Trau keinem über sechs

Kurzgeschichte zum Thema Ausbrechen

von  Isaban

Die wenigen nicht zerstörten Sammelbildchen hatte sie zu den anderen Heimlichkeiten in die alte Bonbondose gelegt. Ein paar schöne bunte Knöpfe, eine Holzgarnrolle, ein Kaugummi, noch verpackt und ganz unangeleckt, ein vertrockneter Lippenstift, eine blaue Briefmarke auf einer Ecke vom Briefumschlag - weil es ja sein konnte, dass sie Millionen wert war, ein paar Knicker, sogar ein Katzenauge aus Glas, zwei glänzende ausländische Münzen, ein echter Kaugummiautomatengoldring und die silbernen Barbie-Schuhe. Die hatte sie bei Claudia gegen einen ganzen Glitzerbogen eingetauscht, als sie noch dachte, sie würde zum Geburtstag die Puppe bekommen, die sie sich wünschte.

Sie legte die Blechdose behutsam in das Loch hinter der Fußleiste und schob das Ding so weit nach hinten, dass man es nur sehen konnte, wenn man ganz flach auf den braun lackierten Dielen des Dachbodens lag. Dann  befestigte sie die Holzlatte sorgfältig wieder, stand auf, trat zwei Schritte zurück und überprüfte mit kritischem Blick, ob man dort was bemerken konnte. Man konnte. Erwachsene wohl eher nicht, jemand von etwa sechs Jahren schon. Eine Prilblume war als Markierung auf den Boden geklebt und abgekratzter Glitter von ihren Vielliebchen war wie Feenstaub über das Stückchen der selten geputzten Leiste gestreut worden, hinter dem sich jetzt die Schatzkiste befand.

Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, wie ein fremdes Mädchen, das auch keine Lust hatte, Unterwäsche und weiße Socken aufzuhängen, sich hier oben umgucken würde, auf all die Zeichen stieß, irgendwann die versteckte Dose entdeckte und über das Mädel nachgrübelte, das vor ihr hier gelebt und ihr diesen Schatz hinterlassen hatte. Für sie war ganz klar, dass hier wieder eine Familie mit Kind wohnen würden, wenn sie nicht mehr da war. Schließlich müssten die beiden ja wohl wegziehen, schon wegen der Nachbarn. Ja, die Nachbarn. Das war auch früher der Grund gewesen, warum sie weiterzogen. Das und die Hochzeiten, die nie wirklich etwas änderten.

Vorsichtig fühlte sie über ihren rechten Arm, an dem man die Stelle immer noch tasten konnte. Dünn und weiß war er, jetzt, wo der Gips ab war. Morgen würde ihre Mutter Onkel Günni heiraten. Er war Pensionär. Das hieß, dass er immer zu Hause war. Immer. Sie rieb sich die Nase, als würde das in ihrem Kopf dadurch aufhören. Tat es nie. Das unten in der Wohnung auch nicht. Aber bald. Sie ging wieder runter, ein bisschen herzklopfig, aber viel ruhiger als sonst. Der kleine Zeiger auf der Fünf, große Zeiger  auf der Neun, sie musste sich beeilen, gleich  würde man unten das Auto hören und sie musste vorher fertig sein. 

Eilig zog sie sich um, zog das an, was sie eigentlich morgen hätte tragen sollen, zur Feier des Tages: Das weiße Kleid, die widerlichen Unterhosen mit den kratzigen Rüschenreihen hinten, die Kniestrümpfe, die weißen Lackschuhe, die so gemein drückten und ihren Pepitamantel. Es war schon dunkel draußen. Mit einem erleichterten Lächeln zog sie die Wohnungstür hinter sich zu und galoppierte beinahe zur Parkanlage. Ihre Großmutter war immer so lieb zu ihr gewesen. Kleine Mädchen dürfen nicht allein im Park bleiben, wenn es dunkel wird. Sonst kommt ein böser Mann, lockt sie mit Bonbons ins Gebüsch und dann macht er sie tot, hatte ihre Oma gesagt. Er macht sie tot. Und sie hatte damals sehen können,  wie viel ehrliche Sorge in den Augen der alten Dame stand.

Um sechs Uhr morgens wurde durch eine von Passanten alarmierten Streife im Bochumer Stadtgarten ein vollkommen unterkühltes, anscheinend verwirrtes, etwa sechsjähriges, in festliches Weiß gekleidetes  Mädchen aufgegriffen, das mitten auf der Schwanenwiese stand, die Arme mit geballten Fäusten wütend gen Himmel schüttelte und immer wieder schrie:
„Du hast gelogen! Du hast gelogen!“

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Reliwette (20.02.08)
Die Welt eines kleinen Mädchens, kurz und prägnant ins Thema gesetzt, kein Wort zuviel, keines zu wenig und dabei sehr aussagekräftig. Der böse Mann kam nicht!
Jedenfalls nicht d e r.
Ist erstaunlich, wie Du Dramaturgie in diesen kurzen Text gebracht hast! Kompliment!
Der Meermann

 Isaban meinte dazu am 20.02.08:
Ja, der kam nicht, auf den war auch kein Verlass.
Ich danke dir für deine Rückmeldung, Meermann.
Freut mich, dass dir meine Prosa gefällt.
Liebe Grüße,
Sabine

 AZU20 (20.02.08)
Du bist an ein wichtiges Thema einmal ganz anders herangegangen. es ist schon furchtbar, wenn sich ein kleines Mädchen lieber dem imaginären bösen Mann als dem real existierenden, in unserer Gesellschaft heute viel zu oft existierenden bösen Mann ausliefern will. Dass sie darüber wütend ist, dass er nicht kommt, ist schon erschütternd.
Leider gibt es auch immer wieder böse Frauen, die ihre Kinder töten, aber das macht die Sache nur noch schlimmer. LG

 Isaban antwortete darauf am 20.02.08:
Vielen Dank, lieber Armin, für deine Rückmeldung und deine Gedanken zum Text. Ob hier das Kind vor der Mutter flüchten will oder vor Günni , der erst frisch zur Familie gestoßen ist oder vor vielen immer wieder neuen Onkels, das überlasse ich der Interpretation des Lesers. Die Lösung, die sie für ihr Problem sah ist eigentlich das Ausschlaggebende - und wie sie damit umgeht.
Ich freue mich, dass dir mein Umgang mit dem Text gefällt.

Liebe Grüße,
Sabine

 Erebus (20.02.08)
Liebe Sabine,

viel Platz für Spekulation, der dem Leser zwischen der kindlichen Sicht auf die Dinge eingeräumt wird. Die gesamte Vorgeschichte will vom Leser selbst gestrickt werden. Aus den Andeutungen und dem Ausweichen vor der klaren Benennung der Ursachen entsteht die Verletzungen des Kindes.
Eine Geschichte vom (Ver)Bergen und Entlarven.

Das ist gut geschrieben, mehr als eine Kinderwelt, die auf Schritt und Tritt mit der unausgeloteten Bosheit/Unachtsamkeit derer über sechs konfrontiert wird. Es ist eine einsame Welt, mit den Resten des Verträumtseins in ihrer Durchmischung mit Erkenntnissen der unausweichlichen Konsequenzen.

So ist der Schluss für mich frei von bösen Männern, und frei von der märchenhaften Erlösung eines Sterntalers.
Hier findet für mich keine Bedrohung statt, sondern ganz einfach die Nichteinlösung der Befreiung. Darin sehe ich den eigentlichen Betrug, den ein Kind von sechs Jahren kaum aushalten kann, ohne die Kindheit zu verlieren.

Lieber Gruß
Uli

 Isaban schrieb daraufhin am 20.02.08:
Ja. Die einzige Lösung, die ihr einfiel fiel aus. Sogar hierbei nichts als Betrug.
Hab vielen Dank für deine einfühlsame, ausführliche Rückmeldung, Uli.
Dein Kommentar war mir eine Freude.
Liebe Grüße,
Sabine

 styraxx (20.02.08)
Sehr ausdruckstark geschrieben diese Kurzgeschichte, die aufzeigt wie nahe, oder eben doch nicht, die Kinderwelt der Erwachsenenwelt steht. Sehr beeindruckend!
Liebe Grüsse c.

 Isaban äußerte darauf am 20.02.08:
Dass der Text dich berühren konnte ist mir ein Lob.
Herzlichen Dank für deine Rückmeldung, Cornel.
Liebe Grüße,
Sabine

 tastifix (20.02.08)
Hallo Sabine!

Nach langer Zeit melde ich mich mal wieder.

Diese Kurzgeschichte macht sehr nachdenklich. Sie beschreibt die Konfrontation Erwachsenen- und Kinderwelt.

Ein Tipp:

Den ersten Abschnitt würde ich in mehrere Sätze kleiden, sonst wird das Lesen sehr mühsam.

Lieben Gruß
Gaby

 Isaban ergänzte dazu am 20.02.08:
Hallo Gaby,
schön, dass du dich meldest.
Was will ein Text mehr, als zum Nachdenken anregen?
Hab vielen Dank für deinen Tip. Ich habe nun den allerletzten erklärenden Teil der Aufzählung durch einen Punkt abgetrennt. Die Aufzählung selber mochte ich nicht durch weitere Punkte auseinander reißen, vielleicht liest es sich ja auch so schon weniger mühsam, zumal die Syntax nie durch die Satzlänge beeinträchtigt war.
Liebe Grüße,
Sabine
(Antwort korrigiert am 20.02.2008)
artemidor (58)
(20.02.08)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Isaban meinte dazu am 20.02.08:
Danke, Arti.
Bei diesem Thema behagt mir die leise Erzählweise auch mehr.
Wem würde ein erhobener Zeigefinger auch nutzen? Wem hat sowas je genutzt, außer denen, die ihn schwenken und sich dabei wahnsinnig rechtschaffen fühlen?
Ich grüß dich lieb.
Sabine

 SimpleSteffi (21.02.08)
Es erinnert mich an das Märchen von dem Mädchen mit den Schwefelhölzern... Wirklich gut geschrieben, ruhig und ja, nüchtern - und gerade dadurch gewinnt das Bild des Kindes an beklemmender Intensität.
Liebe Grüße dir!
Steffi

 Isaban meinte dazu am 21.02.08:
Andersens Schwefelholzmädchen hatte anscheinend bessere Karten und temporär mehr Lichtblicke. Zumindest war sein Fluchtweg zwar gewiss keine reine Freude, aber wenigstens keine Vollpleite, weil es sich auf jemanden verlassen hat, der ehrlich wirkte.
Ich danke dir, Steffi, für deine Rückmeldung. Da siehst du, was dabei rauskommt, wenn ich mal mies drauf bin.
Liebe Grüße,
Sabine

 Ganna (21.02.08)
Dein Text berührt mich sehr,

liebe Grüsse, Ganna

 Isaban meinte dazu am 21.02.08:
Danke für deine Rückmeldung, Ganna.

Liebe Grüße,
Sabine
myrddin (47)
(24.02.08)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Isaban meinte dazu am 24.02.08:
Danke, lieber Ralph, für deine Rückmeldung, dein intensives, reflektierendes Lesen und dass du uns an deinen Gedanken zum Text teilhaben lässt.
Ich freue mich, dass meine Geschichte derart berühren, derart zwischen die Zeilen ziehen, die Gedanken so beschäftigen kann.
Viele liebe Grüße,
Sabine
Baldachin (55)
(27.02.08)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Elvarryn (36)
(17.03.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Manu (56)
(20.10.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Manu (56) meinte dazu am 20.10.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Buchstabenkrieger (17.08.19)
Hallo Isaban,

angelockt durch deine Antwort an Dieter mit den Links zu deinen Prosatexten bin ich hier gelandet … und habe mich bei/mit deiner Kurzgeschichte wohlgefühlt.

eine blaue Briefmarke auf einer Ecke vom Briefumschlag - weil es ja sein konnte, dass sie Millionen wert war, (-) ein paar Knicker,
Der Einschub endet nicht, sprich der zweite Halbgeviertstrich fehlt.

Sie legte die Blechdose
Wieso hat deine Prota eigentlich die ganze Zeit keinen Namen, ihre Freundin aber?

Sie legte die Blechdose behutsam … Dann  befestigte sie die Holzlatte sorgfältig wieder, … Vorsichtig fühlte sie
Etwas zu viel Vorsicht.

dass hier wieder eine Familie mit Kind wohnen würden,
Eine Familie … „würde“, denke ich.

Das und die Hochzeiten, die nie wirklich etwas änderten.
Gefällt mir sehr gut.

Um sechs Uhr morgens wurde durch eine von Passanten alarmierten Streife im Bochumer Stadtgarten ein vollkommen unterkühltes, anscheinend verwirrtes, etwa sechsjähriges, in festliches Weiß gekleidetes  Mädchen aufgegriffen, das mitten auf der Schwanenwiese stand, die Arme mit geballten Fäusten wütend gen Himmel schüttelte und immer wieder schrie:
„Du hast gelogen! Du hast gelogen!“
Einen solchen Perspektivwechsel, bzw. einen Zeitungsartikel o.ä. am Ende zum Erklären, was schließlich passiert ist, mag ich persönlich überhaupt nicht.
Hättest du übrigens oben ihren Namen verwendet, hätte der Schluß Einiges gewonnen, da er ja nur von dem „Mädchen“ berichtet.

Vielleicht hättest du ein Teil ihres Schatzes weiter hinten mit einbauen können. So bleibt ihr Schatz eine tolle Idee ohne weitere Verbindung zum Rest der Geschichte.

Bis auf das Ende hat es mir gefallen. Dass sie auf den bösen Mann gewartet hat schon, aber halt nicht die berichtende Art.

LG, Buchstabenkrieger
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram