Näher, mein Gott, zu Dir

Groteske zum Thema Isolation

von  loslosch

Dira necessitas (Horaz, 65 v. Chr. bis 8 v. Chr.; Carmina). Die grausame Notwendigkeit.

Die Zahl antiker Sentenzen über das Gesetz der Not ist beinah Legion. Nur eine noch: Necessitas ultimum ac maximum telum est. Die Notwendigkeit ist die letzte und furchtbarste Waffe. Livius (hier: Ab urbe condita) war ein Zeitgenosse des Horaz.

Dieser Ausspruch liest sich wie ein frühes Omen auf den Absturz eines Flugzeugs in Südamerika. Eine Tragödie, geschehen im Jahr 1972 und in die Annalen eingegangen als Wunder der Anden. Die Fakten sind hinlänglich bekannt, dienten sogar als Filmvorlage. Eine Rugby-Mannschaft stürzt auf dem Flug von Montevideo nach Santiago de Chile in den Anden ab. 16 von 45 Insassen überleben, letztlich durch das Ablegen der Scheu, Fleisch von toten Opfern zu verzehren. Den Beschluss fassten sie, als sie nach acht Tagen Bergnot aus dem Radio erfuhren, die Suche nach den Vermissten werde eingestellt. Begünstigt wurde der Plan der Eingeschlossenen durch die niedrigen Temperaturen und die verhältnismäßig sichere Bleibe im intakten Flugzeugrumpf mit Feuerstätte. Einige Leichen blieben unangetastet mit Rücksicht auf überlebende Angehörige.

Nach der Befreiung aus 72-tägiger Isolation - ein Stoßtrupp von zwei Mann hatte die Zivilisation erreichen und Hilfe holen können - wurden die Überreste der Toten an Ort und Stelle bestattet. Das Kreuz trug die Inschrift "Näher, mein Gott, zu Dir" (Originaltitel: Nearer, my God, to Thee). Der im englischen Sprachraum bekannte Choral aus dem Jahr 1841 soll auch die Abschiedsmusik des Orchesters der Titanic 1912 gewesen sein, beim Sinken des Luxusliners.


Anmerkung von loslosch:

Nearer, My God, to Thee:  hier.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (26.11.13)
Das Problem mit jener grausamen Notwendigkeit ist, dass sie ausgelegt werden kann.

"Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse‚ 'ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.(...)Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht."

-Heinrich Himmler, aus: Posener Rede vom 4. Oktober 1943


Man glaubt, auch da die grausame Notwendigkeit herauszulesen, ja, es waren die SS-Männer, die sich dieser schwierigen und zugegebenermaßen grausamen Aufgabe verschrieben haben. Und in Himmlers Diktion war das auch notwendig.

Die Sache ist also nicht so einfach...

 loslosch meinte dazu am 26.11.13:
diese passage aus himmlers rede hat traurige berühmtheit erlangt. ich denke, dass er nicht nur ein perverser rassist war, sondern auch den durchhaltewillen der einfachen mannschaftsgrade befügeln wollte.

 hier.

mit der anthropophagie hat das thema keine berührung.
(Antwort korrigiert am 26.11.2013)

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 27.11.13:
Nur noch eine Anmerkung zur Posener Rede: Es ging Himmler auch tatsächlich darum, die Anwesenden zu Mitverschwörern zu machen - damit sie nicht hinterher sagen konnten: "Davon haben wir nichts gewusst!" (O.k., wir wissen heute, dass sie das nicht davon abgehalten hat, das zu sagen...) - und sie durch das Wissen mitverantwortlich zu machen.
Jack (33)
(26.11.13)
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 loslosch schrieb daraufhin am 26.11.13:
man kann den faden weiterspinnen. am schluss leben nur noch zwei: einer, der mit mühe braten anrichten kann, ein zweiter müsste gefüttert werden. ich erspare mir (und uns) das ausformulieren ...

 ViktorVanHynthersin (26.11.13)
Ich musste beim Lesen des Zitats " Die Notwendigkeit ist die letzte und furchtbarste Waffe." an den kalten Krieg und die Aufrüstung mit Atomwaffen denken... Wir waren (und sind es aktuell wieder - siehe u.a. Syrien) nur einen Knopfdruck von Gott entfernt.
Herzliche und nachdenkliche Grüße
Viktor

 loslosch äußerte darauf am 26.11.13:
auf die kubakrise im okt. 62 passt es. im falle syrien handelt es sich im kern um einen (stellvertreter-)krieg zwischen sunniten und schiiten. - makaber und ungewollt geschmacklos finde ich die idee mit der kreuzesaufschrift. immerhin war der unfall auf über 4.000 N.N., ziemlich nah am "himmel" ... lo
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