Thermonuklear-Kid war bereits da und wartete. Veit, der Barmann, lehnte an der anderen Seite der zerkratzten rauchdunklen Theke, trocknete Gläser mit einem fleckigen Lappen und schielte abschätzig stiernackig zu dem frühen Gast des Speak Easy hinüber.
Die trübe Herbstsonne war hinter den blitzenden Glasfassaden der größenwahnsinnigen Monstertürme der Stadt rot zerlaufen, blaue Schatten kriechen aus den Straßenfluchten asphalten gegen blinde Häuserfronten. Wie entfernte heisere Möwenschreie in brandiger Wut tost der Motodrom über die omnipräsenten Schnellstraßen, Autobahnen, Verkehrsknotenpunkte. Lautlos flackernd schießen die Neonlichter ihr Gift in den Bauch der Stadt, vibrieren Leben, wo nichts mehr ist. Stein, Beton und Stahl. Und in berechneten Abständen eine zu einer traurig verlogenen Existenz verdammte naturbelassene ökologische Nische in Form einer Baum-, Strauchgruppe, umsorgt von Mitarbeitern in orangefarbenen Overalls, die für einen Euro die Hartzstunde arbeiten oder wegen eines gegen sie verhängten Sozialdienstes. Hinter der Fassade: die Nacht, die anderen Geschichten, das blanke Gerüst, Wesen, Kreaturen.
Der Klub in der Seitenstraße ‚Hinter der schönen Aussicht´ war die Basis aller Unternehmungen, die sie zusammen begannen. Thermonuklear wartete auf die anderen.
„Es ist die Monographie eines Amokläufers, den sie lebend fassen konnten, Veit, geschrieben aus dem Knast. Ich verstehe nicht, wieso das im ‚Urbanen Zitizen´ so niedergemacht wird. Dieser halbskurrile Regisseur da in Hollywood, Tarantelo oder so, könnte bestimmt einen Film daraus machen, wenn er wollte. Alles echt sozusagen.“
T.Kid regte sich über eine Buchbesprechung auf und der Barmann hörte missmutig zu, wie er allen zuzuhören schien, die ein geliehenes Ohr brauchten. Er war ein Profi, er machte Umsatz.
Auf der blanken Tanzfläche im angrenzenden Raum brach Industrial schwarzglänzend aus den Musikboxen, während der DJ gelangweilt im Playboy blätterte. Aufklappbare Wichsvorlage mit austauschbaren Motiven. Die gelben Punktstrahler ließen die Ecken und Kanten T.Kids Gesicht weich und beinahe feminin erscheinen, seine hagere Gestalt steckte noch in dem schwarzen Straßenmantel, den er einmal auf dem Flohmarkt gefunden hatte.
„Willst du noch `was trinken, T.?“
Veits gedrungener Körper schob sich herüber, seine tätowierten Arme kreuzten sich auf der glanzlackierten Eichenholztheke und sein gewaltiger, grauhaariger Schädel erhob sich über der Person, die sich auf der anderen Seite der Arena befand.
„Ja, klar, - ...und dann sagt dieser Arsch von Rezensent, dass sei typisches Machogelaber, völlig unglaubwürdig und überproportional oder so. Der braucht doch bloß einen virilen Phallus in seinen Schwuchtelhintern, bei zugezogenen Gardinen und Licht aus.“
„Hier ist dein Bier. Ich schreib`s auf.“
„Danke.“
Mit den Augen folgte er zwei auf jugendlich getrimmten Frauen, die gerade eingetreten waren. Ihre lachfratzigen Gesichter waren stark geschminkt, wirkten beinahe puppenhaft fragil, und die aufgesetzte, nachgerade zwanghaft zur Schau gestellte Fröhlichkeit ließ Thermonuklear erschauern. Die überschwänglich proportionierten, den Blicken dargebotenen Körper, die fleischigen Hüften, die plump hochgestockten Brustkorsagen, die perfide Geilheit ließen einen unterschwelligen Abscheu in T. hochkochen, ein Gefühl, dass er selbst nicht genau zu lokalisieren vermochte. Seine Netzhaut verbrannte an ihren grobmaschigen Netzstrümpfen, getigerten Bodies, hochhackigen gelackten Pumps. Er verfiel in düsteres brütendes Schweigen.
‚Schizoides bescheuertes Arschloch’, dachte Veit, ‚immer derselbe Scheiß’.
Hauptsache ist schließlich, dass er nicht aufhört zu trinken, und danach sieht’s bei ihm nicht aus. Das Geschäft geht weiter. Soziale, politische oder ganz banale menschliche Katastrophen, gefühlsduselige Romantiker, selbstverlorene Prediger, Seifenopern, plötzliche Todesfälle und die Schlechtigkeit der Welt; oder gerade deswegen. Die fette Nutte blinzelte Veit zu.
T.Kid versinkt in grauen Gedanken, den schwarzen, verramschten Ledermantel, an dem die Hälfte der unförmigen hässlichen 70er Jahre-Knöpfe fehlen, lose um die Schultern drapiert; machte sich Gedanken über Bevölkerungsexplosion, Unterentwicklung, westzivilisatorisches Bruttosozialprodukt und warum Scheißhauspapier ‚Danke’ heißen sollte; weshalb rosa Flamingos Karotten fressen müssen, um so auszusehen, wie sie aussehen; wo die Süßwarenfabriken die ganzen Neger für ihre Küsse herkriegen.
Veit wischte die Gläser aus, unterhielt sich mit ausgewählten Gästen, boxte den DJ in die Seite: ’Sisters of mercy’; schenkte T.Kid ein neues Bier aus. Der beobachtete jede seiner Bewegungen, den Ablauf der einzelnen Handgriffe, wenn er ein Glas ergriff, das stoppelige Kinn kratzte, die Mimik seines falschen Grinsens und wenn er sich scheinbar interessiert zeigte; die obszöne Wölbung seines Bauches, als er sich nach einem entglittenen Bierdeckel bückt; die ungelenken fleischigen Finger, wenn sie Zahlen auf feuchte Stundenzettel notieren. Es war wie ein Zoom, der einen rauschigen Bildschirm ausfüllt, Nahaufnahmen, die unverständliche Abfolgen zeigen, die erst entschlüsselt werden müssen. Zu nah dran, um verstehen zu können, das Detail größer als der Zusammenhang.
Mühsam riss Thermonuklear sich los, versuchte seine Konzentration auf etwas Konkretes, Handfestes zu lenken.
„Das Leben ist eine Prostituierte!“
Schweigen. Starren in die leere gekalkte Wand. Schweigen.
„Nein, das ist nicht gut. Leben ist wie eine ... syphilitische Hure! Nein, auch nicht.“
Die Gäste um ihn versuchten seinen Sermon zu ignorieren, schauten in ihre Gläser, einige feixten versteckt, sahen verstohlen zu ihm hinüber.
„Wieso soll das Leben eine Frau sein. Könnte eher ein stinkender verlauster Vorarbeiter am Fließband sein, der dich zur Erbringung eines stupiden Solls antreibt - kennt ihr wohl nicht, hä? -, ein Soll, das, nur als Beispiel, tausend Plastikelemente in supraleitenden Klospülungen mit Radio rechtzeitig geliefert werden können. Versteht ihr!?“
Veit blickte bereits misstrauisch in seine Richtung. Thermonuklear-Kids Stimme wurde lauter, wechselte die Frequenzen, überschlug sich, warf Falten in das gelblichtrige Gestöber.
„Oder doch eine Engelmacherin, die einen Uterus mit Haken und Ösen zerfleischt und ausblutet, um nichtgewollte Träume im Garten hinter der Rosenhecke zu vergraben. Es ist ein nichtgeborener Jesus, der unerlöst...“
„Hier ist `was zu trinken, T.. Und: du machst die anderen Gäste nervös, klar?! Also komm´ wieder `runter.“
„Tut mir leid.“
Er blinzelte schwach in den blinden Barspiegel hinter der Theke, tauchte auf wie aus einem Eifeler Mar.
„Tut mir leid. Ich sitze nur hier und warte auf B-Bop und Seveso.“