Am nächsten Tag mache ich mich auf die Jagd nach Donnie und seinem Bruder, Benny Bento. Die beiden sind nicht schwer zu finden. Ein wenig gezielte Recherche, ein paar Anrufe und mehrere harmlose, weil unauffällige Gespräche reichen aus: Ich weiß, wo die beiden wohnen. Wo sie arbeiten. In welchem Fitnessclub sie an welchen Tagen trainieren, in welchem Pub sie sich zu einem After-Work-Pint treffen. Welche Haarfarbe ihre letzten Schnecken hatten.
Ich bin gerade dabei, mir einen Plan zurecht zu legen, als ich bei meiner Pirsch rüde durch ein Klingeln unterbrochen werde.
Grundsätzlich hatte ich mir die Frage gestellt, ob ich mir zutraute, mir beide gleichzeitig vorzunehmen. Mir einen Wagen zu leihen, sie nacheinander einzusacken und mit der Karre raus ans Meer zu fahren. Zu einem abgelegen kleinen Häuschen, das häufig an holländische und deutsche Touristen vermietet wird – ich war in der Vergangenheit öfter dort gewesen. Zu einem ähnlichen Zweck.
Hatte überlegt, ob ich davon profitieren würde, wenn ich sie in unterschiedlichen Zimmern auf Stühle fesseln und versuchen würde, auf rabiat gestellte Fragen befriedigende Antworten zu erhalten.
Aber bevor ich zu einer Entscheidung komme, meldet sich das Telefon. Ein schneller Blick aufs Display verrät mir: Collie.
‚Hey, was liegt an?’
‚Corker? Wo bist du?’
‚Noch in Belfast. Was ist los?’
‚Scheiße, Corker, du musst sofort weg. Verschwinde von da!’
‚Fuck. Mach’s Maul auf, Collie – was ist passiert?’
‚Sie haben einen Hit auf dich angesetzt. Jemand bezahlt enorm viel Asche, damit es dich erwischt.’
Für einen Moment sage ich nichts. Lasse seine Worte langsam in mich einsinken, in meinen Blutkreislauf eindringen wie ein Medikament. Wie ein Gift.
Ich versuche, Zeit zu gewinnen. Zum Denken, zum Realisieren. ‚Wovon redest du? Wer? Und warum?’
Ein, zwei Mal höre ich ihn am anderen Ende tief durchatmen, sich sammeln.
Dann: ‚Ich nehme an, die gute Nachricht ist: Du bist auf der richtigen Spur. Die schlechte: Du musst höllisch aufpassen, wenn du sie noch bis zum Ende verfolgen willst.’
‚Woher weißt du davon?’
‚Ein alter Kollege, der aus Dun Laoghaire raus mit den walisischen Runnern zusammenarbeitet, hat mir was gesteckt. Das Wichtigste habe ich dir noch nicht gesagt.’
‚Na los, überrasch mich.’
‚Der Kontrakt ist an Molly gegangen.’
Jetzt hat er mich erwischt. Noch so ein Moment im Vakuum, wo sich das Hirn frei dreht. Sich irgendwo festhalten will, eine Referenz beziehen – es gibt keine. Keine Fixpunkte. Freier Fall.
‚Molly?’ Meine Stimme klingt kratzig, erkältet.
‚Ich habe keine Ahnung, wieso. Kann sie nicht erreichen. Ich bezweifle ohnehin, dass es was nützen würde. Die ist ein Profi.’
Ich nicke stumm. Und was für ein beschissener Profi. Meine Gedanken wandern zurück zu diesem Tag im Wedding, oben im Rohbau. Wie locker sie die Typen fertig gemacht hat – wie wenig sie ihren Passmann benötigt hat. In Berlin kannte sie sich nicht aus – hier ist sie auf eigenem Grund und Boden. Das ist ihr Territorium. Und ich hatte mich ihr auf dem Silbertablett präsentiert.
‚Bist du noch da?’
‚Von wann ist der Kontrakt? Ich meine, seit wann ist sie auf mich angesetzt?’ will ich wissen.
‚Keine Ahnung – das konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Warum? Hast du Kontakt mit ihr gehabt?’
Wie man’s nimmt, denke ich. Ins Bett wäre ich mit ihr gegangen, wenn sie mich gelassen hätte. Körperkontakt.
Ich sage ihm irgendwas, wimmel ihn ab. Verspreche, ich rufe später noch mal an. Ja, gleich nachdem ich mich um einen Flug gekümmert habe. Lasse das Handy zuschnappen.
Benommen sitze ich auf dem Bett. Der ganze Raum dreht sich, wird geflutet. Ein Hochwasser aus Hilflosigkeit droht, mich davonzutragen, mit oder ohne Bett.
Als Kind bin ich zusammen mit meinem besten Kumpel Mike raus aufs Meer geschwommen. Von Kilbaha aus, in County Clare. Wir machten das regelmäßig – aber nie so weit wie diesmal. Mike drehte einfach nicht um. Ich weigerte mich, klein bei zu geben. Ihn zu bitten.
Er war größer, stärker. Zwei Jahre älter. Ich bin ihm mit zusammengebissenen Zähnen hinterher. Wir sind geschwommen und geschwommen, immer weiter.
Endlich hatte Mike genug, aber es war zu spät. Bevor wir umdrehen konnten, hat uns eine Strömung erwischt – ein undertow. Nicht mehr losgelassen.
Wir haben alles versucht, gekämpft. Sind beieinander geblieben, haben uns gegenseitig festgehalten. Mike hielt mich gepackt, zusammen wurden wir weiter rausgetrieben. Er konnte nicht richtig schwimmen, weil er eine Hand für mich brauchte.
Ich heulte salzige Tränen in ein salziges Meer, während ich verzweifelt darum kämpfte, nicht wie ein Hund zu ersaufen. Flennte leise und flach - um Kraft zu sparen. Und weil ich mich schämte. Ich hatte Mike noch nie heulen sehen, nicht mal als ihm der Hund von Mister Fowley den halben Oberschenkel zerfleischt hatte.
Kam mir wie eine Ewigkeit vor, wie wir paddelten, schwammen, ruderten.
Während ich gerade Wasser schluckte, sah mich Mike mit einem seltsamen Blick an. Ließ mich los.
Mit verzweifelten Zügen schwamm er davon, Richtung Ufer. Während ich Wasser trat und ihm nachsah.
Irgendwann überwand ich meine Bestürzung und bewegte mich ebenfalls. Nicht zum Ufer hin, nicht hinter Mike her - ich würde nie mit ihm mithalten können.
Entkräftet ließ ich mich von der Strömung mitnehmen und versuchte, mich gleichzeitig in seitlicher Richtung zu bewegen, um aus dem Sog heraus zu kommen. Wie es mir mein Dad mit den Stromschnellen im Shannon gezeigt hatte.
Ich hatte nicht die Kraft, direkt gegen die Macht des Wassers anzukämpfen. Letztendlich war mir egal, ob ich auf diese Weise an Land kommen würde. Alles, was ich wollte, war mich zu bewegen, zu kämpfen. Genau wie Mike. Nicht wie eine Welpe untergehen.
Kein einziges Mal sah ich mich um. Dorthin, wo Mike sich befinden musste. Konnte nicht sehen, ob er seinen Kampf gewann.
Eine halbe Stunde später nahmen mich zwei Männer in einem curragh auf – zogen mich über die niedrige Bordwand mitten zwischen Netze, Auftriebskörper, Fische und Tang. Illegale Treibnetzfischer.
Zu kleine Heringe wurden von ihnen zurück ins Meer geschmissen – ich durfte bleiben.
Nahmen mich mit an Land, lieferten mich völlig unterkühlt bei meinem Dad ab.
Mikes Körper haben sie nie gefunden. Meine Kusine Lizzy erzählte mir später, er wäre von einem der riesigen Basket-Sharks raus auf den Atlantik gezogen worden. Nach Amerika.
Ich glaubte ihr.
In meinem Zimmer in Central Belfast fühle ich mich genauso wie damals im Atlantik. Nur nicht so kalt. Der Sog zieht an mir, droht, mich mitzunehmen. Mit oder ohne Bett.
Ich bin zu gelähmt, um mich zu wehren, um wegzuschwimmen.
Diesmal kommen keine Fischer, um mich zu retten. Vor Molly.
Sweet Molly.
Frustriert packe ich ein Kissen und presse es mir vor das Gesicht. Keine Ahnung – um mich zu ersticken, ihr die Arbeit zu ersparen? Um mich zu verstecken?
Kann nicht denken. Kann nicht atmen. Fuckfuck.
Molly.
Sehe, wie sie im Rohbau auf mich zukommt, die Warfare in der Hand. Bekomme ich ebenfalls die Warfare? Was Subtileres? Eine Glock, wie Dale Drummond sie mir angeboten hat? Ein Messer? Guns are for show, knives for a pro. Aus welchem beschissenen Film ist das Zitat?
Wie komme ich aus Belfast raus?
Mir ist klar: Ich muss nicht versuchen, zu kämpfen. Mich zu wehren.
Gegen Molly habe ich keine Chance. Nicht, weil sie besser wäre. Nicht nur. Sondern weil ich es niemals durchziehen könnte. Ich will sie, gottverdammt! Sehen, anfassen, küssen. Ficken. Man kann keine Frau umlegen, mit der man ins Bett will. Ich nicht.
Wenn sie kommt, werde ich sie fassungslos ansehen. Mich umboxen lassen.
Bleibt mir nur die Flucht. Tun, was Collie will und hier abhauen. Mit eingekniffenem Schwanz.
Macht man nicht - ich nicht.
Verdammt, Corker, denk nach. Mein Hirn zieht da oben eine Niete nach der anderen – mit schwitzigen Fingern puhlt es ein Los nach dem anderen auf. In der Hoffnung, die kleine Papierrolle zu finden, die mir eine brillante Idee auf dem Silbertablett serviert.
Niete… Niete… Niete…