Die Emporschläferin

Erzählung zum Thema Menschen

von  Dreamer

Wir fielen uns nicht um den Hals. Die Begrüßung war eher unterkühlt, so wie es bei zwei Menschen, die sich fast 30 Jahre nicht gesehen und aus den Augen verloren hatten, wohl auch nicht anders zu erwarten war. Sie hatte angerufen und nach den üblichen Floskeln „Wie geht es Dir?“ und „Schade dass man solange nichts voneinander gehört hat.“ war sie auf den Punkt gekommen: „Kannst Du zu mir ins Hotel kommen? Ich habe ein Problem und brauche Deine Hilfe.“
„Alles wie eh und je also.“ dachte ich, denn schon früher war ihr Interesse an mir immer nur dann kurzzeitig erwacht, wenn sie ein Problem hatte und meine Hilfe brauchte.
Jetzt führte sie mich zu einem geradezu festlich gedeckten Tisch auf der Dachterrasse des Hotels. „Setz Dich! Wir besprechen alles nach dem Essen. Das geht selbstverständlich aufs Haus, und ich habe auch ein hübsches Zimmer für dich reserviert, falls Du nicht noch heute Abend zurückfahren willst oder musst. Mit Waldi kriege ich das schon klar.“
„Waldi? Ihr habt wieder einen Hund?“ fragte ich ahnungslos.
„Nein, keinen Hund und auch nicht wir… Waldemar gehört das alles hier. Er ist…“
„Dein aktueller Beschäler?“
„Also Du hast manchmal eine Ausdrucksweise… aber lass uns das Essen aussuchen!“ Sie reichte mir die Speisekarte.
Zu Abiturzeiten war sie mit einem meiner Klassenkameraden zusammen gewesen, daher kannte ich sie. Es hatte so ausgesehen, als würde es eine Verbindung für die Ewigkeit werden. Es hatte ausgesehen, als wären die beiden ein Traumpaar, als könnten die jeweiligen Eltern nicht nur die Hochzeit, sondern auch schon mal die silberne und die goldene Hochzeit planen. Es hatte aber auch nur so ausgesehen, denn Ihre Träume hatten sich schon damals nicht auf einen einfachen Arbeiterjungen konzentriert, sondern eher auf Reichtum und Schönheit.

[...]

Sie stand auf, trat um den Tisch herum und hinter mich, schlang ihre Arme um meinen Hals und säuselte: „Wirklich tausend Euro? Unter so alten Freunden?“
„Versuch es erst gar nicht!“ sagte ich. „Du bist jenseits der Wechseljahre. Ganz so hoch wie früher steht Deine Währung nicht mehr im Kurs. Alles hat seinen Preis heutzutage, und ich verkaufe eine Dienstleistung und nicht meinen Körper oder meine Seele wie Du.“


Anmerkung von Dreamer:

2014

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (13.04.21)
Einschließlich Titel und Schlusspointe gut erzählt.
Gruß
Ekki

 Regina (13.04.21)
Solche Emporschläferinnen gibt es auch nicht gerade selten.
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