Arthur Schopenhauer war zwar nie wegen psychischer, psychiotischer oder psychosomatischer Leiden in fachlicher Behandlung und er endete auch nicht als geistig Umnachteter, doch wer sein Werk betrachtet und so einen Einblick in das Seelenleben dieses großen deutschen Philosophen erhält, spürt etwas von der Dunkelheit, die sich in seiner Psyche ausgebreitet haben muss.
Schopenhauer im Gefüge der deutschen Philosophie zu verorten, damit tut man sich schwer. Er wird als Nachfolger der großen Idealisten Kant, Schelling, Fichte und Hegel sowie als Wegbereiter Nietzsches eingeführt. Mit den Idealisten teilt er die Auffassung, die Welt sei nur als subjektive Vorstellung erfahrbar, Nietzsche beeindruckt er mit der Radikalität, mit der er die aus seiner Sicht verlogen-optimistischen Weltdeutungen verwirft – ein erster Schritt zur „Umwertung aller Werte“ bei Nietzsche.
Schopenhauers Biographie ist gekennzeichnet von einer Reihe seelischer Verletzungen. Seiner Mutter Johanna, eine bekannte Schriftstellerin, zeigt er stolz seine Dissertation, doch sie reagiert mit Desinteresse. In Berlin konkurriert er mit Hegel, dem preußischen Staatsphilosophen, um die Gunst der Studenten, doch diese verkennen das Genie des neuen Denkens und gehen weiter in Hegels Vorlesungen. Schopenhauer verlässt den Universitätsbetrieb und kehrt verbittert nach Frankfurt zurück, wo er von nun an als „Privatgelehrter“ die Erbschaft seines Vater aufzehrt. Zeitgenossen, wie der Maler Wilhelm Busch, charakterisieren ihn als missmutig und eigenbrötlerisch, doch nie als seelisch krank oder depressiv.
Doch Sinn- und Hoffnungslosigkeit prägen das Weltbild Schopenhauers, ein tiefer Pessimismus kennzeichnet ihn. Der messerscharf-gnadenlose Zynismus, mit dem er die Welt – nach seiner Auffassung „die schlechteste aller möglichen“ Welten – betrachtet, hebt ihn ab von vielen anderen berühmten Denkern. In seiner Art analysiert er schonungslos das rastlose Streben des Menschen. Dessen unbändigen Willen entlarvt er als verheerend, stellt ihn gleichsam jedoch als unvermeidlich dar, denn nur durch den Willen gelangt überhaupt etwas in die Welt. Ein echtes Dilemma.
Der egoistische Wille führt den Menschen unterdessen in die Katastrophe, denn auch, wenn seine Wünsche in Erfüllung gehen, wird er neue entwickeln, bis zu einem Punkt, an dem er mal leer ausgeht und dann, so Schopenhauer, reagiert er je nach Typus mit Verzweiflung oder mit Gewalt, in jedem Fall aber so, dass es ihn und andere hinabzieht in die Abgründe menschlichen Daseins, in das Leiden, das nur – und hier stehen fernöstliche Erlösungsgedanken Pate – in der Bedürfnislosigkeit überwunden werden kann. Der durch Abtötung der Bedürfnisse in der Askese zur Ruhe gekommene Wille zum Leben mündet in einen Zustand des bewusstseinslosen Nichts, des Nirwanas oder im Klartext: des Todes. Denn weil Schopenhauer Leben mit Leiden identifiziert, ist für ihn der Tod die einzige Möglichkeit, diesem Leiden ein Ende zu setzen.
Sein Denken vollendet sich also in einer Philosophie des Selbstmords. Schopenhauer entwickelt sie, ohne ihr selbst zu folgen. Er ist ein Selbstmörder, der am Leben blieb, weil es ihm gelang, seine Melancholie und den tief in seiner Persönlichkeitsstruktur verankerten Pessimismus in ein philosophisch-literarisches Werk zu transformieren. Anders gesagt: Weil Schopenhauer so negativ philosophierte und schrieb, konnte er sein als negativ empfundenes Leben aushalten.
Seine seelische Gesundheit, von der eingangs die Rede war, ist also Ergebnis seines reichen Schaffens. Vielleicht ein ungewöhnlicher, doch sicherlich nicht der schlechteste therapeutische Ansatz. Und ganz neu ist er auch nicht: Viele Menschen, die in schweren Zeiten Tagebuch führen oder ihre schmerzlichen Erinnerungen an schwere Schicksalsschläge aufschreiben, halten es mit Schopenhauer – auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind: Schreiben als Strategie zur Lebensbewältigung.