Ich beginne zu sehen.
Zwischen verschwommenen, blutigen Zerrbildern von Gestern und heute.
Kopfloses Denken zieht seine Bahnen dunkelrot durch mein Fleisch.
Und noch immer denke ich an die Kindestage zurück.
Ja, im Heim, Mami. Da, wo deine Augen mich nie belächelt haben.
Wo alle Kinder eine zweite Chance bekommen. Ein besseres Leben.
Und ich habe mein Leben lang gerungen. Immer wieder die Fragen unterdrückt.
Mein Lächeln verschluckt. Die Tränen zurückgehalten. Egal, wie oft der Heimleiter
nachts nackt vor meinem Bett stand und mir diese "besonderen Gute-Nacht-Geschichten" erzählte.
Und Mami, nein... du bist kein schlechter Mensch, weil du mich hast gehen lassen.
Mit diesen vielen Narben und blauen Flecken. Mami, ich weiß, dass es unmöglich ist
mich zu lieben. Danke, Mami.
Mami, ich weiß nicht, ob du noch immer die schönen, lockigen, kupferroten Haare und dieses
kalte Lächeln hast. Weiß nicht, ob der Stern aus meinen leeren Gebeten heute Nacht über
deinem Psychiatriezimmer aufgehen und dir meine Schmerzen berichten wird.
Ich weiß nicht, ob diese vielen Schnitte und Löcher an meinem Arm nun Realität oder doch
bloß Fiktion sind. Einer, dieser jämmerlichen Ausfluchtsversuche.
Mama... du hast mich damals gehauen. Hast getrunken. Sehr viel, Mama.
Und ich weiß, du hast es getan, weil du sauer auf mich warst, weil Papa mit mir das gemacht
hat, was ja eigentlich nur ihr Erwachsenen tut. Weil er mich lieb hatte und dich ein bisschen
weniger.
Und Mami, weißt du... ich wollte eure Liebe nie.
Die Kinder in der schule haben mich immer behandelt, als hätte ich Läuse, Aids, die Pest
oder irgendsowas schlimmes.
Mami, ich bin immer bei dir geblieben. Hab für dich und Papa gebetet. Dass wir uns im Himmel
wiedersehen. Weil ich, ja ich... hier unten auf der Welt, so einsam und alleine war.
Gespielt hat nur Papa mit mir. Dann auch nicht mehr. Nur noch der Heimleiter.
Und mein Cousin, René. Kennst du ihn noch? Der große, dürre mit den blauen Hundeaugen.
Du hast immer gesagt, René sei so klug und lieb.
Sowas hast du immer gerne gesagt. Nur niemals über mich.
Und Mami, ich habe angefangen Heroin zu spritzen. Habe mir nichts dabei gedacht, mit meinen
dummen 14 Jahren. Der Tobi, mein Teddy von Oma, der hätte bestimmt auf mich aufgepasst. Da draußen
auf der Straße. Ein raues Leben dort, Mami. Alle haben Angst, dort. Wissen viel. Und doch
nichts. Ja Mami, das hat ihnen Angst gemacht.
Mir auch. Hättest du Tobi damals nicht in den Ofen geworfen, würde ich hier sicher nicht
sitzen und auf den nächsten Freier warten. Mit meinen 14 Jahren. Mami.
Meine Haare sind immer noch so schön gelockt und dunkellond. Nur mein Lächeln, Mami...
du kennst es nicht, oder?
Ich habe es vor einem Jahr das erste Mal gesehen. Als ich hier saß. Mit meiner Whiskyflasche
unter der Straßenlaterne. Mit nichts als Dreck und Schmerzen im Herzen.
Und ja, Mami... so vergilbte Zähne haben nur die Raucher. Die, die immer eine um die andere
rauchen. Weil ihnen so viel durch den Kopf wandert. Um sich schlägt und alles gewaltsam
aus einem herausreißt.
Mami. Ich weiß, nachher werde ich dich nicht mehr kennen. Mich schon lange nicht mehr.
Diese Männer, die ihre dicken Leiber auf mich pressen und mir die Schenkel auseinander reißen,
ihre dicken Geldbeutel zücken und mir einen Zehner dalassen... sie sind alles Fremde.
Namenlose Farben, die niemals eine Linie im Gesamtwerk hinterlassen werden.
Und Mami, das Messer und der Alkohol... sie sind die besten Eltern, die ich jemals hatte.
Eigentlich müsste ich jetzt gehen. Arbeit.
Aber die Farben und die Grenzen sind noch immer zwischen Hier und jenseits von Jetzt.
Mami, dieses schwerelose Treiben im Schmerz, es ist kaum zu ertragen.
Danach falle ich. Tiefer, als damals bei dir.
Mami, ich gehe an den Bahnhof. Gleis 11. Der Zug dort kommt alle Stunde einmal.
Nach Hause will ich nicht. Nur einmal ankommen.