Ihr letzter Brief (und der Abseitsläufer)

Brief zum Thema Abschied

von  Fuchsiberlin

Sie schrieb einen Brief, der auf dem Weg zum Adressaten verlorenging.
Im Zwischen Weg 0 wohnte keiner.

Diesen Brief fand eines Tages ein Abseitsläufer.
Im Stillstand las er die folgenden Worte:

„Mein Spiegel verweigert mir ein Lächeln. Dabei schaue ich doch auf meine Lebenswelt. Ich lächele nicht. Mein Kopf-TV sendet in seinem Programm die Reden einiger Alltagswächter. Meine Stimmbänder vibrieren nicht. Schweigen. Wortfetzen ohrfeigen mich. Die Wiederholung von Missverständnissen klatscht in mein totes Gesicht. Die leere Mimik trotzt der Heuchelei. Je mehr ihr auf mich einredet, je stärker isoliert sich alles. In den Augen erblicke ich eine 08/15.

Die Traumwelt erlag dem Angriff der bösen Realität. Wir reden, über jedem Satz thront das Wichtig. Entscheidungen erleben Prioritäten. Wichtig ist hier, dort, und überall. Ich entscheide mich  jetzt die Nähe in eine Ferne umzuwandeln. Die Blutgrenze ist überschritten, der Brief färbt sich rot. Wie viel an 08/15-Funktionieren kann mein Schmerz vertragen? Eines Tages setze ich mich ins Auto, warte darauf, wie der Schlauch den Tod in meinen Körper pumpt. Hart ist so, oder auch so. Das Leben kämpft mit dem Tod um die größere Härte. Oder kämpfe ich?

Mir fehlt ein Tarnanzug am Tag. In meinem Kerker fehlt die Ruhe. Kein Niemand und doch irgendwer. Doch ich bin allein. Was beinhaltet Schönheit, wo fängt die Hässlichkeit an? Du liebst das Innere, sagst Du, doch die Fenster sollen einen schönen Gardinenschmuck tragen. Erzähle mir bitte nichts mehr von Schönheit.

Übersehen wir vielleicht die entscheidende Schönheit? Worte können etwas erzählen, ein Brief einer Toten ist hässlich oder schön-grausam. Entscheide du, oder klage an oder richte, so wie ich es auch tue. Ungerecht und unfair, doch wer kennt das gerechte Leben , in dem die Fairness an oberster Stelle seinen Platz inne hat!?

Wir leben zwischen Liebe und Wut, und können am und im Schmerz sterben. Die erwünschte Individualität hängt irgendwo an einem verdammt dünn-seidenen Faden.

Prächtige Konsumpaläste locken mit dem zu erlebenden Gefühl der künstlichen Liebe, und die Werbung verspricht den Für-immer-glücklich-Weg, das TV zeigt dir Quotenwelten. Wie denkst Du, was treibt Dein Flimmerkasten-Jogging zu Bestleistungen? Schaue hin oder schaue weg, höre hin oder stelle dich taub, das TV fordert deine Entscheidung, so wie der Alltag.

Ungeschriebene Geschichten bleiben zwischen den Zeilen des Briefs stecken. Wer oder/und was schreibt Geschichte? Schreiberlinge suchen vielleicht manchmal den Beweis, das Indiz fürs Denken, Das Wissen wird zum Ankläger, Verteidiger, Richter, Zeugen, Sachverständigen und Zuschauer. Logik schaut durchs Fernglas, die emotionale Sichtweise schwankt zwischen Blindheit, Kontaktlinsensicht und Adlerblick.

Narrenfreiheit wird an der Grenze getötet, die freiheitliche Unbeschwertheit droht unterzugehen.
Der Tod definiert Freiheit anders.

Ein wortreiches Testament wird irgendwann verbrannt, und das Vergessen begräbt die Urne.
Worte werden durch die Denkfabrik gejagt. Irgendwann endet die Produktion.
Der letzte Moment wird gefesselt verpackt.

Gefühle verbinden oder trennen.“

Der Abseitsläufer lief mit diesem Brief in der Hand weiter.

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