thema Wahnsinn

von  JoBo72

Tschaikowskys Leben war ein durch und durch musikalisches, ein Leben mit vielen Tempo- und Rhythmuswechseln, ein Leben – mehr in Moll als in Dur.

Als kleines Kind von der Mutter ans Klavier gesetzt, begann sich die Musik in seinem Leben zu verselbstständigen und zu einem Teil von ihm zu werden. Einer Anekdote zufolge saß er eines Abends auf dem Bett und schrie wie im Fieber. Auf die Frage, was los sei, habe er geantwortet: „Oh! Diese Musik, diese Musik!“ Im Haus jedoch war es still. „Hier ist sie, hier!“ erklärte er und deutete auf seinen Kopf. „Ich kann sie nicht loswerden. Sie läßt mich einfach nicht in Ruhe.“

Die Musik sollte Tschaikowsky ein Leben lang nicht in Ruhe lassen. Die Musik war ihm Trost in seiner Trauer, die jene äußeren Tragödien auslösten, die das Leben Tschaikowskys durchzogen. Erwähnenswert insbesondere der Tod der vergötterten Mutter (1854) und die unglückliche Ehe mit Antonina Miljukowa (1877), einer psychisch schwerkranken Frau, die ihrem Mann nichts als Schwierigkeiten bereitete und Tschaikowsky in seinem psychisch labilen Zustand mehr als alles andere erschütterte. Nur vier Monate nach der Hochzeit trennt er sich von ihr. Seine angebliche Homosexualität, die er zeitlebens in Selbstverleugnung unterdrückt haben soll, mag dabei auch eine Rolle gespielt haben.

Trotz des musikalischen Trostes litt Tschaikowsky zeitlebens an innerer Spannung, Nervosität und schweren Depressionen, die häufig in Anflüchten von Wahn kulminierten und einmal (1877) auch in einen Suizidversuch, der direkt auf seine verzweifelte Ehe zurückzuführen ist. Immer wieder ist seine schöpferische Arbeit von Depressionen überlagert, immer wieder ist er monatelang arbeitsunfähig. Hinzu kam eine pathologische Menschenscheu. Jede Begegnung mit fremden Menschen löse in ihm seelisches Leid aus, schreibt er 1879. Die Qualen bestünden, so der damals 39jährige, in einer „bis zur Manie gesteigerten Schüchternheit“ und „in einer falschen Angst, sich so zu zeigen, wie man ist“.

So können wir uns heute glücklich schätzen, dass er die Kraft besaß, seine großen Werke zu komponieren, allen voran die Ballette Schwanensee, Dornröschen und Der Nußknacker, aber auch seine Symphonien und Klavierkonzerte. Dass er in den letzte Jahren seines Lebens auch als Dirigent einen Namen hatte, ist in diesem Zusammenhang nur eine Randnotiz.

Keine Randnotiz seines Lebens scheint sein tiefer Glaube gewesen zu sein. Dies überrascht ein wenig, denn Tschaikowsky war nicht religiös im engeren Sinne von Kirchgang, Frömmigkeit und Gemeindeleben. Sein Glaube besteht in einer zutiefst christlichen Hoffnung, er zeugt von der tiefen Sehnsucht nach innerer Ausgeglichenheit und Seelenfrieden, einer Sehnsucht, die unerfüllt bleiben sollte. In einem Brief an seine langjährige Freundin und Gönnerin Nadeshda von Meck schreibt er 1884: „Täglich und stündlich danke ich Gott, daß er mir den Glauben an ihn geschenkt hat. Was wäre ich, wenn ich nicht an ihn glaubte und mich seinem Willen nicht unterordnete, angesichts meines Kleinmutes und der Eigenschaft, beim kleinsten Stoß bis in die Tiefen der Seele erschüttert, auf das Leben verzichten zu wollen?“

Es sieht so aus, als habe ihn der Glaube in Krisenzeiten sehr lange vor dem finalen Schritt in den Suizid bewahren können. Ob aber die „Unterordnung des eigenen unter den göttlichen Willen“ bis zu seinem Lebensende hielt, darf bezweifelt werden: Offiziell lautet die Ursache seines Todes am 25. Oktober 1893 Cholera, doch steht für einige Biographen fest, dass Tschaikowsky sich selbst tötete, auch wenn dieser Akt nur darin bestand, in Lebensmüdigkeit gehüllt, Wasser zu trinken, das nicht abgekocht war. Das reichte damals.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(22.11.15)
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