Weggefährten

Gedicht

von  miljan

Ich such in meinem Kopf nach den Gesichtern
und Stimmen aus der aufgebrauchten Zeit,
mitunter auch nach Namen wie nach Lichtern
beim Einbruch einer großen Dunkelheit.

Ich such in meinem Kopf wie in Archiven
nach den gefährdeten Retrospektiven
und finde überall Melancholie.
Ich suche mich und finde immer sie.

Ich denke noch an meine Weggefährten
und weiß, dass sie in meinem Kopf verblassen.
Sie haben mich und ich hab sie verlassen.
Wir rannten nicht, wir gingen und entbehrten.
Ich hoffe sehr, sie zählen mehrheitlich
auch trotz und wegen dem, dem ich einst glich,
zu den noch heute halbwegs Unversehrten.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (25.02.18)
Hallo Miljan,

diesen Text mag ich.
Wer kennt das nicht, dieses Kramen in Erinnerungen, dieses Suchen nach den Gesichtern, die damals wichtig waren und den Namen der Menschen, die dir irgendwann mal den Weg gekreuzt haben.

Eigentlich wollte ich aufmucken und das verlorene e bei der Suche (S1 u.2, V1) bemängeln, aber dann ging mir auf, dass diese kleine Elision ja genau das bebildert, diese Suche im Kopf, dieses noch nicht ganz fündig werden, dieses "Da war doch noch was!".

Das Vergangenheitssynonym "aufgebrauchte Zeit" gefällt mir ebenfalls, kommt dabei doch sehr gut zum Ausdruck, dass diese Zeit endgültig vorbei ist und ganz gewiss nicht wieder kommt, sie ist eben aufgebraucht.

Wirklich schön finde ich auch die Suche nach den Lichtern nach Einbruch einer großen Dunkelheit, bei der man zuvor nach dem Satzzusammenhang suchen muss, der natürlich vorhanden, nur nicht gleich sichtbar ist.
Einzig das doppelte "nach" gefällt mir hier nicht, wobei mir auf die Schnelle auch keine bessere Lösung einfiele.

In der zweiten Strophe beweist das lyrische Ich, wie strukturiert es bei der Suche vorgeht. Auf den Reim Archiven/Retroperspektiven muss man erstmal kommen, Hut ab! Allerdings zeit uns die zweite Strophe auch, was die Suche bestimmt, was sie ausgelöst hat. Werden in der ersten Strophe noch alternierende Reime genutzt, die zweite offenbart den Paarreim, das LI macht sich einen Reim auf eine Beziehung. Sehr spannend hierbei finde ich, dass in den Archiven überall Melancholie gefunden wird, das "sie" im letzten Vers sich jedoch genauso gut auf eine Frau/Beziehungspartnerin beziehen könnte, wie auf den melancholischen Gemütszustand des LyrIs, beide werden gleichgesetzt, es hat also den Anschein, dass eine Frau der Auslöser dieser anhaltenden Traurigkeit ist. Das lyrische Ich sucht sich selbst, versucht sich wiederzufinden und findet überall nur "sie". Dieser Umstand und die in S1 verankerten "aufgebrauchten Zeiten" lassen ahnen, dass diese Suche nach Licht im Dunkeln und nach sich selbst eine eher langwierige Angelegenheit sein wird.

Der gesuchten "Sie" wird in diesem Text kein Vorwurf gemacht, ebenso wenig allen anderen "Weggefährten" des LI, die Zeit wird ohne Anklage als verbraucht betrachtet.

Ich denke noch an meine Weggefährten
und weiß, dass sie in meinem Kopf verblassen.

Das LI kann und will noch nicht ganz loslassen, weiß aber, dass das Erlebte bald verblassen wird, die Verletzungen irgendwann heilen werden. Sowohl das Gute wie auch das Schlechte wird mit der Zeit immer blasser und weniger spürbar werden.

Es zeugt wohl von der Stärke des LI, dass hier keine Beziehungen aufgerechnet werden, sondern dass die angedeuteten Wegabschnitte als Streckenposten der Vergangenheit betrachtet werden, auch wenn es offensichtlich ist, dass zumindest der letzte Wegabschnitt noch spürbar schmerzt.

Sie haben mich und ich hab sie verlassen.
Wir rannten nicht, wir gingen und entbehrten.

Die letzten drei Verse zeigen in meinen Augen eine Art von Bedauern, vielleicht von Reue, auf jeden Fall von einem Restbestand an Zuneigung. Das LI hofft, dass es niemandem langanhaltendes Leid zugefügt hat, dass niemand versehrt wurde (meine Assoziation: Kriegsversehrte, die Soldaten, die nie wieder ganz und an einem Stück aus dem Kriege heimkehrten), Gedankengänge, die intendieren, dass das LI sich selbst als Versehrt betrachtet (ich hoffe sehr, sie zählen mehr als ich), es macht sich klein, versucht, sich nicht so wichtig zu nehmen, hofft, dass wenigstens die anderen ohne solche Blessuren aus den vergangenen Schlachten hervorgegangen sind.

Diese letzten Verse klingen für meinen Geschmack vielleicht ein wenig zu edel und zu wenig nach dem in uns allen wütenden Schweinehund, verbildern ganz sicher auch Larmoyanz (ich hoffe, ihr müsst nicht so leiden wie ich!), aber ich weiß auch, dass mancher Schmerz einfacher zu ertragen ist, wenn man zumindest versucht, fair, integer und großzügig zu bleiben, wenn man sich nach verlorener Schlacht wenigstens noch im Spiegel ins Gesicht schauen kann. Alles Schöne hat seinen Preis und dieser Preis schmeckt eben manchmal sehr nach Niederlage.

Ein Text, wie ein trauriges Lied. Wie gesagt: Ich mag ihn.

Liebe Grüße

Isaban

 Irma meinte dazu am 25.02.18:
Ich lese das "sie" in V.8 nicht als 3. Person Singular, sondern als 3. Person Plural ("sie" = die Weggefährten). Für mich handelt das Gedicht von einem Kriegsheimkehrer, der an die gemeinsame Zeit mit seinen Kameraden zurückdenkt. Mit der Zeit verschwinden die Namen und die Gesichter aus seinem Gedächtnis, trotzdem kann er nicht aufhören daran zu denken, was wohl aus ihnen geworden ist. Er hofft inständig, dass es ihnen nach der Heimkehr besser ergangen ist als ihm, dass sie alles besser verwunden haben als er, der er sich als versehrt (körperlich oder geistig) bezeichnet. Toller Text! LG Irma

Antwort geändert am 25.02.2018 um 15:04 Uhr

 miljan antwortete darauf am 26.02.18:
@Isaban

Wow. Vielen Dank, liebe Sabine, für deine so intensive Beschäftigung mit meinem Gedicht. Die Elision, aber das ahnst du vermutlich, habe ich so bewusst nicht eingesetzt; deine Interpretation kommt mir aber natürlich entgegen. fdöbsaah hat vorgeschlagen, das letzte "nach" durch ein "bei" zu ersetzen. Das finde ich gar nicht schlecht und werde ich überdenken. Vorstellbar fände ich auch "inmitten einer". Ich hatte mir die Wiederholung ein wenig damit schöngeredet, dass sie ja auch für den wiederholten Versuch sich zu erinnern stehen kann. Das Denken an etwas, was einem nicht mehr einfallen will, kann ja auch etwas sehr Zwanghaftes haben. Auch verdeutlicht das "nach" insgesamt die Vergangenheit, um die es ja geht. Aber vielleicht ist es trotzdem zu viel. Dass du dich so ausgiebigst mit dem achten Vers, der ja auch genau in der Mitte des Gedichts steht, beschäftigt hast, freut mich. Die anderen Kommentare zeigen ebenfalls, dass, wie erhofft, da mehrere Bedeutungsebenen auftauchen. Deine Kritik am zu Edlen am Schluss kann ich nachvollziehen. Allerdings glaube ich, durch das "und wegen mir", durch das das LyrIch sich und die Beziehungen zu seinen Weggefährten in seiner/ihrer Ambivalenz wahrnimmt, dem ausreichend entgegenzuwirken, wobei das vielleicht auch doch nur halb trifft, was du meinst. Ich denke, es geht dir eher um das "mehr als ich", wobei in diesem "mehr" natürlich auch steckt, dass das LyrIch sich selbst nicht als total zerstört ansieht; sonst würde es wohl "anders als ich" sagen. (Mal abgesehen davon, dass das vom Metrum her hier nicht ginge.) Auf deine weiteren Interpretationen gehe ich nicht ausführlich ein, aber ich habe mich über sie sehr gefreut und bin dir einfach insgesamt sehr dankbar für die Mühe, die du in deinen tollen Kommentar gesteckt hast. Und natürlich freue ich mich auch, dass dir das Gedicht gefällt.

@Irma

Vielen Dank auch an dich, Irma! Deine Interpretation kann ich nachvollziehen, obgleich sie mir nicht nahe lag, als ich das Gedicht schrieb. Aber das ist ja oft das Spannende: Dass Texte sich ein Stück weit selbstständig machen und es ist immer spannend zu sehen, auf welche Weise sie dies tun. Schön, dass es auch dir gefällt.

Liebe Grüße an euch beide,
miljan

 GastIltis (25.02.18)
Hallo miljan, schön, dass da auch ein Gedicht steht, Weggefährte, du! LG von Gil.

 miljan schrieb daraufhin am 26.02.18:
Ist ja schließlich ein Literaturforum und keine Musikplattform. ;)

 eiskimo (25.02.18)
Kompliment - ein packendes Gedicht! Tolles Thema, tolle sprachliche Umsetzung! Einzige kleine Kritik: Die letzten vier Zeilen sind etwas sperrig, da musste ich zwei, drei Mal lesen...
eiskimo

 miljan äußerte darauf am 26.02.18:
Danke für dein Kompliment! Ja, die letzten Zeilen sind dadurch, dass sie einen längeren Satz darstellen, etwas schwieriger zu lesen als die kürzeren zuvor. Schön, dass du das Gedicht insgesamt magst.

 EkkehartMittelberg (25.02.18)
Das Bild von Weggefährten wandelt sich und verblasst teilweise. Doch das von einigen bleibt unversehrt. Von ihnen erhofft man sich, dass sie es selbst auch geblieben sind.
LG
Ekki

 miljan ergänzte dazu am 26.02.18:
Danke, lieber Ekki, für deinen Kommentar. :)
matwildast (37)
(25.02.18)
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 miljan meinte dazu am 26.02.18:
Liebe matwildast,

ich freue mich über deinen Kommentar und deine Interpretation, die gut das trifft, worum es mir beim achten Vers ging. Man ist nicht die anderen, aber man ist auch nicht ohne sie (geworden) und manchmal kann man nicht mehr werden mit ihnen.

Liebe Grüße,
miljan
fdöobsah (54)
(25.02.18)
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 idioma meinte dazu am 26.02.18:
"Der Link in der Anmerkung sagt mir nichts. Unterstreicht das Gefiedel die Botschaft? Das habe ich nicht bemerken können."
Mit "dem Gefiedel" schreibst Du einen so kurzen wie vielsagenden Kommentar zu Deinem langen Kommentar.
idi

 miljan meinte dazu am 26.02.18:
Lieber fdöobsah,

ich bin sehr dankbar für die Mühe und Zeit, die du in die Auseinandersetzung mit meinem Gedicht gesteckt hast. Nach dem Kommentar Isabans ist dies der zweite Kommentar, zu dem mir als allererstes ein "wow" einfällt. Zur Elision: Isaban hat das ja auch angesprochen, die Elision dann allerdings entsprechend gedeutet. Zunächst einmal ist es aber so, dass ich, auch wenn mir ihre Deutung gelegen kommt, das so nicht intendiert habe, sondern schlicht eine Silbe einsparen wollte. Ich habe vor einiger Zeit beschlossen, bei solchen Sachen etwas weniger genau zu sein (auch bei soetwas wie "andern" statt "anderen"), um mehr inhaltlichen Spielraum zu haben, kann deine Kritik aber nachvollziehen. Die vielen "nachs" halte ich tatsächlich für begründbar, wenn man sie als fast zwanghaftes Kramen in der Erinnerung auffasst - wir kennen das alle, wenn uns etwas partout nicht einfallen will. Trotzdem finde ich deinen Vorschlag gut - mit dem Einwand, dass "bei" Einbruch der Dunkelheit es ja noch nicht richtig dunkel ist, die Lichter entsprechend noch weniger gebraucht werden. Gleichzeitig kündigt sich das umfassende Vergessen an, das als bedrohlich erlebt wird, weshalb nach Lichtern gesucht wird. Insofern würde es wieder gut passen. Eine andere Möglichkeit, die mir nach deinem Kommentar noch einfiel, wäre ein "inmitten". Gerade tendiere ich eher dazu, ich werde nochmal darüber nachdenken. Zum Suchen: Du hast recht, die Stelle, an der das LyrIch plötzlich sich sucht und nicht mehr die anderen, ist etwas verwirrend. Ich verstehe den Einwand. Gleichzeitig sucht man wohl immer zugleich auch sich, wenn man die anderen sucht. Ich glaube, das ist kein notwendiger Widerspruch, sondern lediglich eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Beschreibung der Suchbewegung. Deine Kritik am Denken und Verblassen ist mir nicht wirklich verständlich: Es ist ja kein Widerspruch, an jemanden zu denken und dabei festzustellen, dass einem dies immer schwerer fällt, derjenige verblasst. Oder missverstehe ich dich da? Zum "wir rannten nicht"-Vers: Mich überrascht, dass das für dich der am meisten verunglückte ist und deine Bademeisterassoziation. Tatsächlich war das der Vers, bei dem ich das Gefühl hatte, das, was ich ausdrücken wollte, am meisten verdichtet zu haben - also das Gegenteil dessen, einen Vers in die Länge zu ziehen. Ders Vers folgt ja dem Verlassen und soll sagen: Wir rannten nicht voneinander davon, wir gingen nur in verschiedene Richtungen und entbehrten einander. Das finde ich durchaus passend. Abschließend zum Gefiedel: Ach, das ist nur eine persönliche Vorliebe. Ich schreibe nie ohne Musik und oft höre ich, bis ich das Gedicht fertig geschrieben habe, die ganze Zeit nur ein einziges Lied, meist stundenlang, um in der entsprechenden Stimmung zu bleiben. Für mich besteht da insofern ein Zusammenhang, aber es ist kein inhaltlicher und sicher auch für alle anderen keiner. Nur gelegentlich mag ich es, das entsprechende Lied noch dazuzuschreiben; vielleicht auch als Erinnerung für mich.

Vielen Dank noch einmal für deinen ausführlichen, kritischen, lobenden Kommentar. Ich weiß ihn zu schätzen.

Liebe Grüße,
miljan
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