Probleme? Petronius Arbiter weiß Rat: (5) Hehre Werte, lasches Handeln. Wie bringen wir unsre Eltern zur Vernunft?

Glosse

von  Willibald

Die Geschwister Sabota schreiben:

Meine Schwester und ich machen uns seit ein paar Jahren große Sorgen um unsere Eltern. Sie verhalten sich nicht nur vollkommen widersprüchlich zu den Werten, die sie uns als Kinder lehrten, sie äußern sich auch abfällig über unser Streben, diese Werte auszuleben und umzusetzen. Ein Alzheimer-Schnelltest, den wir heimlich durchführten, fiel negativ aus, trotzdem scheinen sie sich nicht erinnern zu können, wozu sie uns erzogen haben. Besonders beunruhigend scheint die Tatsache, dass nicht nur unsere Eltern, sondern weite Teile ihrer Generation davon betroffen sind. Kann das daran liegen, dass in den 50er Jahren so viel Zucker konsumiert wurde oder an der Schlagermusik?

Sie müssen wissen, in unserer Generation war es sogar in Bayern schon ganz normal, jeden Abend die Sesamstraße anzuschauen. Wir lernten das Rechnen mit Graf Zahl, wären nie auf die Idee gekommen, dass unsere homosexuelle TV-Freunde Ernie und Bert von manchen Menschen weniger gemocht werden als andere Liebespaare, lernten mit Oscar Schmutz und Dreck schätzen und Lefty sei Dank fallen wir auf nichts rein, was Wirtschaft, Werbung und unseriöse Medien versprechen.

Früher waren unsere Eltern stolz auf ihre aufgeklärten, vernünftigen und sozial eingestellten Kinder. Heute, da wir endlich alt genug sind, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten, sind sie auf einmal gegen uns. Unser Bestreben, bisher weitestgehend macht- und sprachlose Gesellschaftsgruppen zu Wort kommen zu lassen, damit Pluralismus in Deutschland endlich gelebt und nicht nur behauptet wird, nennen sie Genderwahnsinn und Cancel Culture. Sie bilden sich sogar ein, die Inklusion aller Menschen würde ihnen etwas wegnehmen, was ja auch stimmt, eine ungerechtfertigte Vormachtstellung aber nur, die sie eigentlich gerne abgeben müssten, wenn sie ihre eigenen Werte ernstnehmen. Sie setzen Erkenntnisse aus den Geisteswissenschaften, die finally Einzug in den alltäglichen Diskurs halten (z.B. aus den Kulturwissenschaften und den Postcolonial Studies) mit bloßen Gefühlsaufwallungen gleich und mittlerweile fangen sie sogar an, naturwissenschaftliche Erkenntnisse anzuzweifeln. Humor verstehen sie gar keinen mehr. Zum Beispiel das lustige "Meine-Oma-Lied" Weihnachten 2019, das auf ihren Druck hin aus dem Programm genommen wurde.

Neulich erinnerte ich meinen Vater, der sich ständig über die übermoralische Haltung meiner Generation beschwert, daran, dass er uns doch früher so gerne Erich Kästner vorgelesen hat und dass der hypermoralisch ist, jedes eigenständige kritische Denken vorwegnimmt usw. und er sich daran damals überhaupt nicht gestört hat. Meinen eigenen Kindern lese ich Kästner nicht vor, einfach weil ich seine Art der Moralvermittlung altbacken und betulich finde und ich meinen Sohn auch nicht unter Druck setzen will, ein perfekter Knabe wie Emil, Anton oder Martin sein zu müssen. Außerdem sind die Mütter bei Kästner immer krank und passiv, find ich auch bedenklich. Nicht, dass ich Kästner jetzt verurteile, war halt ein Mann seiner Zeit und hat jetzt ausgedient, no hard feelings. Er hat Kästners Moralität einfach abgestritten! Und dann auch die von Karl Krauss! Meine Eltern, die Kohl immer scharf kritisierten, verteidigen neuerdings Laschet, nur weil sie Baerbock nicht mögen und weiter Billigfleisch essen und Autofahren wollen.

Bitte geben sie uns einen Rat, wie wir das Gedächtnis unserer Eltern reaktivieren können, dass sie nicht immer so empört sind und sich vernünftigen, sachlichen Argumenten öffnen können, wie sie es uns selbst einst beigebracht haben.

LARK_SABOTA



Petronius Arbiter schreibt:

Nun, da ist einiges zu sagen.
Diese Eltern halten sich nicht an das, was sie in ihrer Jugend predigten und wohl auch praktizierten. Mir scheint das zwar verwerflich, aber nur ein bisschen. Ein wenig entspannt kann man das vielleicht doch sehen. Lassen wir einmal „vernünftige, sachliche Argumente“ beiseite. Ich darf Euch/Ihnen stattdessen eine Geschichte erzählen.

Als ich meinem Vater  vorhielt, er habe mir strikt vom Zigarettenrauchen abgeraten, jetzt aber drehe er sich plötzlich rothhändleartige Fluppen, da sagte er, Väter und Mütter seien nun einmal Wegweiser für ihre Nachkommenschaft. Und ob ich schon einmal einen Wegweiser gesehen hätte, der in die Richtung läuft, in die er weist.

Als ich ihm entgegnete, das sei weder als Metapher noch als Joke gut, er sei ja – im Gegensatz zu einem stationären Wegweiser - noch gut zu Fuß, da sagte er und grinste, weil er wusste, er hat mich gefangen: „Weißt Du noch, wie Bert war, damals?  Wie er bedrängt wurde von diesem fußlahmen Ernie? Aber Bert hat kein Problem mit sich selbst; und warum sollte er auch? Er ist emotional selbstgenügsam. Er mag, was er mag (Büroklammern, Sattelschuhe, Taubentanz). Er ist der Monarch der Introvertiertheit. Keiner seufzt zufriedener als Bert, wenn er allein mit einem Buch ist. Du solltest auch  nach solch einer Selbstakzeptanz streben. Wir haben einen Bert in uns. Und du  könntest dich also mit mir von Bert zu Bert unterhalten.“

Ich zögerte ein wenig, weil mich die Erinnerung tatsächlich beseligte. Als ich aber erneut zu Kritik ansetzen wollte, hob mein Vater die Hand: „Das mit den Normen und der übermoralischen Haltung ist so eine Sache. Mit Kästner gebe ich Dir übrigens Recht, diese Zwischenreden an den Kinderleser und die offensive Moralpredigt – das ätzt. Aber was hältst Du von folgender Geschichte? Eine jüdische Geschichte, besser als so manches, was ich euch damals vorgelesen habe.“

Ich lehnte mich zurück.

Es gibt da einen alten, sehr alten  Rabbiner, der will unbedingt versuchen, Schweinefleisch zu essen, bevor er stirbt. Da er ein orthodoxer Rabbiner ist, kann er in seiner Gemeinde kein Schweinefleisch essen. Also beschließt er, in ein Restaurant zu fahren, das etwa fünfzig Meilen entfernt ist. Er geht in das Restaurant und auf der Speisekarte steht ein Gericht namens „Spanferkel“.
Also bestellt er das Spanferkel. Und sie bringen es auf einem schönen, schönen Tablett, mit einem Apfel im Maul. Gerade als er den ersten Bissen nehmen will, kommt Goldberg, der Präsident seiner Gemeinde, herein.
Goldberg sagt: "Rabbi! Was machst du da, was isst du da?"
Der Rabbi sagt: "Goldberg, ist dieses Restaurant nicht unglaublich? Ich bestelle einen Bratapfel und so servieren sie ihn mir."

Die Lehre, die Botschaft, die Evidenz, die Debatte, die Conclusio,  Weisheit in der Erinnerung?

Ernies Keckern,
Berts Gegrummel,
Kermits Froschmaul,
Graf Zahl,
der Buchstabenschmuggler
im Trenchcoat.
Dieser Rabbi mit dem Apfel.

Seien wir keine Griesgrame.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (21.05.21)
Und ob ich schon einmal einen Wegweiser gesehen hätte, der in die Richtung läuft, in die er weist.
Das ist ein berühmtes Zitat von Max Scheler, eine Antwort auf die Vorhaltungen des Kölner Kardinals ob seines notorischen Sexualverhaltens und die Frage, wie er das mit seinem Status als Ethiker vereinbaren könne.

 Willibald meinte dazu am 22.05.21:
Wahrlich.
Ethiker mögen keine Heiligen oder Moralapostel sein, aber dafür können sie ihre Sünden sehr geschmeidig rechtfertigen. Der Kardinal hat das sicher zu würdigen gewusst?

 Willibald antwortete darauf am 23.05.21:
An
Soshura, minimum und LARK_SABOTA ein gratias für die Empfehlung.
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