Wenn richtige Autoren wegen neuer, ureigener Erzählweisen in der digitalen Welt, die in einem Buch gar nicht mehr abbildbar sind, von nun an für die Schublade schreiben

Glosse zum Thema Zirkus

von  toltec-head

Was, wenn sich eine Auflösung der eingespielten Beziehung zwischen Autor, Verlag und Verleger abzeichnet, der Verlust eines Grundmodells des Büchermachens, des Kerns des Vertrauens, mit Hanser als Avantgarde des Zerfalls?

Wofür es Indizien zu geben schien. Denn noch gar nicht im Amt, hatte Lendle prognostiziert, es würden "eines Tages auch Literaturen und Erzählweisen entstehen, die wirklich ihre ureigenen Vermittlungsformen in der digitalen Welt haben und in einem Buch gar nicht mehr abbildbar sind". Ein Buchverleger, der aufs Buch nicht mehr vertraut? Die Idee des Self-Publishings von Schriftstellern fand er zumindest "nicht uninteressant". Der Autor als Ich-AG? Das klang alles recht zeitgemäß, aber nicht unbedingt nach dem Geist von Hanser.

Als langjähriges Mitglied des digitalen Avantgardeklubs kV fragte ich mich natürlich sofort, welche neuen Literaturen und Erzählweisen Lendle meinen könnte?

Die Oden an Rosen pensionierter Studienräte?
Die Unterfickten-Lyrik feister, auf Metrik pochender Tantchen?
Die Behindertenprosa von Krankenschwestern und Kellnerinnen, die immer zielsicher von allem, nur nicht von dem erzählen, was an ihnen vielleicht interessant sein könnte:  ihr Krankenschwestern- bzw. ihr Kellnerinnendasein sowie ihren Sex?
Die Gutmensch-Aphoristik?

Hab ich was verpasst? Dabei google ich doch regelmäßig nach anderen Foren und folge jedem Tipp von einem Freund. Die Wahrheit: kV ist aufgrund der liberalen Grundhaltung seines Betreibers in all seinem Elend noch das allerbeste aller Foren. Woanders werden die obengenannten Textsorten zusätzlich auch noch von Blockwarten moderiert. Was neues, gar eine neue Erzählform, wird auf diese Weise dort nie entstehen.

Lendle besteht darauf, dass die literarische Welt, in der Hanser sich füher bewegte, so nicht mehr existiert. Es existiert keine einheitliche literarische Öffentlichkeit mehr, mit den Feuilletons im Zentrum, deren Rezensionen für den Verkauf eines Buches entscheidend sind. Die Fiktion eines stabilen Bildungsbürgertums löste sich ebenso auf, zugunsten eines breiten Panoramas potenzieller Zielgruppen, die für jedes Werk neu identifiziert und adressiert werden wollen.

Digital Natives sprechen auf andere Formen der Werbung und des Marketings an. Literatur gelangt auf neuen und vielfältigen Wegen in die Öffentlichkeit, aber was ist noch "Öffentlichkeit", wenn sämtliche Kommunikationswege zu irgendwem führen? Wie kann sich dann ein Buch noch von anderen unterscheiden und seine Notwendigkeit unter Beweis stellen? Diese Fragen stellen sich heute alle Buchverlage, und bei Hanser brachen sie aus Anlass des Verlegerwechsels plötzlich und heftig auf.

Nur komisch, dass sich in unserem Forum niemand diese Fragen stellt. Die Fiktion eines stabilen Bildungsbürgertums mag ja da draußen am Zerfallen sein, hier drinnen lebt sie weiter fort. Keiner kann hier ein "richtiges" Buch schreiben, vermutlich ist es lange her, dass die meisten mal eins gelesen haben, auf den Buch-Fetisch fixiert sind sie trotzdem alle, wie man ihren meist unbeholfenen Texten ohne weiteres anmerkt.

Lendle erhielt kürzlich den Brief eines langjährigen und wichtigen Autors des Verlages: Reinhard Jirgl schickte ihn ab, und er macht Lendle "fassungslos". Es ist ein Beispiel des Strukturwandels der Branche, der Brief demonstriert alle Wirrnisse und Härten dieses Prozesses. Jirgl begann einmal sein Schreiben "für die Schublade", weil er in der DDR nicht publizieren konnte, er debütierte erst 1990 und wurde danach zu einem der wichtigsten ostdeutschen Autoren, er erhielt 2010 den Büchner-Preis, doch in den letzten Jahren wurde es stiller um ihn. Und jetzt entschließt sich Reinhard Jirgl, nicht weiter zu publizieren. Er wird weiterhin schreiben, jedoch wieder "für die Schublade". Er kehrt zurück, zu sich, zur Konzentration seiner Anfänge, zum Selbstgespräch. Seinen Verleger bewegt dieser Entschluss sichtlich, er zollt seinem Autor Respekt dafür, ganz verstehen kann er ihn nicht.

Für die Schublade schreiben. Der literarische Wert der Foren mag gegen 0 tendieren. Aber ihre bloße Existenz hat exakt dies unmöglich gemacht. Oder sagen wir: ihre bloße Existenz hat es einem nachdenkenden Menschen unmöglich gemacht, es glaubhaft - und zwar gerade, denn hierauf kommt es an, für einen selbst glaubhaft - zu tun. Was aber, wenn jedes "wirkliche" Werk mit der Idee des bloß für die Schublade Schreibens beginnt?


Anmerkung von toltec-head:

https://www.zeit.de/2017/42/jo-lendle-hanser-verlag-literatur-filme/komplettansicht

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Kommentare zu diesem Text

michaelkoehn (76)
(04.01.19)
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 LotharAtzert meinte dazu am 04.01.19:
Ja!
Den meinen geb' ich's im Schlaf )
Nimbus† (45) antwortete darauf am 04.01.19:
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 Lluviagata (04.01.19)
Hallo Toltece,

und deshalb sehe ich [immer immer noch] vom Veröffentlichen meiner Gedichte ab. Ich mag nicht, dass es als Mängelexemplar im Wühltisch bei Kaufland landet.
Nichtsdestotrotz schreibe ich weiter. Es erinnert an mich, dereinst, hoffe ich.

Alles Gute für das neue Jahr wünsche ich Dir.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Habakuk (04.01.19)
Ich kann dem Traktat durchaus das eine oder andere Positive abgewinnen.
Jeder ernstzunehmende Literat weiß doch, dass auch noch der größte Scheiß durch die Anzahl der Leser und Käufer geadelt wird. Außerdem ist Lachen gesund.
By the way, was ist der Unterschied zwischen Magerquark und Eis mit Himbeersoße? Beides kann man essen. Muss man aber nicht. Was ist der Unterschied zwischen Karneval und Kabarett? Beides kann man sich anschauen. Muss man aber nicht. Man kann sich für eines von beiden entscheiden. Jeder Jeck ist anders und jagt seine eigenen Schimären.

 LotharAtzert (04.01.19)
Wg. Antwortlosigkeit (Perlen vor die Säue) wieder gelöscht.

Kommentar geändert am 06.01.2019 um 12:19 Uhr
Sätzer (77)
(04.01.19)
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