Aussicht im Rückblick

Sonett zum Thema Abendstimmung

von  Irma

Sie singt, als sie im Graben liegen,
sie schaukelt, ihre Arme wiegen
den stillen Knaben. Aus dem Schoß

fließt ein Rinnsal rot ins Moos.
Im Krankenhaus wird ihr verschwiegen:
Ein Kind kann sie nie wieder kriegen.

Ein Dämmern schnellt ins Himmelbett.
Die Straße streckt sich. - Nichts als Weidegras
zu beiden Seiten - kräftig, fett.
Ein Tritt im Bauch! Sie tritt aufs Gas,

denn öde Vorsicht macht sie müder
und zieht den Heimweg nochmal ein Stück.
Die Rücksicht reizt weit mehr; das Brüder-
chen quietscht beim Schulterblick beglückt.

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Kommentare zu diesem Text

Piroschka (55)
(21.11.18)
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 Irma meinte dazu am 22.11.18:
Ich finde es immer wieder höchst interessant und spannend, wie meine Gedichte von anderen gelesen und interpretiert werden, und deshalb bedanke ich mich bei dir, liebe Piri, dass du hier deine Gedanken dazu niederschrieben hast. Ich selber bin, ehrlich gesagt, nicht auf die Idee gekommen, dass man „Sie“ im Gedicht als zwei verschiedene Personen lesen könnte.

Gedacht war es, wie fdö unten schreibt, als Sonett travers (Sonett inversé oder wie immer man es auch nennen mag), wo die in den Terzetten geschilderte Situation mit Hilfe der Quartette quasi rückblickend erläutert wird. Wie oft wünscht man sich doch, die die Zeit zurückzustellen, um ein schlimmes Geschehen rückgängig machen zu können. Das Wissen, den Unfall verschuldet zu haben und Schuld am Tod des Sohnes und des Ungeborenen zu sein, wird die Mutter wohl ihr Leben lang belasten. Dazu die „Aussicht“, nie wieder Kinder bekommen zu können, deren Ursache eben „im Rückblick“ erklärt wird.

Über die Stelle in V.12 denke ich noch nach. Ein einfaches „noch“ erschien mir zu gerade, ich wollte durchaus erreichen, dass man hier leicht ins Straucheln kommt. (Ich schreibe unten bei fdö nochmal was dazu.)

Auf jeden Fall ganz lieben Dank für deinen Kommentar. LG Irma
fdöobsah (54)
(21.11.18)
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 Irma antwortete darauf am 22.11.18:
Hallo fdö, ich habe mich riesig über deine ausführliche Beschäftigung mit meinen Zeilen gefreut. Und du triffst mit dem, was du schreibst, natürlich voll ins Schwarze. Das Umkehrsonett erschien mir aus den von dir genannten Gründen perfekt für diesen Inhalt. Das Video von Coldplay kannte ich noch nicht, aber das passt tatsächlich wie Faust aufs Auge!

Dein erster Eindruck war richtig, es geht hier um eine Hochschwangere („Tritt im Bauch“) und das hinten sitzende (im Reim auf „Stück“) eben noch beglückt (ein kleines t zuviel) quietschende und dann verunglückende (silbenmäßig auseinandergerisse) kleine Brüder-chen. Himmelbett und Heimweg hatte ich nicht, wie in deinem Nachtrag angedeutet, fremdschläferisch angedacht, sondern mehr in Richtung „heim ins Himmelreich“.

Und wie schnell das Eindämmern („Ein Dämmern schnellt“) dazu führen kann, dass man dort hinkommt, sollte im zweiten Quartett die Folge von Vorsicht-Rücksicht-Schulterblick (die ja eigentlich der Unfallvermeidung dienen, hier aber paradoxer Weise geradewegs zum schlimmen Geschehen führen) zeigen.

Zum Stolpern in V.12: Ich habe die Straße ja bereits in V.8 gestreckt (eine Hebung in die Länge gezogen). Hier wollte ich dem Heimweg „nochmal ein Stück“, sprich eine kleine Senkung, zufügen: x X x Xx Xx x X. Ein kleines Stolpern, vielleicht ein erstes leichtes Verziehen des Lenkrads wird spürbar. Piris Vorschlag (einfaches „noch“) ist mir daher zu eben. Bei deinem Vorschlag wären es zwei kleine Senken: x X x Xx xXx x X. Das wäre natürlich eine Alternative. Quasi innerhalb der Zeile ein Wechsel ins Daktylische, ein Ausbrechen, ein Verlassen der Spur. Ich werde darüber nachdenken. Du fändest es also sprachlich und klanglich schöner?

Herzlichen Dank jedenfalls und liebe Grüße, Irma

 plotzn (23.11.18)
Ich mach's kurz, liebe Irma:

Uff und wow!

Uff ob der beklemmenden Tragik, die geschildert wird und wow für die hervorragende Umsetzung!

Nebenbei habe ich auch noch gelernt, was ein Sonett travers ist...

Liebe Grüße,
Stefan

 Irma schrieb daraufhin am 04.12.18:
Knuff, you know? Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses große Lob, Stefan. Freue mich riesig über dein Gefallen und die Empfehlung.

Ja, ich habe hier schon mehrmals versucht, das Pferd von hinten aufzuzäumen und ein umgekehrtes Sonett zu schreiben ("Polwechsel" und viele andere). Freue mich, dass es hier gelungen scheint. Ganz liebe Grüße zurück, Irma.

 Jorge (27.11.18)
Mit Hilfe der kommentierenden Erklärungen ward mir das Literarische dieses Sonnets erst so recht klar.
Vielen Dank allen Beteiligten und natürlich besonders dir Irma.
saludos
Jorge

 Irma äußerte darauf am 04.12.18:
Das freut mich, lieber Jorge. Ich schätze die Kommentare auch immer sehr, weil man oft viel herausziehen kann. So soll es sein. Ganz lieben Dank für das Doppelsternchen! LG in den Süden, Irma

 Isaban (17.12.18)
Hallo Irmchen,

spannend, wie du hier die Chronologie der Form angepasst und den Rückblick in die nachgestellten Quartette verpackt hast!
Du kennst meine Klammerei ja. Ich leg dann mal fix los, bevor ich mich in Richtung Küche begeben muss und grüße schon mal im Voraus lieb.


Sie singt, als sie im Graben liegen,
sie schaukelt, ihre Arme wiegen
den stillen Knaben. Aus dem Schoß

fließt ein Rinnsal rot ins Moos. (Zwei Kinder, eines, das eine sehr kurze Zukunft hatte und eines, das noch nicht auf der Welt war/nie geboren wird. Sehr gelungen: das Rot fließt auch lautmalerisch aus dem Schoß ins Moos, aus dem kurzen, beinahe überrascht klingenden O in "rot" wird ein langer Laut bei "Schoß" und im Moos dann ein beinahe klagender Laut, ein in ein Wort verkleideter tiefer Seufzer. )
Im Krankenhaus wird ihr verschwiegen:
Ein Kind kann sie nie wieder kriegen. (Vergangenheit und Zukunft zerstört, interessant auch: nie wieder kriegen, nie wiederkriegen)

Ein Dämmern schnellt ins Himmelbett. (Gelungen, wie hier Himmel und Wiege eins werden, bei dieser traurigen Begebenheit)
Die Straße streckt sich. - Nichts als Weidegras
zu beiden Seiten - kräftig, fett. (Nun lass doch mal diese blöde Nachstellerei der Wiewörter! Das wirkt immer ungelenk.)
Ein Tritt im Bauch! Sie tritt aufs Gas, (Doppelte Treterei, ist der zweite Tritt eine Folge des ersten? Die lyrische Sie will nach Hause, fühlt sich vielleicht unwohl oder getrieben oder ist einfach müde und will den dicken Bauch aus der unbequemen Sitzhaltung mit dem schwangerenuntauglichen Autogurt erlösen.)

denn öde Vorsicht macht sie müder (Gurt, verantwortungsvolles Langsamfahren, Tempobeschränkung auf der Landstraße)
und zieht den Heimweg nochmal ein Stück. (hier wird stilistisch deutlich bebildert, wie der Heimweg "nochmal" gezogen wird.)
Die Rücksicht reizt weit mehr; das Brüder-
chen quietscht beim Schulterblick beglückt. (Grandios gebaut, wie hier das "Brüderchen" den Schulterblick, den Blick nach hinten bejubelt: Mamas Gesicht, das eigentlich nach vorn gerichtet sein sollte, wird freudig begrüßt, dabei wird das Brüderchen zerteilt, von den Brüdern bleibt im nächsten Vers nur der Diminutiv, das "chen", das wie ein Verpuffen klingt, wie ein Entweichen, etwas, das in keiner Weise mehr dem ähnelt, was es vorher dargestellt hat.)

 Irma ergänzte dazu am 17.12.18:
Hach, ich freue mich, du hast hier noch so viel rausgeholt - dankeschön!

Die Straße streckt sich. - Nichts als Weidegras
zu beiden Seiten - kräftig, fett.

Ja, hier muss ich dir Recht geben, hier sind die nachgestellten Adjektive wirklich nicht so schön. Und auch nicht stilistisch begründbar. Das einzige, was ich noch zu meiner Rechtfertigung sagen kann, ist, dass ich das "Nichts als Weidegras zu beiden Seiten" bebildern wollte, indem ich es, in Bindestriche eingefasst, in die Mitte gesetzt habe.

Fällt dir vielleicht eine elegantere Lösung hierzu ein? Ganz lieben Dank, Irma

Antwort geändert am 17.12.2018 um 22:32 Uhr
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