Sabine singt

Text zum Thema Wunder

von larala

Sabine singt. Morgens beim Aufstehen, immer im Auto, manchmal bei der Arbeit und dienstags im Chor. Das mache ihr einfach Freude, sagt sie. Sabine hat auch schon für mich gesungen. Statt Krankengymnastik. Sie setzte sich auf mein Bett, streichelte meine gebrochenen Beine und sang dazu. Ich war damals eher erstaunt.
Einmal in der Woche, nach der Arbeit, besucht Sabine Frau Müller. Sie kennt Frau Müller nicht. Sie geht dort nur hin, um zu singen. Die Patientenzimmertür bleibt offen, denn im Flur stehen ein paar Stühle. Die sind alle besetzt, wenn Sabine singt. Georg sitzt dann da auch. Neulich ist er 83 geworden und Sabine hat ihm einen Ausflug versprochen. Erst wollte die Heimleitung das nicht erlauben, dann wäre es fast am angerosteten Rollator gescheitert. Noch nie war nämlich jemand so kühn zu versuchen, das Ding in ein Auto zu packen.
Sabines Freund besucht sie alle paar Wochen. Und flüstert, sie wäre sein Osten. Weil im Osten die Sonne aufginge (er hat auch noch einen Norden, einen Süden und einen Westen). In den Osten kommt der Freund jedenfalls, wenn er erschöpft ist. Und natürlich singt Sabine dann, und wie. Ein ganzes Wochenende lang. Danach ist Sabine müde. Aber das mache nichts. Denn es gäbe da einen Baum, zu dem sie führe, manchmal nachts. Sie würde die Schuhe ausziehen, sich gegen den Stamm lehnen und in den Himmel schauen. Es wäre ganz ruhig. Keine Vögel, kein Lüftchen, kein Blätterrauschen. Und nach ein paar Minuten sei schon alles wieder gut.
Ach Sabine, denk ich im Geheimen, ich wünschte, du würdest das nächste Mal ein bisschen länger dort bleiben. Denn ich bin sicher, wenn es so still ist, dann nur, weil die Welt Atem holt, um zu singen. Ganz für dich allein.