Nahtod

Erzählung zum Thema Qual(en)

von  Sanchina

Er nahm den schweren Kelch des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, und trank ihn aus. Dies dauerte eine Kindheit und eine Jugend lang bis zu dem Tag, an dem die Bitternis die Seele aus dem Körper presste, als ob sie darin keinen Platz mehr hätte.

Das Nadelöhr war eng und lang. Martin sah sein verlassenes Leben als ein Grab, auf das, bodendeckergleich, sein Lebenslauf in filigranen Formen gezeichnet war. Er erkannte, dass er dieses ganze Leben in diesem Grab verbracht hatte. Er war gar nicht aufgestanden, sondern liegen geblieben, wo er bereits gewesen war.

Diese Erkenntnis erfüllte ihn keineswegs mit Schrecken, denn solche Gefühle gab es für ihn nicht mehr. Statt dessen umgab ihn eine heitere Sphäre, in der er schwebte und dennoch Halt fand. Die körperlose Existenz war hell und klar.

Ein Ton erklang. Es war der Ruf des Lebens, der die entschlüpfte Seele zurück in ihren Körper zwang. Martin wehrte sich dagegen. Er wäre so gerne in der Schwerelosigkeit geblieben.

Martin erwachte aus tiefem Schlaf. Sein Leidensweg war nicht zu Ende, nur eine kurze Zeit der Ruhe war ihm vergönnt.

„Was kann das Ziel des Leidens sein?“ sinnierte er, „Erlösung?“

„Nein!“ gab er sich selbst die Antwort, „Erlösung eben nicht!“

Erlösung ist viel mehr als nur des Leides Ende. Erlösung ist, wenn ein neuer Kelch gereicht wird. Ein leerer Kelch. Erlösung  ist, wenn sich die Seele in der Leere erholen darf.

Allmählich begriff Martin, dass er weiter lebte. Seine Reise durch die Zeit war nicht zu Ende. Er hatte den Kelch des Leids nicht vollständig ausgetrunken. Anstatt es würdevoll zu tragen, war er in jenem Grab geblieben, auf dem sein Lebenslauf geschrieben stand.

„Das Ziel des Leides ist, ein sinnerfülltes Leben gehabt zu haben,“ dachteMartin. Doch wie kann Leid sinnerfüllend sein? Ist es nicht Verhöhnung aller Opfer, im Leid einen Sinn zu sehen? Müssen wir uns nicht viel mehr immer und immer wieder an all das Leid erinnern, das geschehen ist? Dürfen wir es je vergessen?

Das Leben antwortet auf solche Fragen stets und immer mit seinem kategorischen Nein. Doch in der anderen Form der Existenz ist keine Erinnerung mehr möglich. „Das ist Erlösung!“ dachte Martin freudig, „wenn das Leid ganz einfach weg ist!“

Er beschloss, jetzt endlich aufzustehen aus seinem Grab und das Leben anzunehmen, wie es kam. Würde es ihm neues Leid bescheren, könnte er sich jetzt auf die Erlösung freuen, dachte er.

Er genas und ging wieder hinaus ins Leben, das ihm prompt neues Leid bescherte. Er begann, mit Gott zu hadern, schlimmer, als Hiob seinerzeit. Die alten Schergen griffen ihn und warfen ihn in einen Kerker, wo sie ihn folterten und quälten.

Den Tod fürchtete Martin nicht mehr. Im Gegenteil: er sehnte ihn herbei, verhieß er doch Erlösung in jener anderen Form der Existenz.

In der finsteren Kerkerzelle, in Hunger, Einsamkeit und Not, gebar Martins Seele eine ganz neue Hoffnung: „Möge mein Lebenspanorama dereinst mehr sein, als nur ein Grab,“ betete er. Dann stand er von seinem schäbigen Lager auf. Er fühlte sich seltsam freudig erregt, als stünde seine Freilassung bevor. Er wusste freilich, dass dem nicht so war. Die Schergen ließen keinen mehr entkommen, den sie hatten.

Martin fand ein Stückchen Stein, das aus dem morschen Mauerwerk gebröckelt war. Ein Gefangener, der vor ihm in dieser Zelle geschmachtet hatte, hatte in die Wand geritzt: „Folterer, ihr werdet in der Hölle schmoren!“

Martin schrieb darunter: „Folterer: Hoffnung, Glaube und Erlösung habt ihr mir nicht nehmen können.“

Dann setzte er sich hin und lächelte. Endlich hatte er den Sinn seines Leidens begriffen.

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (19.07.13)
Man kann einen Text lesen, dann noch einen, einen nächsten, eine weiteren usf.
Manchmal liest man einen Text und er hält dich fest.
Wie dieser.
Liebe Grüße TT
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