Das Problem der Wunder in der Vernunftreligion

Glosse zum Thema Grenzen/ Grenzen überschreiten

von  Terminator

"Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten" (1), stellt Kant das Primat der Moral in der Vernunftreligion fest, und entwickelt die Idee Gottes als eine aus dem Moralgesetz als ein Ideal resultierende: "Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll"(2).

Vernunftreligion, sprich dem Vernunftwesen Mensch gemäße Religion, ist notwendigerweise die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft, denn jeder Glaube über die Vernunft hinaus würde zur Beliebigkeit verleiten und den idealischen Bezug zum moralischen Gesetz verlieren. Um dies zu verdeutlichen, sei daran erinnert, woran sich das moralische Gesetz, um überhaupt ein Gesetz, und nicht bloß ein willkürliches Statut zu sein, orientieren muss: "Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum ALLGEMEINEN NATURGESETZE werden sollte"(3).

Die Moral erhält ihre Form der Gesetzmäßigkeit aus dem nach allgemeinen Gesetzen bestimmten Dasein der Dinge, welches Kant die Natur nennt; die Natur ist nicht das bloß Mechanische oder Biologische, wie es dem Alltagsverstand dünkt, sondern die Form der Gesetzmäßigkeit selbst, das objektive Ganze. Ein naturalistischer Fehlschluss unterläuft Kant also mitnichten, wenn er das moralische Gesetz aus diesem Begriff der Natur ableitet: alles, was ein Gesetz sein will, muss die Form der Gesetzmäßigkeit annehmen, d.h. allgemein und ohne Ausnahme gelten. Ein Willkürgesetz kann durch einen Herrscher aufgerichtet und wieder aufgehoben werden, ein Naturgesetz gilt ewig und ohne Einschränkungen. Ein naturalistischer Fehlschluss wäre die Maxime, so zu handeln, wie die unvernünftigen Naturwesen handeln, also alles für moralisch erlaubt zu halten, was den Naturgesetzen nicht widerspricht. Ein Vernunftwesen übernimmt für seine moralische Verfassung die Form der Gesetzmäßigkeit von der Natur, und nicht besondere Gesetze der Natur, wie etwa der Sozialdarwinist. Die Herkunft des moralischen Gesetzes aus der Gesetzmäßigkeit der Natur ist also kein Resultat eines Fehlschlusses, sondern die Basis jeder vernunftgemäßen Moral, woraus folgt, dass religiöse Glaubensinhalte den Naturgesetzen nicht widersprechen dürfen, da dies die gesetzmäßige Beschaffenheit der Moral in Frage stellen, und somit der Religion ihre vernünftige Grundlage entreißen würde.

Der ungläubige Thomas der Vernunftreligion ist nicht der Mensch, der sich weigert, an Wunder zu glauben, sondern derjenige, der der Wunder bedarf, um an Gott zu glauben. Indem ein Mensch nach Wundern verlangt, um an Gott glauben zu können, verlangt er nach einer Aufhebung der logischen Grundlage des Moralgesetzes, welche in der Übereinstimmung des Letzteren mit der Gesetzmäßigkeit der Natur besteht, - er will einen Gottesbeweis, der darin besteht, dass Gott, wenn es ihn gibt, in der Lage sein müsste, die Gesetze der Natur zu brechen, sprich Wunder zu wirken. Es sei daran erinnert, dass gerade die gesetzmäßig beschaffene Moral die Grundlage für Religion bildet: "Es kann also der Moral nicht gleichgültig sein, ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge (wozu zusammen zu stimmen zwar die Zahl ihrer Pflichten nicht vermehrt, aber doch ihnen einen besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke verschafft) mache, oder nicht; weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft werden kann"(4).

Der Wunderglaube verwandelt die Natur von einem nach allgemeinen Gesetzen bestimmten Dasein der Dinge in ein Chaos, und lässt das moralische Gesetz als bloß logisch, aber nunmehr ohne den Zusammenhang mit dem Weltganzen erscheinen. Eine Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur wird obsolet, sobald der Natur ihre gesetzmäßige Beschaffenheit genommen wird. Ein mit Wundern, sprich Verletzungen der Naturgesetze, verträgliches Moralgesetz führt nicht mehr zum Ideal eines höchsten Wesens, sondern bestenfalls zu einem heroischen Nihilismus, viel wahrscheinlicher jedoch zu einem Realitätsverlust und einem Solipsismus der Vernunft angesichts der Nichtübereinstimmung der gesetzmäßigen Beschaffenheit ihres Denkens und der vom Chaos regierten äußeren Realität.

Der Wunderglaube bzw. die auf Wunder gegründete Bereitschaft zu glauben, ist nicht nur unvernünftig, sondern ebenso unmoralisch - hier führt nicht die Moral zur Religion, sondern die Religion zur Moral: beweist Gott durch Wunder seine Allmacht, so ist man bereit, an ihn zu glauben, und sich seinen Gesetzen zu unterwerfen. Nun zeichnet sich die Moralität durch ihre innere Autonomie aus, d.h. dadurch, dass der moralische Mensch durch sein Gewissen sich selbst ein Richter sein kann, da er immerfort die Übereinstimmung seiner Maximen mit dem moralischen Gesetz überprüfen kann. In einer Moral des Wunderglaubens fällt die Autonomie des moralischen Subjekts, und mit ihr das Gewissen weg, da es kein ewiges Moralgesetz mehr gibt, sondern alle moralischen Gebote und Verbote von einem Willkürherrscher aufgerichtet und aufgehoben werden können. In einer solchen Religion ist der Wille des Menschen heteronom, und sein moralisches Handeln allein nach besonderen Zwecken bestimmt: alles, was ein fremdbestimmter Wille tut, tut er, um einer äußeren Macht zu gehorchen, und dadurch zu seinem persönlichen Vorteil zu kommen.

Wer nicht ausschließt, dass in der Vergangenheit Wunder geschehen sein könnten, muss auch logischerweise behaupten, dass Wunder heute noch möglich sind; da es sich bei den Wundern nicht um ein historisches, sondern um ein prinzipielles Problem der Vernunftreligion handelt, sind Wunder entweder allzeit für möglich zu betrachten, oder aber auch in der Vergangenheit zu verneinen. Auf der den Gesetzen der Chemie spottenden Verwandlung von Wasser in Wein ist eine Tyrannei, aber keine Kirche zu gründen. Dass die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft keine Wunder zulassen kann, heißt mitnichten, auch Gott habe sich den Vernunftgesetzen zu unterwerfen. Gott muss vielmehr als ein übervernünftiges Wesen gedacht werden, wenn er mehr als bloße Natur (das dem nach allgemeinen Gesetzen bestimmte Dasein der Dinge) sein soll. Ein gottloser Pantheismus der Vernunft ist ein ebenso unzulässiges Überschreiten der Grenzen der Vernunft, wie ein Wunderglaube, - während der Letztere von einer Demütigung der Vernunft durch einen übervernünftigen Willen befeuert wird, behauptet der Erstere eine Absolutheit der Vernunft, die die Grenzen ihrer eigenen Selbsterkenntnis sprengt.


(1) Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hamburg, 2003. S. 3.

(2) Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hamburg, 2003. S. 7.

(3) Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart, 2005.

(4) Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hamburg, 2003. S. 3.

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