Das Kind

Kurzprosa

von  BeBa

Der Mann steht am Fenster, die Kaffeetasse in der Hand. Pulverkaffee, denn das Fauchen der Kaffeemaschine wollte er vermeiden. Er bewegt sich bewusst leise in der Wohnung. Das Kind soll noch schlafen. Er hat es gestern Abend erst spät vom Nachbarn abgeholt und als schlafendes Bündel nach Hause getragen.

Es ist kurz vor halb acht, der Bus kommt vorbei, mit dem er morgens ins Büro fährt. Heute nicht, heute ist anders. Nur das Wetter wird wieder sonnig und heiß wie in den letzten Tagen. Der Bus biegt um die Ecke, auf der gegenüberliegenden Straßenseite fährt der Erdgeschoss-Lehmann soeben das Dach seines BMW-Cabrios ein. Der Mann erinnert sich an die Morgen, an denen er am Fenster gestanden und auf dieses Cabrio geschaut hat. Sie hat ihm die Kaffeetasse gereicht, „Und du hast mich!“ geflüstert und ihm einen Kuss gegeben.
Lehmann fährt los.

Dann steht das Kind hinter ihm in der Küche, verschlafen reibt es sich die Augen. „So klein, sechs Jahre und ganz ahnungslos“, denkt der Mann.
„Hast du Hunger?“, fragt er.
Das Kind nickt und er atmet auf. Füllt die kleine Müslischale mit den Lieblingsflakes.
„Kalte Milch?“, fragt er und weiß, dass es nicken wird.
Das Kind nickt und er schüttet vorsichtig kalte Milch über die Flakes, stellt die Schale auf den Küchentisch.

Der Mann schaut zu, wie das Kind zufrieden sein Frühstück löffelt. „Ich muss es ihm heute sagen!“, denkt er.
Darüber hat er sich die ganze Nacht Gedanken gemacht und ist am Morgen ohne Lösung aufgewacht.
„Wenn du fertig bist, gehen wir raus“, erklärt er dem Kind.
„Musst du heute nicht arbeiten?“, fragt es zurück und er schüttelt den Kopf.
Das Kind nimmt die leere Schale und räumt sie in die Spülmaschine. Das hat sie ihm beigebracht.

„Wann kommt Mama?“, hat das Kind am ersten Abend gefragt und er hat „Bald!“ gesagt. Es fragte wieder, er blieb beim „Bald!“. Dann kamen keine Fragen mehr.

Bis jetzt nicht, kurz vor Mittag.
Weit haben sie es nicht mehr. Das Kind war noch nie auf einem Friedhof, schaut sich neugierig um. Der Mann spürt, wie sich die Kinderaugen immer mal wieder auf ihn richten. Er nimmt diese kleine Hand, die seine sucht.

Dann der Erdhügel mit all den Blumenkränzen und letzten Grüßen.

Mann und Kind stehen da, Hand in Hand. Und er weiß nicht, wie er es sagen soll. „Wenn du jetzt da wärst“, denkt er, „du würdest mir helfen.

„Papa?“, hört er ihr Kind neben sich.
„Ja, mein Schatz?“
„Mama kommt nicht mehr zurück.“




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Kommentare zu diesem Text


 Létranger (04.02.22, 08:44)
Sehr gefühlvoll erzählt.

LG Lé.

 BeBa meinte dazu am 04.02.22 um 23:19:
Vielen Dank, Lé. Freut mich, dass es gefällt.

LG
BeBa

 monalisa (04.02.22, 08:53)
Hallo Beba,
das titelgebende KIND bekommt keinen Namen, weil es wohl für viele Kinder steht und für deren intuitive Weisheit.

Die Dramaturgie deiner Geschichte ist sehr gekonnt und führt von der vagen Vorahnung zur traurigen Gewissheit. Berührend ist sie vor allem deshalb, weil sie sachlich bleibt und eben nicht auf die Tränendrüse drückt.

Verlust und Trauer sind Realität auch in Kinderleben und sie verstehen mehr als Erwachsene ihnen häufig zutrauen.

Liebe Grüße
mona

 GastIltis (04.02.22, 11:41)
Sehr ergreifend! Gil.

 BeBa antwortete darauf am 04.02.22 um 23:20:
Danke dir, GiL.  ;)

 Dieter_Rotmund (04.02.22, 15:05)
Neee, sorry, Beba, aber das ist, nüchtern betrachtet, schon nicht mehr nur sentimental, das ist reiner Gefühlskitsch. Ich weiß das, ich habe ähnlich wie deine namenlose Figur, ebenfalls etwa in diesem Alter einen Elternteil verloren.

 BeBa schrieb daraufhin am 04.02.22 um 23:23:
Hallo Dieter,

kann man so sehen. Und ganz ehrlich, ich hatte mehr solcher Kritiken erwartet. Man muss auch mal etwas anderes wagen, und wenn am Kitsch schrammt, dann muss man auch das akzeptieren. Und ich akzeptiere deine Kritik völlig.

LG
BeBa

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 05.02.22 um 09:32:
Ich verstehe.
Der Satz "Das Kind nickt und er schüttet vorsichtig kalte Milch über die Flakes, stellt die Schale auf den Küchentisch." ist gut, weil er einfach nur beschreibt, ganz ohne Pathos.
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