Minutenschlaf

Kurzgeschichte zum Thema Allzu Menschliches

von  Isaban

Der Wecker schellte, wie immer, um 5:15 Uhr zum ersten Mal und, ebenfalls wie immer, stellte Johanna den Weckruf aus und drehte sich für zwei Minuten noch einmal auf die andere Seite. In spätestens fünf Minuten würde die Klingelei erneut losgehen und dann würde sie sich wirklich und wahrhaftig aufraffen, aufstehen, zum Klo taumeln und der Alltag hatte sie wieder.
Sie musste noch einmal tief eingeschlafen sein, richtig tief, denn selbst in ihrem Traum dachte sie noch, dass es diesmal aber einer von den ganz, ganz wirren war, halb fasziniert, halb erstaunt, was ihr Unterbewusstsein von einer Minute auf die andere so alles drauf hatte.
Blaues Licht erfüllte das Schlafzimmer und aus einer verschwommenen Öffnung an der Decke glitten drei Wesen in changierend grauen Staubmänteln an ihr Bett, keines von ihnen größer als ein zehnjähriges, etwas rundliches Kind.
Jedes dieser grauen Kinder trug eine zum Mantel passende Grau-in-Grau-Kappe, schwammiggraue Handschuhe, die nicht wie üblich in fünf, sondern nur in zwei Fingerschächte aufgeteilt waren und eine Art farblich angepasste Maske im Gesicht, die nur die metallisch glänzenden Augen und die Mundöffnung freiließ, eine Mundöffnung, die an ein schwarzes Loch aus einem Science-Fiction-Film erinnerte, eine – allerdings winzige – rotierende Öffnung von unscheinbar unendlicher Tiefe.
Seltsam, dass sich alle drei gleich zu ihr beugten und Erwin völlig unbeachtet ließen. Wobei: Erwin hatte heute frei, der konnte ausschlafen – die Erklärung kam ihr, nachdem eines der grauen Kinder ihr ein dünnes, hartes Stäbchen in die Nase geschoben hatte, sehr logisch vor. Überhaupt schienen die kleinen Gestalten sehr auf sie und ihre Nase fixiert zu sein.
Fast hätte Johanna im Schlaf gekichert, als die drei ihre komischen Köpfchen zusammensteckten, die Staubhandschuhe abstreiften und mit dem eingerollten Irgendwas, das darunter zum Vorschein kam, über ihre Haut tentakelten. Sie steckten ihr längliche, metallisch schimmernde Instrumente in beide Nasenlöcher und dann hoben sie die Bettdecke an, nein, nicht nur die Bettdecke, auch noch das Nachthemd.
Himmel, sie hatte schon ewig keinen feuchten Traum mehr gehabt, schon seit, ja, seit Erwin ihr letztes Jahr gesagt hatte, dass er sie abstoßend fand, dass er ihren grässlich überreifen Körper nicht mehr begehrte und dass Frau Lüdinghoff-Bayersdorf aus der Buchhaltung sehr viel besser – einer der Kleinen legte seinen Tentakelfinger zwischen ihre Beine und lenkte sie von ihren Gedankengängen ab.
Es war weder wirklich unangenehm, noch in irgendeiner Form erregend, es war, als würden diese abstrakten Angelegenheiten mit jemand anderem geschehen, mit einer Person auf einer Filmleinwand zum Beispiel, einer etwa fünfundvierzigjährigen, präklimakterischen Frau, die ein paar Pfunde zuviel auf den Hüften, überreife Oberschenkel und eine Vorliebe für rosarote Flanellnachthemden hatte und die wie angenagelt und mit überraschend ausgebreiteten Beinen auf ihrer Seite des Ehebettes lag, während kleine graue Männer leise zwitschernd sämtliche Körperöffnungen erforschten und der ihr angetraute Gatte dessen ungeachtet auf der anderen Bettseite schnarchte.

Als sie aufwachte, waren ihre Wangen nass, als hätte sie geweint.
Viel Zeit konnte nicht vergangen sein, der Wecker hatte noch kein zweites Mal geschellt und ihr Mann lag noch genauso da, wie vorhin, nur dass sein Schnarchen aufgehört hatte. An ihren Minutenschlaftraum denkend, schob Johanna eine Hand in ihren Schoß, fühlte zwischen ihren Beinen nach Feuchtigkeit und schnupperte prüfend an ihren Fingern. Es roch wie immer, wie morgens, schlafwarm und süßlich herb, wie ein guter Grund, zu duschen und so, als sollte es ihr peinlich sein, sich selbst zu riechen. Wortlos erhob sie sich, ohne Erwin einen Blick zuzuwerfen, der weiterhin den Schlaf des Selbstgerechten schlief.
Heute war schon um 8:00 Uhr Frühbesprechung angesagt und sie wollte vorher noch ihre Unterlagen ordnen und bei der Durchsicht der Akten einen Kaffee an ihrem Schreibtisch trinken. Sie beeilte sich, ging unter die Dusche und ohne zu frühstücken aus dem Haus. Unbehaglich war ihr, irgendwie unbehaglich. Was träumte sie auch für einen verrückten Stuss zusammen!
Die große Firmenwanduhr zeigte 8:30 Uhr, als sie im Büro ankam. Verdammt, irgendwie hatte sie eine Stunde verloren. So ein Mist, sie hätte gleich aufstehen sollten, als der verfluchte Wecker schrillte. Eine Stunde! Angespannt kratzte sie an der kleinen, schorfigen Kruste an ihrem linken Nasenloch.

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Kommentare zu diesem Text

Manu (56)
(11.12.10)
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 AZU20 (11.12.10)
Ein aufregender Traum, der Spuren hinterlässt. Anregende Lektüre. LG in den Adventssonntag

 Jorge (11.12.10)
Eine verrückte Spannung liegt über Johanna.
Sie sollte Zeit für Frühstück einplanen.
Dann können diese Eventualitäten
auch nicht mit Verspäten
enden.
LG
DerAutor (42)
(20.12.10)
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 Isaban meinte dazu am 20.12.10:
Realitätsnähe kann doch nicht peinlich sein, oder?
Danke für die Rückmeldung, John und für das Lob.

Liebe Grüße,
Sabine
DerAutor (42) antwortete darauf am 20.12.10:
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Festil (59)
(07.05.16)
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 Isaban schrieb daraufhin am 07.05.16:
Schimmernd, aus einem bestimmten Blickwinkel unter Einwirkung des Lichteinfalls ein (eher dezentes) Farbspiel, beziehungsweise ein fließender (im geschilderten Falle durch das Grau eher metallisch wirkender) Farbwechsel zwischen zwei oder mehreren Farbtönen wie z.b. bei Seide, die ins Licht gehalten und dabei bewegt wird.

Herzlichen Dank für dein Lob!

Liebe Grüße

Sabine
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