Der andere Zustand

Text zum Thema Gesellschaftskritik

von  Remy

Alle um mich herum lachen, alle um mich herum nippen an ihren Gläsern. Ein paar betrinken sich. Es ist laut, eine Masse an Menschen spricht wild durcheinander, ich verstehe nicht, was sie sagen, aber ich weiß, dass ihre Sprache keinen Inhalt hat. Es geht nicht um etwas, es geht um das Nichts, was alle unterhält, weil jeder glaubt, vom Nichts eine Ahnung zu haben. Der Musiker, der gerade seinen Song durch die Boxen brüllt, versucht gegen den fröhlichen Lärm anzukämpfen, er versucht, seine Stimme über alle zu erheben, aber er geht unter. Das, was er zu sagen hat, interessiert niemanden im Raum. Es geht nicht darum, wen was beschäftigt, es geht nicht um Gefühle oder Gedanken, die man austauscht. Man hat das Gefühl, bereits zu viel nachgedacht zu haben. Sie wollen nur den Ausgleich, sie wollen ein Remis, aber Rémy irgendwie nicht. Sie wollen ihre Zerstreutheit vergessen, blenden alles aus, jedwede Mimik und jedwede Gestik wirkt trotz der Grimassen starr, kein Ausdruck hat eine Aussagekraft. Worum es hier gehen soll, das weiß in Wirklichkeit niemand. Um das zu vertuschen grölen sie "SAUFEN!", ein Fremdwort. Jeder von uns hat die Erfahrung gemacht, über den Durst zu trinken und jeder, der es erlebt hat, dass ein Zuviel im Magen zu einem Zuviel auf dem Boden führt, - der trinkt weiter. Es ist alles so sinnlos, so dermaßen sinnlos. Man trinkt, um zu verdrängen, man trinkt, um zu vergessen, doch was man vergisst, sind nur die schönen und wichtigen Dinge. Man trinkt, um Erinnerungen zu kreieren, aber schafft nur Lücken. Am Ende blicken wir zurück und erzählen stolz, was wir alles erlebt haben, dabei waren es Momente, wegen derer wir uns in Wirklichkeit nur schlecht fühlten. Sie waren würdelos, man stand neben sich, sah auf das kotzende Ich am Straßenrand und beweinte es.

Ich fühle mich wie ein Verlorener, weil ich mich nicht innerhalb dieser Masse bewege, nicht ihre Sprache spreche, nicht ihre Gedanken denke, sondern beobachte und fühle - dass es sich hier um ein Mehr dreht, indem man schwimmt und versucht, nicht unterzugehen. Einer erhebt die Stimme so laut, dass jeder glaubt, er müsse es ihm gleichtun, damit man sich verstehe. Laut und Leise wurden niemals Freunde. Ich kann dem nichts abgewinnen, auch wenn ich es glaube zu verstehen. Ich kann mich nicht frei davon machen, selbst Phasen zu haben, indem Selbstzerstörung so attraktiv erklingt. Wie dem auch sei, ich kann nicht sagen, dass ich mich nicht aufgenommen fühle, dass ich mich ausgegrenzt fühle, denn das tun sie nicht bewusst, aber auch ich tue es nicht bewusst.

Ich drängte mich nie bewusst in die Außenseiterrolle, auch wollte ich nie einen anderen Menschen als mich verkörpern. Ich will ich sein. Wenn die Komik einer Situation unabdingbar lustig ist, dann lache ich, wenn spaßige Augenblicke sogar über ihren Moment hinaus lustig sind, dann bin ich einer der Protagonisten dieser Komödie, dann ziehen sich meine Mundwinkel nach oben, als existiere eine umgekehrte Schwerkraft. Wenn im Unterschied dazu nichts passiert, was diesen Zustand auslöst, dann lächle ich nicht, da kein Wort und keine Gestik meine Lachmuskeln gekitzelt hat. Es muss nicht alles unterhaltsam sein, trotzdem will jeder unterhaltsam sein, als wäre es eine Tugend. In all diesem Lärm erkenne ich eine Stille.
Ich sehe ihn, einen meiner Weggefährten der letzten Jahre, der durch seine liebenswerte Art oftmals die Schwerkraft verändert. Ich bemerke, wie sein Lachen und Grölen weniger den Raum erhellen - wie es sonst der Fall ist - als passiere ihm etwas, als hätte sich sein Antagonist in ihm aufgerichtet. Es fällt niemanden auf, jedenfalls fragt niemand nach. Kurz daraufhin geht er. Ein "Tschüss" in die Runde, manche erwidern es, andere lassen sich nicht in ihrem unbewussten Zwang, nicht sie selbst zu sein, beirren. Ich spreche ihn beim Namen an. Egal, wie sehr es donnert, jeder wird seinen Namen hören. Er reagiert, ich umarme ihn, sage ihm, es wird schon werden, er wird es packen, er kann es - er bedankt sich leise, ohne mir dabei in die Augen zu sehen. Es fällt ihm sichtlich schwer, aber es ist nicht seine Schuld, dass er seine Gefühle nicht zum Ausdruck bringt. Dann ist die Stille fort.

Der Fokus weilt auf dem zukünftigen Geburtstagskind, das trinkt, weil es sich so gehört. Dass Alkohol nicht gesund ist, das weiß jeder und jeder ignoriert es. Dass es ihm schadet, alles Geistige, was ihn als Menschen ausmacht, zerstört, das beachtet niemand. Ich bewundere sein Gedächtnis und betrauere, ohnmächtig zu sein. Der gesellschaftliche Druck ist stärker als ich, stärker als sein Erinnerungsvermögen. Am nächsten Tag heißt es, dass er sich nicht mehr an alles erinnere, es ist der Beweis. Die Detektive freuen sich, die Freunde lachen, die Psychologen bleiben stumm. Ich gebe ihm Wasser, als wäre es ein Protest, eine stille Demonstration. Ich versuche ihn zu retten, aber es ist hoffnungslos, ein Einzelner hat es selten bewirkt, sich gegen die Masse, gegen die Dynamiken der Gruppen durchzusetzen. Das muss man akzeptieren. Das heißt nicht, dass man handlungsunfähig wird. Man akzeptiert zwar den Zustand, aber nicht den Prozess. So bleibt der gute Wille erhalten, weil dieser in der Seele des Menschen tief verwurzelt ist. Auch ein Teufel könnte diesen Willen nicht von der Seele trennen. So tue ich nichts, was ich nicht sonst auch tun würde, ich reagiere aus meiner naturbedingten Notwendigkeit heraus. Wenn ich etwas ändern will, was sich nicht ändern lässt, weil es ein Zustand ist, dann akzeptiere ich das. Wenn ich etwas ändern will und eine Entwicklung ändern kann, dann ändere ich sie.

Ich bin da, aber irgendwie auch nicht. Niemanden fällt die Stille auf, die in meinem Inneren schweigend Nachrichten chiffriert, um sie anschließend für alle Anwesenden freizugeben. Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen, auch will ich kein Geist sein, der zwar anwesend ist, aber von niemanden realisiert wird. Ich will auch nicht bewusst etwas gegen die Selbstzerstörung anderer Menschen tun, das passiert ungesteuert. Es ist kein Kleidungsstück, es ist ein Muttermal, ich kann es nicht von der Haut kratzen, denn es gehört zu mir.

In diesem anderen Zustand, wenn sich alles um mich herum dreht, fühle ich mich verloren, obwohl ich einen Kompass und Karten besitze, doch es geht mir gut, es geht mir bestens. Wenn ich alleine bin, ist der andere Zustand lediglich eine Erinnerung. Mein alltägliches Leben ist schneller als ich und ich gebe mir Mühe, mein Tempo zu erhöhen, um den Blick aufrecht zu erhalten. Wenn sich die Blicke meines Lebens und mir treffen, dann geschieht Magie, über die ich staune. Auch wenn es mir schwerfällt, laufe ich, ohne meine kaputten Knie zu benutzen. Die Bänder meines Knies versuchen mich zu fesseln. Sie lähmen nicht meinen Geist. Ich bin stärker als das, aber genau das macht mich für andere schwach. Wenn ich beschäftigt bin, statt bei ihnen zu sein oder mich mit dem Nichts zu vergnügen, dann bin ich ein Außenseiter innerhalb dieser Bewegung. Ich werde unglücklich. Wenn ich nichts mache, über nichts nachdenke und nichts empfinde, bin ich tot. Wenn mir das Leben nur häppchenweise durch Kurze eingetrichtert wird, dann sterbe ich. Die Lunge füllt sich mit Kräuterschnaps, ich ertrinke, ich ersticke, ich kriege keine Luft, ich werde ohnmächtig. You've been locked in here forever and you just can't say goodbye.

Ich wollte nie ein Unzugehöriger sein, aber ich wollte auch nie dazugehören. Ich will mir helfen, indem ich das tue, wonach mein Geist strebt. Ich helfe mir, indem ich meine Lust befriedige. Und diese Lust ist nicht sexuell, diese Lust besitzt keine Affinität sich zu betrinken, diese Lust will sich entfalten, will unerschöpflich existieren. Sie wird mir nicht eingetrichtert, sondern ich genieße sie bewusst bei jedem Schluck. Sie fließt nicht in die Lunge, sondern in meinen Magen, hinterlässt Glücksgefühle und Erinnerungen, bevor diese wieder forttreiben, alkoholfrei ... Das Glück in Punkten, weil Glück punktuell ist, genau so atmen meine Gefühle. Sie haben gemein, wie der andere Zustand nicht liniert zu sein. Es handelt sich nicht um Phasen, sondern um einen Donnerschlag. Und während ich hier stehe, gewittert es weiter, dabei wäre ich viel lieber an einem anderen Ort, an dem Sonnenstrahlen mein Gesicht linieren.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (04.12.20)
Pubertär gefärbter Text.
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