Probleme? Petronius Arbiter weiß Rat: (6) Eurovision Song Contest, schlechter Geschmack? Tun Sie bitte nicht so, als würde Sie das nicht interessieren.

Glosse

von  Willibald

Suzanne Bürgli schreibt:

Ich bin Schweizerin, habe meine Schul- und  Jugendzeit in London verbracht und  lebe nun in Brüssel und mache meinen Doktor in Wirtschaftswissenschaften.  Im Moment arbeite ich mich gerade in das Thema „Interkulturelle Diskurse“ ein.  Ein spannendes Wissenschaftsterrain. Es geht um kulturelle Unterschiede, deren Berücksichtigung und um Gemeinsamkeiten  in den moralischen und ästhetischen Normen unterschiedlicher Kulturen, wie etwa England, Belgien, Niederlande, Italien, Malta, Russland, Frankreich, Schweiz und, und, und.
Also  habe mich am 22. Mai 2021 vor den Fernseher gesetzt: Eurovision Song Contest. Songs, Akzeptanz, Abstimmungsverhalten von Jurys und Publikum.


James Newman

Mir fällt es bei aller Skepsis gegenüber meinen englischen Freunden  immer noch schwer, die hiesige Mentalität oder auch die der Europäer richtig einzuschätzen oder zu verstehen. Ich vermutete vor dem Wettbewerb, dass James Newman, der preisgekrönte britische Songwriter,  eine Chance hätte, da sein Pop-Song „Embers“ (glühende Kohlen) einen Kontrast zu der Schwemme an schwermütigen Balladen aus anderen Nationen bilden würde. Er sang davon, dass aus glühender Asche ein Feuer zwischen Liebenden auflodert, das den bisher dunklen Raum erhellt.

„Out of the embers
There's a fire burning for you
You and I are gonna light up the room"

Publikumsresonanz? Es war eine Demütigung. James wurde Letzter mit Null Punkten, hinter Germany mit drei Punkten. Umso demütigender als nun wirklich unmögliche Songs auf der Bühne präsentiert wurden. Wenn ich es richtig verstanden habe, sangen die Aserbaidschaner über eine holländische exotische Tänzerin, die von den Franzosen hingerichtet wurde, weil sie verdächtigt wurde, eine deutsche Spionin während des Ersten Weltkriegs zu sein, dann gab es diesen  bleichblonden Deutschen in pinkfarbenen Sakko, der  mit einer riesigen Hand auf der Bühne tanzte und dabei ab und zu eine Ukulele in die Luft warf. Und eine Französin rief etwa 70 mal „Voila“.

Ich weiß natürlich, dass über den Geschmack nicht zu streiten ist. Aber beunruhigend ist es schon, dass nach dem Brexit offenbar wirklich der Sinn für bodennahe Songs in Europa verloren gegangen ist, wenn er denn jemals da war.



Petronius Arbiter schreibt:

Sie sehen offensichtlich massive Geschmacksunterschiede zwischen den Vertretern verschiedener Kulturen. Diskrepanzen gravierender Art, fast unerklärlich und wohl auch unüberwindbar. Nun, gemach, da gibt es schon einiges zu bereden, das Verbissenheit lockert und überhaupt entdramatisieren kann. Ein Blick in die Geschichte des ESC mag dabei hilfreich sein. Und ja, die Sendung ist ein popkulturelles Ereignis. Mit einiger Aufschlusskraft  hinsichtlich Tiefen und Untiefen  der europäischen und transeuropäischen Publikumsmentalität, samt ihrer Varianten, ach was, vor allem ihrer Varianten.

1963 - so erinnert sich mein Großvater - fand der ESC in London statt. Der Brite Ronnie Carroll hatte in den englischen Single-Charts einen Hit mit „"Say Wonderful Things to Me". Carroll hatte im Umfeld drei Backgroundsängerinnen platziert, die ihn während der dreiminütigen Performance anschmachteten. Er erinnerte meinen Großvater an einen  Piloten  mit seinen Stewardessen, die alle heimlich in ihn verliebt sind. Das Lied rät dazu,  wunderbare Sachen zu sagen, zum Beispiel. "I love you". Am Ende des Auftritts gab ihm eine der Damen sogar einen Kuss auf die Wange, gefolgt von einem quälend langen Lächeln.

In die gleiche Veranstaltung hatten die Niederländer eine ihrer beliebtesten Sängerinnen, Annie Palmen, gesandt. Sie sang ein Lied über eine Spieluhr "En Speeldos". Der Text handelt von der Liebe zwischen einem Hirten und einer Hirtin, die Figuren auf einer Spieluhr sind und nur durch das Eingreifen einer Fee näher zusammenrücken und ein Paar werden können. Palmen trug das Lied also vor, in ihrer Nähe eine Spieluhr mit zwei Figuren, die  den „plot“ ihres Liedes zu visualisieren hatten. Die europäischen Juroren waren davon überhaupt nicht beeindruckt: Die Niederlande verließen London ohne einen einzigen Punkt und wurden zum ersten Land mit zwei "Null-Punkte"-Ergebnissen - in Folge.

Was uns das sagt? Nun vielleicht ist das eine Antwort zum Meditieren, an dessen Ende das Lächeln steht, humorvolle Selbstironie ohne aggressive Ausgrenzung des angeblich "ganz Anderen".  Mein Großvater wuchs als fantasievoller, aufmerksamer, verschmitzter, respektloser und relativ wortgewandter junger Mann auf - ein bisschen ein Schwätzer mit der Gabe des Plapperns -, der gerne alle Ironien des Lebens umarmte, anstatt sich davor zu verstecken, und der sich selbst als Atheist bezeichnete. Allerdings sagte er manchmal sehr ernsthaft:" Gott sei Dank! Ich glaube wirklich und tief", fuhr er fort, "dass es beim Humor nicht so sehr darum geht, über andere Menschen zu lachen, sondern über das, was man selbst tut und wie man reagiert.

Zu dem Thema „Interkulturelle Diskurse“ habe ich übrigens, nun ja, einen „heißen"  Buchtipp, nämlich:
Jennifer Aaker, Naomi Bagdonas: Humour, Seriously. Why humour is a Superpower and Work and in Life, Penguin Random House, 2020 (UK).

 ESC 1963, Spieluhr ab Minute 12

Bastian Brand kommentiert:
Mir scheint das Siegerlied durchaus bemerkenswert: "Zitti e Buoni", übersetzt "die Leisen und Braven",  Damino David , nackter, tätowierter Oberkörper, schüttelt die langen Haare, David steckt die Zunge wild heraus, wedelt damit  lasziv hin und her. Das ist das Glam-Rock-Format der italienischen Band Måneskin, Måneskin, das ist Dänisch für „Mondlicht“. Das  rockt. Ohne Wenn und Aber.

Sebastian Grießler
@ Brand: Die nackerten Oberkörper so grauslich und die Zunge rausschütteln....das gefällt?

Bastian Brand kommentiert:
@ Grießler
Besser auf alle Fälle als die "Nackerten", die in den Schwimmbädern ihren Schwartenstau zur Schau stellen und ihre eingebauten Schwimmringe "rausschütteln".

Conny Schüssler  kommentiert:
@ Petronius Arbiter
Um ehrlich zu sein, hab' ich mir aufgrund des Artikels, der „Glosse“,  den Auftritt  der Italiener angesehen. Wenn der Sänger meinte "Rock n' Roll never dies“, hat er recht. Allerdings, was diese Generation unter Rock n' Roll versteht, ist dann Lärm machen, keine Stimme haben und Grimassen schneiden! Das war eine Beschämung für Rock n' Roll!

Bärbel Sinnecke  kommentiert:
@ Petronius Arbiter
Habe heute im Radio das Lied gehört. Das ist ja fürchterlich. Zum Glück habe ich das nicht gesehen gehabt.

Gerhard Weber aus Wien kommentiert:
@Petronius Arbiter
Der am lautesten beim Singen plärrt und ins närrischste Gwandl hupft, der  hat die meisten Chancen, einen ESC-Sieg einfahren zu können. Die letzte wirklich große Siegerin mit einem tollen Lied war Nicole. Aber das liegt Jahrzehnte zurück. Sorry!

Carla Krautner aus Wien  kommentiert:
Die Nicole weiß ich noch. Aber Ich habe mir gestern auf you tube den Beitrag von Thomas Forster von 1989 angeschaut. War der lieb und fesch in seinem lila Anzug und singen konnte er auch gut!
Der hätte damals gewinnen sollen.

Thomas Forstner!

Damit morgen früh die Sonne wieder scheint
Und es Tränen nur noch gibt, wenn man sich freut
Damit jedes Kind noch Hoffnung haben kann
Auf ein Leben ohne Kriege, ohne Angst
Dafür lohnt es sich, ein Träumer zu sein

Ich singe nur ein Lied heut’ Nacht
Ein Lied, das uns zu Freunden macht
Ich singe nur ein Lied und weiß
Mit jedem Wort zerbricht das Eis

Damit keiner mehr allein im Dunkeln steht
Und sie wiederkommt, die Liebe auf der Welt
Damit jeder Mensch in Freiheit leben kann
Und die Waffen werden Blumen irgendwann
Dafür lohnt es sich, ein Träumer zu sein

 ESC 1989, Forstner



Dieter Rotmund  kommentiert:
@alle
Der ESC ist ja eine Ausscheidung. Im wahrsten Sinne des Wortes. Also was habt ihr erwartet?

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Kommentare zu diesem Text

Palytarol (59)
(23.05.21)
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 Willibald meinte dazu am 24.05.21:
No,ja wir Österreicher hatte ein tolles Lied und Vincent hat zum Schluss geweint, weil er an seine verstorbene Tochter gedacht hat.. Das Staging war super und der Text war für jene ,die einen geliebten Menschen verloren haben und dass es am Ende ein Licht aus dem Tunnel gibt... Können aber nur Menschen verstehen, die Englisch können ...

Wir haben auch einmal gewonnen. Die Conchita-Wurst hat da gewonnen, obwohl mir dabei nur ein Satz einfällt. "So sind wir nicht!"

Carla Krautner aus Wien

 Willibald antwortete darauf am 24.05.21:
Salute, Paly,

danke für die 10 bis 12 Punkte und ein cooles Beispiel britischen Humors:

When the English meet somebody who doesn’t actually speak English so well, the only way they seem able to reason it out is to work on the premise that he’s deaf!
Say they meet a German:
‘You want to go where? Well, you just go down the road. DOWN. You go DOWN. GO DOWN THE ROAD! Come on – YOU FOUND BLOODY POLAND EASILY ENOUGH DIDN’T YOU?’

vale
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