Wie aufgestaute Wut zum Rattenschwanz wurde

Erzählung zum Thema Grenzen/ Grenzen überschreiten

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  VORDERGRÜNDIGES - HINTERGRÜNDIGES (Prosa)

Er hat einen über den Durst in der Dorfkneipe getrunken und sich mit Stammtischgästen gestritten. Jetzt tastet er sich mit seinem SUV den Rand der Landstraße entlang. Plötzlich verliert er die Kontrolle über den Wagen und findet sich im Straßengraben wieder, hat aber Glück dass er unversehrt aussteigen kann. Doch Hilfe per Handy will er nicht anfordern, denn die Polizei würde dann einen Alkoholtest machen und sein Führerschein wäre gefährdet. Deshalb beschließt er, den Weg zu Fuß nachhause zu gehen.

Die Fahrer der wenigen Autos, die bei dem dichten Nebel noch auf der Straße sind, wagen es nicht anzuhalten. Ihre Fahrzeuge gleiten durch die Undurchdringlichkeit an einem Schemen Mensch vorbei, wenn sie ihn denn überhaupt sehen. Er muss aufpassen nicht angefahren zu werden.

Im Verlauf des immer mühsameren Gehens steigt eine zunehmende Wut in ihm auf.

„Scheiß Nebel!“ schreit er in die Undurchdringlichkeit.

Er muss an seine Frau denken, die ihn vor drei Jahren wegen eines anderen verlassen hat, dann an seinen Sohn, der sich weigerte die väterliche Schreinerei zu übernehmen und nach Kanada ausgewandert ist.

 

Der Nebel dringt nasskalt in Nase und Mund, setzt sich in den Haaren und seiner Kleidung fest. Nach gut einer Stunde schleppt er sich tropfnass den Hügel hinauf zu seinem Haus und kramt nervös nach dem Schlüssel. In der rechten Gesäßtasche findet er ihn endlich und öffnet erschöpft mit zitternden Händen die Haustür. Da … ein Geräusch! Es versucht leise zu sein. Er traut sich nicht zu rufen. Vielleicht ist es ein Einbrecher.
Jetzt wieder das Geräusch! Er lauscht wie ein Besucher aus einer anderen Welt, der sich in ein fremdes Terrain schleicht und die Urlaute eines Stammes zu entschlüsseln versucht. Aber er kommt nicht dahinter, tastet sich leise in die Diele und streift vorsichtig seine matschigen Stiefel ab. Seine Angst versucht er beiseite zu packen und schleicht dann auf Zehenspitzen durch alle Zimmer, hört aber nichts mehr. Er greift sich eine stets bereit liegende Taschenlampe vom Zählerkasten, leuchtet die Stiege zum Dachboden aus und ruft:

„Ist da wer?“
Nichts rührt sich. Plötzlich taucht eine große Ratte aus dem Dunkel des Flures auf, springt auf die Stiege und hastet zum Boden hoch. Aber die Klappe ist geschlossen, so dass sie auf der obersten Stufe hocken bleibt und ihn anstarrt. In ihm schwillt die Wut weiter an, so wie er das schon lange Jahre nicht gespürt hat.
„Dir werde ich´s zeigen!“, schreit er, greift nach der Axt aus dem Besenschrank neben dem Zählerkasten und steigt voller Rage die Stiege hinauf. Die Ratte hockt immer noch verstört auf der letzten Stufe und wagt es nicht an ihm vorbei in die Tiefe zu springen. Blitzschnell saust das Beil hinab, verfehlt jedoch den Rumpf des Biestes, durchtrennt aber den Schwanz kurz dahinter und spaltet die schon etwas morsche Stufe. Das Tier stößt einen markerschütternden Quieker aus und rettet sich mit einem Sprung in den Abgrund.



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Kommentare zu diesem Text


 lugarex (11.06.23, 11:02)
Das Lesen hat bei mir längst verdrängte Schulgefühle evoziert, da ich sehr sehr ähnliches "live" erlebt hatte.

Guter Text, Sonntagsgruss Luga

 uwesch meinte dazu am 11.06.23 um 11:07:
Na, dann ist der Text ja nicht aus der Luft gegriffen
Dank Dir für Deine Empfehlung und LG von Uwe

 Beislschmidt antwortete darauf am 11.06.23 um 11:22:
Ja Uwe, einer ist immer schuld, wenn's nicht nach Plan läuft. Zur Not muss halt eine Ratte dafür büßen. 
Beislgrüße

 uwesch schrieb daraufhin am 11.06.23 um 13:57:
Die Schuldfrage ist letztendlich immer das Ziel aller Ermittlungen - aber die Ratte kann nicht befragt werde. Der Alkohol auch nicht, warum er so viel getrunken wurde
Dank für Deine Empfehlung und LG Uwe
Agnete (66)
(11.06.23, 14:09)
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 uwesch äußerte darauf am 11.06.23 um 14:17:
Ich wurde als Kind schon mal vom Vater verprügelt, habe selbst aber weder Frau, noch fremde Kinder verhauen. Lediglich sanfte Rangeleien mit meinem Bruder blieben nicht aus.
Gewalt löst keine Probleme wirklich.
LG Uwe

 harzgebirgler (13.06.23, 17:18)
toll erzählt! - pech für die ratte / dass sie so nen langen hatte! :D lg vom harzer

 uwesch ergänzte dazu am 13.06.23 um 19:32:
:) Ja sowas aber auch  :)
Dank Dir für die Belobigungen. LG Uwe
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