Heimzeit (4)

Geschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Ganna

In der stillgelegten Schinkel-Kirche spielten wir Hochzeit. Wir kletterten durch ein kaputtes Fenster hinein. Ich war sehr beeindruckt, heimlich in einer Kirche tun und lassen zu können, was ich wollte. Immerhin war auch eine stillgelegte Kirche noch ein respektabler Ort, beherrscht von einer zwar abwesenden, aber gewaltigen Macht, die uns gerade nicht zusehen konnte, hoffentlich.
Gemeinsam erkundeten wir die Innenräume und bestiegen den engen Turm, eine in die Wand eingelassene Treppe ohne Geländer hinauf. Als beim Abstieg eines der Mädchen nach dem in der Mitte hängendem Strick griff, schlug die Kirchenglocke an. Wir machten uns fluchtartig davon, aber wieder bemerkte niemand unseren Aufenthalt dort. Ob wir uns dabei nur so geschickt und leise verhielten, von vielen Schutzengeln begleitet wurden oder die Erzieher einfach froh waren, wenn wir mit uns beschäftigt waren, kann ich nicht sagen. Sie hatten auf jeden Fall Grund zur Freude, wenn wir sie nicht aus Langeweile zu unseren Opfern erkoren.

Einmal sammelten wir abends alle Frösche von der Wiese, die wir finden konnten, und setzten sie kurz vor unserer Nachtruhe unter das Bett im Erzieherzimmer. Wir hatten Mühe, unser Lachen unter Verschluss zu halten, als die Erzieherin zu kreischen begann. Heldenmütig wie wir waren, opferten wir uns dann natürlich, um die Frösche einzusammeln und wieder ins Freie zu bringen.

Als wir eine neue Erzieherin bekamen, beschlossen alle Kinder, mich Renate zu nennen. Jedes Mal, wenn diese nun Renate rief, brachen alle in stürmisches Gelächter aus. So tobten wir abends durch die Zimmer und begeisterten uns daran, dass die Erzieherin immer verzweifelter schimpfte. Schließlich formten wir in einigen stillen Minuten aus unseren Sachen eine Person liegend unter einer Bettdecke. Ich versteckte mich unterdessen. Als der Lärm der Kinder wieder begann, stürmte die arme Frau in das Zimmer, stellte sich vor die Mumie aus Stoffen und brüllte: Renate! raus!
Ich glaube, einige von uns machten sich das Hemd nass vor lauter Lachen.

Doch wir waren nicht immer laut. So manche Aktion verlief in aller Stille, zum Beispiel wenn wir des Nachts in unserem Zimmer in leeren Blechbüchsen auf Kerzenflammen Pudding kochten.

Ein anderes Mal demonstrierte eins von unseren Mädchen, dass man einen Stift mit einem gezielten Schlag mit nur einem Finger durchschlagen konnte. Das wollten wir alle probieren! Nach kurzer Zeit besaß niemand von uns mehr einen brauchbaren Bunt- oder Bleistift, sämtliche Stifte, die wir finden konnten, waren in die kleinsten Teile zerlegt. Was beginnt man mit so einem Haufen unbrauchbar gewordener Stifte? Man bringt ihn ins gekachelte Bad und entfacht dort ein Feuer. Ich erinnere mich, dass eines unserer Mädchen dabei in Ohnmacht fiel und wir Mühe hatten, sie aus dem stinkenden, verqualmten Raum in ihr Bett zu tragen. Plötzlich war ihr Körper bleischwer, wie ein nasser Sack. Obwohl wir alle mit an packten, gelang es uns unter größter Anstrengung. Das Mädchen kam darauf wieder zur Besinnung. Alles endete gut, nur wahrscheinlich stinkt es in diesem Raum heute noch nach den verbrannten Überresten.

Wir kamen auf die Ideen, ein Mädchen an einen Stuhl zu fesseln, ihr die Augen zu verbinden und dann mit den verschiedensten Sachen zu füttern. Sie musste dann erkennen, was sie im Mund hatte. Dabei kramten wir so ziemlich alles hervor, was sich dazu eignete, in einen Mund gesteckt zu werden…Ich fand das sehr lustig, hoffte aber gleichzeitig, dass nicht ich zur Versuchsperson auserkoren wurde.

Im Sommer stiegen die großen Mädchen auf das Dach des Hauses, um sich dort ungestört zu sonnen. Decken, Bücher und Getränke nahmen sie mit, legten so manche Hülle ab und freuten sich ihres Lebens.
Vom Dorf aus beobachtete dies ein Bäuerlein. Tat er es nun aus Sorge oder aus Unverständnis, er rannte jedenfalls sofort zu unserem Heimleiter, um diese Unart anzuzeigen. Wir Kinder, die dies mit an hörten, rannten schnell nach oben und warnten die Mädchen auf dem Dach. Schnell versteckten diese sich hinter die Schornsteine. Der Heimleiter, mit seinem dicken Bauch behäbig die Leiter hochsteigend, öffnete die Dachluke und sah nicht, was er nicht hätte sehen sollen. Zufrieden schloss er die Luke mit einem Schlüssel ab.
Jetzt saßen sie dort oben und wussten nicht, wie sie hinunter kommen konnten. Glücklicherweise befand sich in der unter dem Dach liegenden Etage auf der einen Seite eine Terrasse. Von dort warfen wir Strick nach oben, so dass die Mädchen zuerst die Sachen und dann sich selber abseilen konnten. Und alles war wieder gut.

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Vielleicht mag mancher es denken, aber wir waren keineswegs ein wilder ungeordneter Haufen. Wir lebten in einem streng hierarchischen System, auf geheimnisvolle Weise wie von selbst entstanden, das nach eigenen Gesetzen funktionierte. Unsere Gruppe wurde von dem Mädchen angeführt. Ihr unterstanden die drei oder vier „Chefs“ der Jungen, die Jungs, die am lautesten waren und sich am besten durchsetzen konnten. Die "Chefin" hatte ein Mädchen, das ihr zutrug, was für manchen besser geheim geblieben wäre und ihr die Machtstellung sicherte, die sie auch durch materielle Gaben auszubauen wusste.

Und es gab Regeln, die eine von uns empfundene Gerechtigkeit aufrechterhalten sollten. Allen Erwachsenen wurde mit Misstrauen begegnet. Mit allen Kindern solidarisierte man sich erst einmal. Natürlich durfte nicht gepetzt werden. Verrat der Gruppe galt als eines der schändlichsten Vergehen. Diebstahl bei einem anderen Kind um des eigenen Vorteils wegen stand dem nicht weit nach. Eigensüchtiges Verhalten wurde nicht gern gesehen. Man teilte und hielt zusammen.

Verging sich eines der Kinder eines Vergehens, waren die anderen nicht sehr zimperlich. Derjenige wurde verprügelt, mit ihm sprach man nicht, er oder sie wurde ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Die Prügeleien verliefen nicht mit äußerster Brutalität, waren doch aber ziemlich heftig, vor allem, wenn man bedenkt, dass fünf, zehn oder fünfzehn Kinder über ein Opfer herfielen und die Aktion mit einer einmaligen Attacke nicht abgeschlossen war, wenn der Ausschluss aus der Gemeinschaft erst einmal vollzogen war.
So gab es das Mädchen, was ziemlich zu leiden hatte, merkwürdigerweise jedoch schien ihr dies nicht viel auszumachen. Manche Kinder kommen mit einer Art innerem Panzer auf die Welt.

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Als wir 12 und 13 wurden, starteten wir andere, reifere Aktionen. Wir hatten einen heißen und trockenen Sommer, der schon früh einsetzte. Laut Gesetz stand uns ab einer bestimmten Temperatur – ich glaube, es waren 27° - Hitzefrei zu und, es gab diese hervorragende Einrichtung von Wandertagen. Unsere Lehrer wollten uns weder Hitzefrei noch einen Wandertag zugestehen, da sie der Meinung waren, wir hätten viel Lernstoff nachzuholen, womit sie sicherlich Recht hatten.
Kinder sind uneinsichtig und wir waren es besonders, wenn es darum ging, nicht in die Schule zu gehen. Nach langen Diskussionen mit den Lehrern, die für uns immer gleich ausgingen, beschlossen wir, uns unseren Wandertag selbst zu nehmen.

Früh standen wir auf wie immer, frühstückten und begaben uns mit unseren Schulmappen auf den Weg in die Schule. Nach einer kurzen Strecke, als wir uns sicher glaubten, warfen wir unsere Mappen ins Gebüsch und machten uns auf ins Schwimmbad nach Bad Freienwalde, eine ganze Gruppe von über 20 Kindern immer ordentlich am Straßenrand entlang laufend.
Nach einiger Zeit, wir waren schon ein gutes Stück gegangen, kam einer unserer Erzieher auf seinem Moped gefahren. Natürlich hatten sie uns überall gesucht, nachdem wir nicht in der Schule angekommen waren. Mit allen Künsten der Überredung und den übelsten Drohungen wollten sie uns zum Umkehren veranlassen. Sie hatten keine Chance. Wir gingen baden und kehrten erst danach wieder ins Heim zurück, zu Fuß.
Danach erwartete uns eine Strafe, die das Maß der Tat bei weitem überstieg, wir mussten zwei Wochen lang täglich mehrere Stunden nachsitzen und irgendwelche Aufgaben machen. Trotzdem, auf unsere Weise fühlten wir uns als Sieger.

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Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(02.11.13)
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 Ganna meinte dazu am 03.11.13:
Danke, freut mich!

...ich hatte Glück, es war ein Heim für Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiteten, wir wurden also gut behandelt...

...der Ausschluss aus der Gemeinschaft ist überall eine schreckliche Strafe...

LG Ganna

 Jorge (21.01.14)
Das Lob zum Erzählstil möchte ich bekräftigen.
Meine eigenen Heimzeiterfahrungen liegen genau 60 Jahre zurück und haben sich mir nicht so eingraviert. Ich war damals in einem Berliner Wochenheim. Für dieses Jahr gab es wohl familiäre Gründe.
LG Jorge
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