3. Des Wortreporters schwerster Stand: In diesem Fall der Informant. [3]

Schundroman zum Thema Mord/Mörder

von  DIE7

22:30 Uhr. Die letzte U-Bahn mit Pendlern der Spätschicht fuhr vom Hafen her in die Central-Station ein und schwemmte blasse, müde Gestalten über den Bahnsteig 18. Mit der tristen Eleganz einer leprösen Übermade müffelten diese in gefühltem Gleichschritt den Rolltreppen entgegen, ohne die geringste Notiz voneinander noch von den vereinzelt lungernden zwielichtigen Figuren zu nehmen, deren merkwürdigste ihrerseits das trübselige menschliche Schwemmgut genauestens beobachtete. Als sich der Bahnsteig geleert, das monotone Tappen und Murren sich gelegt und manch vorher der Vereinsamung nahes Stück Abfall viele neue Freunde gefunden hatte, zerriss ein Schrei die suburbane Idylle: "MEINE RUHE WILL ICH!!!“ Durch den verhallenden Schrei stürmte ein verhärmt wirkender Mann den Treppen entgegen, in der einen Hand eine unangenehm grellorange Reisetasche schwingend, mit der anderen heftig fuchtelnd. Mit einigem Abstand folgte bedächtigen Schrittes, jedoch schnaufend, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich, die Unauffälligkeit in Person: übergewichtig, unrasiert und nachlässig gekleidet. Die Unauffälligkeit hielt inne, als sie ihres Beobachters gewahr wurde, zupfte hastig zusätzliche Falten in ihr fleckiges Hemd, wischte sich mit angeleckten Fingern durch ihr wirr liegendes Haupthaar und trottete schließlich auf den Beobachter zu. "Sind Sie dieser Unglaub?“
"Wer soll er denn sonst sein?“, schimpfte es von den Treppen her. "Kann mir nicht vorstellen, dass sich zufällig noch eine zweite derartige Witzfig…“ Die Stimme brach ab. "Mein Gehilfe Bärwolf“, stellte die Unauffälligkeit fest.
Thomas Unglaub nickte nur. Für einen Augenblick rang er mit dem Drang, sich einfach abzuwenden und nach Hause zu gehen, um am nächsten Morgen nach vernünftigeren Informanten Ausschau zu halten. Dann siegte der Zeitdruck. Unglaub blieben schließlich nur 20 Tage für Recherchen, da er mangels Vertrauen seitens seines Arbeitgebers – einer überregionalen Tageszeitung – seinen gesamten Resturlaub hatte investieren müssen, um sich mit jener mysteriösen Mordserie befassen zu können, die derzeit die Hafenstadt Jesterfield in Atem hielt. Bereits drei Leichen waren aufgefunden worden, alle auf offener Straße, alle mitten in der Innenstadt und zu allem Überfluss alle in der Nähe des berühmten Jesterfielder Weihnachtsmarktes. Dessen Ruf hatte deshalb bereits erheblichen Schaden genommen.
"Und Sie sind Dr. Eugen Kaufmann, wenn ich mich nicht irre?“
"So wahr Gott mich hasst! Kommen Sie ihm bloß nicht zu nahe!“, plärrte Bärwolf.
"Diese Morde geschehen nicht zufällig“, stellte Kaufmann fest. "Sie sind Teil eines größeren Ganzen, freilich, möchte man sagen, wie alle anderen Geschehnisse auch.“ Er gähnte. "Gehen wir einen Glühwein trinken. Hier soll es irgendwo einen Weihnachtsmarkt geben."
Unglaub beließ es bei einem Schulterzucken.

Fahlweiß schien der Mond am Jesterfielder Himmel, knallbunt strahlten die Lichter des Jesterfielder Weihnachtsmarktes, feuerrot glühten die Köpfe nicht nur der Jesterfielder Bürger. Thomas Unglaub hingegen kochte vor Wut. Dreieinhalb Stunden waren vergangen, seit er die vermeintlichen Informanten im Getümmel aus den Augen verloren hatte, Die Suche war ergebnislos verlaufen, sah man von dem betrunkenen Transvestiten ab, der Unglaub seit wiederum zwei Stunden an den Fersen klebte und pausenlos wahlweise über prasselnde Kaminfeuer oder über grässlich zugerichtete Leichen schwadronierte, die angeblich in ganz Jesterfield verteilt lägen und ihrer Entdecker harrten, ohne den geringsten Hinweis auf ihren Mörder zu liefern, der sowieso ein besonders gerissener, ja gar dämonischer Zeitgenosse sein müsse, zumal er Grausamkeiten begehe, wie es sie in Jesterfield noch nie zuvor gegeben habe, nicht in Jesterfield, wo die Kaminfeuer für so kuschlige Atmosphären sorgten, dass selbst Geschlechter plötzlich zweitrangig würden, sitze man erst davor, wobei sich in letzter Zeit immer mehr Paare in Liebe fänden, da die Stadt ja nicht mehr sicher sei. Die unerträgliche Litanei endete erst, als unerwartet Bärwolf auftauchte, gehetzter denn je, und mit einigen deftigen Flüchen den entsetzten Transvestiten zum Teufel wünschte, bevor er ein erbärmlich atemloses "Hafen!" gen Himmel krächzte, einem Passanten einen Becher Glühwein entriss, diesen auf einen Zug leerte, die Augen verdrehte und zu Boden ging. Thomas Unglaub, einerseits passionierter Journalist und andererseits der Ersten Hilfe nicht kundig, rannte los. 

03.30 Uhr. Unansehlich und lebensfeindlich wie eine Wüste aus Beton und verglastem Sand, in welcher bereits verwesende Blauwale kurz vor ihrem endgültigen Tod noch versucht hatten, Skulpturen der Überreste versunkener Zyklopenstädte wenigstens anzudeuten, lag der Jesterfielder Hafen im Stupor scheinbarer winternächtlicher Ruhe. Gestört wurde das Bild für einige Minuten durch einen fast zwei Meter großen glatzköpfigen Journalisten in grauen Nadelstreifen, der ziellos umher irrte und immer wieder "Dr. Kaufmann!" rief, bis dieser sich erbarmte, endlich zu erscheinen und damit die falsche Ruhe wiederherzustellen - zumindest für wiederum einige Minuten. So lange brauchte es nämlich, bis Eugen Kaufmann, der eigenen Angaben zufolge nur einen Spaziergang hatte machen wollen, auf den Punkt kam: "Der Mond ist hell genug, also werfen Sie mal einen Blick in den Müllcontainer hier. Sie werden lachen." Er öffnete das stinkende graue Ungetüm, vor dem er stand, und vollführte eine einladende Geste. Der Gestank wurde unerträglich. Unglaub wagte dennoch einen Blick, zuckte aber sofort zurück. "Lachen?", würgte er hervor. "Das sind Leichenteile! Ein neues Opfer! Und schon mindestens drei Tage tot. Was soll daran LUSTIG sein?"
Kaufmann verzog das Gesicht zu einem neckischen Grinsen. "Sie liegen freilich gleich mehrfach falsch. Erstens: Ein neues Opfer wäre noch keine zwei Tage tot. Zweitens: Dieses Opfer ist, dem Geruch zufolge, mindestens seit vier Tagen tot. Wäre es erst seit zwei Tagen tot, hätte ich den Container womöglich nicht einmal bemerkt. Drittens: Es handelt sich nicht um ein Opfer, sondern um drei. Haben Sie nicht bemerkt, dass drei linke Unterarmstummel obenauf liegen? Übrigens alle tätowiert. Wo ist eigentlich dieser Suffkopf? Erst schleicht er mir nach, dann schleicht er sich."
Unglaub ging nicht darauf ein. "Ich fragte, was daran lustig sein soll!"
"Daran? Nichts. Ich meinte nur, Sie freuen sich hoffentlich darüber, dass Sie endlich etwas erleben. Nicht, dass Sie mir noch vorwerfen, ich taugte nicht zum Informanten. Wenn Sie genug recherchiert haben, rufen Sie bitte die Polizei. Ich gehe derweil Bärwolf suchen."
Zum Informanten? Thomas Unglaub resignierte und griff zu seinem Mobiltelefon. Er hatte in jeder Hinsicht genug für diese Nacht. Noch vor dem Eintreffen der Ermittler wollte er den Fundort verlassen. Für unangenehme Fragen war auch in den nächsten Tagen noch Zeit.

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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(02.12.08)
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LudwigJanssen (54)
(03.12.08)
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 Dieter_Rotmund (26.11.22, 16:07)
Adjektiv-Katastrophe.
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