Herzklopfen

Roman zum Thema Angst

von  Mutter

„Fick dich, du schwule Ratte“, presst er mir zwischen den Zähnen entgegen. Sein Blick wird langsam wieder klarer.
„Kennen Sie einen Horst Wedel? Horst Mann Wedel?“
Er sieht mich für einen Moment mit blutunterlaufenen Augen an, bevor er verächtlich den Mund verzieht. „Was für ein beschissener Name ist das denn?“
Sein Gesicht ist angeschwollen, und die Blutergüsse, die sich bei einer geprellten oder gebrochenen Nase direkt unter den Augen bilden, geben ihm ein gespenstisches Aussehen.
Ich bin mir nicht sicher, wie viel wir aus ihm herausbekommen – vor allem, weil wir keine Möglichkeit haben, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu überprüfen. Kennt er Wedel wirklich nicht? Manu geht derweil durchs Zimmer, schaut sich um. Hebt Sachen auf, untersucht sie – keine Ahnung, was sie zu finden hofft.
„Sagt Ihnen der Name Luisa Karmann etwas? Martina Hauptmann?“ Nichts, keine Reaktion. Er sieht aus wie jemand, der gerade heftig Prügel bezogen hat und jetzt etwas hilflos in seinem Sessel sitzt, während ihn Unbekannte mit fremden Namen bombardieren. Ich fürchte, ich glaube ihm.
„Waren Sie in den letzten paar Monaten in Berlin?“
Er schüttelt ärgerlich den Kopf. „Das letzte Mal war ich ’75 in der Hauptstadt. Und ich kann nicht sagen, dass es mich dahin zurückziehen würde.“
Mit einem Seufzer richte ich mich auf, fahre mir mit den Fingern durch die Haare. Er beobachtet mich wachsam.
„Hey Luca, ich habe was.“ Ich drehe mich halb um – Manu hält einen Zettel in der Hand, bewegt ihn, als könne ich so lesen, was dort geschrieben steht.
„Was ist das?“, will ich ungeduldig wissen.
„Eine Buchungsanfrage für eine Pension in Berlin. Für eine Person – die erste Nacht liegt zwei Tage vor Tigers Verschwinden.
„Fuck!“, entfährt es mir. In dem Moment nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie sich Schellstädter nach vorne wirft. Hilflos versuche ich, herumzufahren, aber es ist zu spät. Er versetzt mir einen harten Stoß gegen die Schulter, ich verliere das Gleichgewicht und knalle in eine niedrige Vitrine. Mir wird schwarz vor Augen. Halb erwarte ich, dass ich gleich sein Gewicht auf mir spüre, aber er hat sich nicht auf mich geworfen. Stattdessen poltert er aus dem Wohnzimmer, prallt dabei kurz gegen den Türrahmen, so unsicher ist er noch auf den Beinen. Verschwindet in einem Nebenraum.
Ich drücke mir die Hand gegen die Schläfe, um die schwarzen Lichter, die mir die Sicht nehmen, zu vertreiben. Fühle Feuchtes, Klebriges an der handinnenfläche. Wahrscheinlich eine Platzwunde.
Benommen komme ich auf die Füße, stütze mich an der Vitrine ab. Manu macht einen halben Schritt auf mich zu, sieht dabei vollkommen hilflos und überfordert aus. Ich packe den Türrahmen links und rechts und schiebe mich hindurch in den Flur. Mit der Linken drücke ich die Tür auf, durch die Schellstädter verschwunden ist. Es ist das Schlafzimmer. Er steht auf der anderen Seite des Bettes, an einer kleinen Kommode oder einem Nachtschränkchen. Bückt sich, als würde er etwas suchen. Rechts von ihm thront ein riesiger Kleiderschrank, der aus drei Flügeltüren besteht, daneben steht ein zusammengeklapptes Reise- oder Gästebett. Das ganze Zimmer durchweht ein Geruch von Muff und  Mottenkugeln.
In diesem Augenblick richtet sich Schellstädter wieder auf und dreht sich zu mir um. Er hat eine riesige Machete in der einen und ein Bajonettmesser in der anderen Hand. Mit entschlossen vorgeschobenem Unterkiefer kommt er auf mich zu. „Ich schlitz euch auf, ihr Dreckschweine“, brüllt er. Spucke fliegt ihm von der Unterlippe.
„MANU!“, brülle ich und mache einen Schritt zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie ist direkt hinter mir, ich spüre eine Hand auf der Hüfte. „Raus! Los, sofort!“, belle ich und versuche sie, weiter zurück zu schieben, ohne sie in Schwierigkeiten zu bringen. Sie entfernt sich, ich höre ihre schnellen Schritte auf dem Weg zur Tür. Drehe mich halb, um mich besser bewegen zu können. Bin halb den Flur runter, als Schellstädter in der Schlafzimmertür auftaucht. Er brüllt immer noch, nimmt Tempo auf, als er mich sieht. Während ich durch die Tür schlüpfe, ziehe ich sie hinter mir zu, aber er reißt sie mir aus den Händen.
Auf der Treppe muss ich mein Tempo zügeln, um Manu nichts aus dem Weg zu stoßen – sie hastet so schnell sie kann vor mir die Stufen hinunter. Ich traue mich nicht, nach hinten zu sehen, kann nur hören: Schellstädter kommt uns hinterher. Und weit ist er nicht weg. Manu springt die letzten paar Stufen auf den Absatz, schleudert sich mit der Hand am Geländer herum, um schneller hinunter zu kommen. Ich tue es ihr nach, sehe in der Bewegung, dass Schellstädter dicht hinter uns ist. Er hebt den Arm und schlägt mit der Machete zu – die riesige Klinge frisst sich dort in das Holz, wo sich Bruchteile von Sekunden vorher noch meine Hand befunden hat. Begleitet wird die Attacke von einem neuerlichen Brüllen. Kurzentschlossen packe ich das Geländer und springe im Hocksprung eine Treppe tiefer – lande direkt vor Manu, die fast in mich reinläuft. Aber mit dieser Aktion bringe ich genügend Abstand zwischen uns und Schellstädter, dass ich nicht permanent um meine Gliedmaßen fürchten muss. Ich ergreife Manus Hand, um sie gleichzeitig hinter mir her zu ziehen und sie zu stabilisieren.
Nach und nach erarbeiten wir uns durch unser hohes Tempo einen kleinen Vorsprung, sodass, als wir aus der Tür in den Hinterhof fliegen, der alte Mann nicht direkt hinter uns ist. Aufgegeben hat er allerdings noch nicht – ich kann ihn immer noch wüten hören, und kurz darauf erreicht er ebenfalls den Hof.
In diesem Augenblick schieben wir uns durch die nächste Tür, rennen durch den Flur Richtung Straße undstemmen die letzte schwere Tür auf. Dann sind wir draußen. Mein erster Impuls ist es, Richtung Wagen zu rennen, aber Manus Hand stoppt mich: Sie packt mich am Handgelenk und zerrt mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich verstehe sofort, warum. Sie will nicht, dass Schellstädter das Auto sieht.
Wir sind bereits kurz vor der nächsten Ecke, als der ehemalige Fremdenlegionär endlich ebenfalls die Straße erreicht. Es ist kurz still, dann brüllt er erneut auf, als er uns entdeckt. Stoisch nimmt er die Verfolgung auf.
„Fuck, wann geht dem endlich die Puste aus?“, stoße ich während des Laufens hervor. Meine Beinmuskeln brennen bereits von der wilden Flucht die Treppe hinunter.
Manu lacht nur – offenbar wird aus dem Schrecken und der Angst von gerade eben plötzlich ausgelassene Heiterkeit.
„Langsam. Langweilt. Mich. Das. Hier“, puste ich zusammen mit meinen Atemzügen aus, während wir in einem gleichmäßigen Tempo um die nächste Ecke rennen. Fünfzig Meter weiter vorne öffnet sich ein Eingang zu einem kleinen Park – dort tauchen wir ins Dunkle ab und verschnaufen wenig später zwischen Sträuchern an einer Parkbank.
„Glaubst du, er hat aufgegeben?“
„Ich kann jedenfalls nichts mehr hören“, antworte ich, während ich leicht vornübergebeugt versuche, wieder zu Atem zu kommen. „Vielleicht hatte er unterwegs einen Herzinfarkt.“
Sie schüttelt den Kopf und grinst. „Zwischendrin sahst eher du aus, als würdest du gleich einen Herzkasper bekommen.“
„Hast du gesehen, was er mit dem verdammten Geländer gemacht hat? Der hätte mir glatt die Hand abgehackt“, rufe ich fassungslos. Statt einer Antwort legt sie mir den Arm um die Schulter und den Finger der anderen Hand auf den Mund. Ich muss den Reflex unterdrücken, ihren Finger zu küssen. Ganz dicht sitzen wir dort im Dunkeln, als wären wir zwei Nachbarskinder, die beim Verstecken-Spielen gemeinsam untergetaucht sein.
„Ich glaube, er ist weg“, flüstere ich. Ihr Gesicht ist meinem ganz nahe. Sie nickt. Betrachtet ganz intensiv irgendwas in meinem Gesicht – Augen, Nase, Mund, ich weiß es nicht.
„Lass uns zurück zum Auto.“ Ihre Stimme klingt heiser.
„Vielleicht nehmen wir einen Umweg, nur um sicher zu gehen.“ Ich löse mich von ihrer Nähe und mache einen Schritt auf den Kiesweg hinaus. Der Park liegt still und dunkel um uns herum, kein Laut ist von der Hamburger Nacht hier zu hören.
Ihre weiche Hand schiebt sich in meine, und gemeinsam gehen wir langsam tiefer in den Park hinein.

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