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Erzählung zum Thema Ende

von  RainerMScholz

Ich weiß ganz genau, wie es gewesen ist.
Es war Abenddämmerung, die Sonne ging gerade in einem purpurglühenden Horizont jenseits des dämmrigen laubflüsternden Novemberwaldes unter. Der Mörder irrt ziellos über lehmige, bucklige feuchtglänzende Pfade, jagt gehetzt regennasse Wege entlang, verharrt keuchend, den Oberkörper mit den Armen auf den durchgedrückten Knien abgestützt, an einer schweigenden Lichtung, sieht träumend wie einzelne braune Blätter von den Bäumen zaghaft zu Boden wirbeln, horcht in das Dickicht der Sträucher und Geäste, lauert in den weiß schemenhaft aufsteigenden Nebel, belauscht argwöhnisch das Raunen der Wipfel und das geeinzelte Schreien schwarzer Vögel hoch oben in den Lüften; das Wispern der nahen Ferne, die diese Undurchdringlich­keit einer schlafenden Welt ist.
An einem versumpften Teichgrund kauert hinter verwachsenem Unkraut, verfilztem Schlehengestrüpp und leuchtenden Farngewächsen eine schilfi­ge, verrottete, zerfallene Backsteinruine, umfriedet von einem kniehohen Zementsockel, aus dem verbogene, gusseiserne Spieße rostig in die Höhe ragen. Er schreitet mit einem eigentümlichen Gefühl der Inbesitz­nahme durch das martialische Portal, das aus zwei aus den Angeln gesprengten, mit reichen Ornamenten verzierten Torflügeln besteht und betritt den ehemaligen Vorplatz des heruntergekommenen Anwesens, das von einer erschreckenden, alles verschlingenden Natur vereinnahmt worden ist. Das Dach ist vollkommen in sich zusammengesackt, aus den glasgezackten leeren Fensterhöhlen wuchern wilde Kräuter und Gestrüpp. Die fahle, zerfaserte Eingangstür lehnt torkelnd im losen Rahmen. Die zerborstenen grünsumpfigen, morsch ineinander verfugten Bretterdie­len sind mit stacheligem Gras, Moos, braunem Schilfrohr und spröden Diestelgewächsen überwuchert. Aber das Gebäude ist leer. Unbewohnt. Vernichtet, ausgebombt, verlassen: Spinnentiere, Kerbfüßler und schwir­rende karzinome Blutsauger haben das Regiment übernommen. Das Wrack eines zertrümmerten Klaviers hockt leblos in der Nische eines in halber Höhe endenden Treppenaufgangs, der ins Nirgendwo führt. In den schatti­gen Ecken verrotten zerknüllte Bierdosen, schimmeln bauchige Alditüten, verströmen eingetrocknete Präservative eine giftige Phosphoreszenz. Im Westflügel lehnt die untergehende Sonne rot aus dem herausgerissenen Fenster über einem schlammigen Wiesengrund, Irrlicht eines divergierenden Sumpflandes. Der Mörder stand am Fenster und sah in die Nacht, die bald hereinbrechen würde.

Ein Motorengeräusch, ein irritierendes Stakkato von Zivilisation, hier, wo die Stille regiert. Das Stampfen und Atmen des Metalls, saugendes Schmatzen von teeröligem Treibstoff, gewalttätiges Eintauchen der Kolben in den Motorblock, das Knallen gezähmter Explosionen, gefangenes Feuer. Ein Wagen hält vor der Ruine, zwei Menschen steigen lachend aus, umar­men sich, küssen sich, betreten Hand in Hand das verwunschene Schloss im dunkelnden Wald, Aura des morbiden Gemäuers.
Die junge Frau stellt den Weidenkorb, den sie in der Armbeuge getragen hat, auf den Treppenabsatz, blickt sich ratlos um, zuckt mit den Schul­tern, sieht ihren Begleiter fragend an, der sie zu beschwichtigen sucht, sanft ihre Taille umfasst, ihren Körper an den seinen drückt. Er küsst sie zärtlich auf ihre halbgeöffneten sinnlichen Lippen, die rot aus dem bleichen, grazilen Gesicht leuchten. Ihre langen blonden Haare glänzen im Gegenlicht des nebelschwarzen Sumpfdickichts, das sich kubisch grün gegen die offenen Fenster lehnt. Längst kriechen gezackte Schatten aus den stummen Ecken. Der Mann nimmt drei schlanke weiße Kerzen aus dem Korb und entzündet sie auf den morschen Resten des Treppengeländers. Er breitet eine Decke über die Stufen, und wie von Zauberhand stehen plötzlich zwei Gläser und eine Flasche Wein zwischen den flackernden Lichtern. Ihre Augen vergreifen sich ineinander. Und auf den zerborstenen Stiegen sitzend, klingt wie das Verschwinden ungenannter Welten das Klirren der rubinperlenden Gläser aneinander. Neugierige Augen starren aus dem Dämmer des Gestrüpps an der Nordseite der Ruine. Die ersten Sterne glitzern am tintenblauen Himmel.

Im Rausch der Liebe getanzte Schwüre für immer, geflüsterte Zartheit, die Nacht ist rein und der Mond strahlt das Licht des Unermesslichen.
Ein Kribbeln im Bauch wie das Nach-der-Kehle-Greifen aus dem Tiefinnern, die Lust, sich zu fühlen im anderen, streicheln wie wohlige Peitschenhiebe.
Die Emphase eines geschlossenen, profunden Seins, das Glück im Univer­sum, der Wunsch, der in Erfüllung geht, der Traum, der wahr wird und der Gedanke, dem die Tat folgt.
Draußen ein Krachen und Brechen wie von geschundenem Eisen, überlaut in der Stille, doch kaum den geschlossenen Kreis der aufeinandergerichteten Wahrnehmung durchbrechend, zufällig, nicht gewollt, unwahr, ein Nichtgeschehen. Nichts. Stille.

Jack the Ripper, Frankensteins Geschöpf, das Ding aus dem Sumpf oder der Mörder in uns allen stand plötzlich über ihnen.
Sie nahmen ihn erst gar nicht wahr. Sie waren intensiv mit ihren Körpern beschäftigt. Sein Hintern pumpte auf und ab in ihren Schoß, quietschend gehauchte Laute schlüpften über ihre Lippen. Ein Männerrücken glänzte blonden Schweiß. Sie sah ihn, ihre Fingernägel verkrallt in Fleisch; schrie und versuchte panisch ihren in sie stoßenden Geliebten von sich zu weisen. Der, der über ihnen stand, schwang die gusseiserne Zaunpike in die Höhe und ließ sie durch das sich wölbende, zuckende Rück­grat krachen. Aus dem aufgerissenen Mund der Frau sprudelte eine Blutfontäne, der zu Tode verletzte Mann versuchte an das Ding in seinem Rücken heranzukommen, dessen Spitze sich in die Bretterdielen unter ihnen gebohrt hatte. Das körperzuckende Knäuel kreischte widersinnig stumm, wie eine verbrannte Spinne, zerrte achtgliederig an der Nadel, ein obszöner Schmetterling unter der Lupe eines alternden Jünger, des obsessiven Sammlers. Tote Arme und Beine wanden sich faserig in zerfetzter Fluchtbewegung durch das feuchte Nachtkraut, Finger krallen, Zehen stoßen sich blutig an rostigen Nägeln, schreigrünes Farn schneidet Haut von den Knochen - als lebten sie noch. Bloße Autarkie des aufgerissenen Doppeltorso.
Es ging alles ganz schnell, kein Schrei, kein Hilferuf hallte durch die Nacht, kein sardonisches Lachen, das sich in den Wipfeln bricht, kein Sirenengeheul, kein Licht von einem entsetzlich stummen Himmel sternenklar. Unbewegt der Wald, verharrend in bewußtseinslosen Ge­danken.
Mit einer übermenschlichen Anstrengung riss ich die ineinandertätowierten, nackten, im Geschlechtskampf verfangenen beiden Menschen empor, trug sie hinaus in den
Hof und steckte sie an den Pfahl geheftet aufrecht in den feuchten Morastboden gegen den Mond. Die gezackten Widerhaken verhinderten, dass die Leiber herabsackten. Blut und Sperma rannen ihre Schenkel herab, die Münder bleckten in einem letzten Schrecken die Zähne wie ausgemergelte Pferde, blanke Augen starrten in den sich dem Zenit nähernden Bleichen Onkel. Gliedmaßen wiesen wie verirrte sturmrissige, ineinanderverhakte Wegweiser vom Achsenpunkt ihrer rotlackierten Körper nach Norden und Süden, Osten und Westen.
Der Mörder, der ich bin, stand alleine und träumte, schwankte sacht vor und zurück im Anblick der Vision zweier sich im Rhythmus der schwarzen mondstaubglitzernden Baumstämme wiegender Lebewesen. Träumte. Norden, Süden...

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