Todsünden

Kurzgeschichte zum Thema Glaube

von  RainerMScholz

2WmX5AAAAAElFTkSuQmCC



Nichts ergab auf irgendeine Weise einen Sinn.

Rubie lancierte zwischen menschenüberfüllten Straßen und empfand keinerlei Verständnis für das, was sie taten, was alle taten, oder glaubten zu tun, oder was sie fühlten und dachten – wenn sie dachten -, oder was die verstümmelten maskierten entseelten Gesichter ihm hätten sagen können, wenn es denn aus ihnen spräche: Sie taten es so gut wie nie, und vielleicht hatten sie soviel verloren wie er, dass sie nie sprachen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte es gar nichts gegeben. Gab es auch nie. Es war schon alles gesagt. Überall und zu jeder Zeit das glitzernde schreiende Licht, die leeren Fassaden, die toten Winkel. Unablässige Geräuschkulissen wie Brandungswellen, wie leise Hilferufe auf einer rückwärts sich drehenden Schallplatte, geheime Botschaften, unverständlich und verzerrt, doch immanent paranoische Bewegungszustände evozierend. Dann die automatisierte Lebensprostitution, die niemals hielt, was sie versprach, das falsche Lächeln, zähnebleckend und mörderisch wie Hyänenlachen, Lefzen hochgefräst in porzellanene Wangenknochen, zum Zuschnappen, Zerreißen bereit, rosafarbene Haut über Fratzen, geifernde Hauer, blitzende Reißzähne gespannt rasiermesserscharf. Drogen, Schönheitskuren, Katalogmoden und schwule Friseure kaschieren, übertünschen die immense Bewusstlosigkeit und Starre. Teurer Schnickschnack, Glasperlen, unwirksame Psychotherapien und das nachempfundene Wissen um die eigene Wichtigkeit tarnen die nackte Angst und Verzweiflung, die in dunklen Stunden lauert, undefinierbar, brutal und wirklich.

Im Grunde fühlte er nichts. Rubie hatte vergessen, wie es ist, Gefühle zu empfinden, nur die kalte Berechnung, die nötig ist, um Menschen aus dem Weg zu gehen, nicht gesehen zu werden, aus der Wahrnehmung der Welt zu verschwinden.

Die nackte Haut, die das Nichts verhüllt, das bloße Fleisch der Demütigung und Entwürdigung, der Scham eines Pappmachékörpers, die entsetzliche, nie gestillte, mörderische Gier nach Leben unter einer wächsernen Plastikschicht aus verratenen Träumen. Rubie hatte aufgehört verstehen zu wollen, hatte an einem bestimmten Punkt dieser Geschichte vergessen, dass die Pest die Zeit der Ratten und des Mülls ist, hatte den Anschluss verloren und sah keine Veranlassung, die Fäden weiter in Händen zu halten. Wozu auch, wenn die Welt, wie wir sie kannten, längst untergegangen war. Wenn alles der Gleichgültigkeit überantwortet worden ist. Wenn Krieg Frieden ist, wenn Ausbeutung der Preis für Glück und Zufriedenheit ist und der Tod ein zynisches Grinsen in der Hydra Gottes.

So pendelte sich für Rubie alles in einer zerbrechlichen imaginären Mitte der Selbstaufgabe ein. Alles ist sinnlos. Vertrauen ist eine eisgekühlte Flasche Wodka. Die Wahrheit kommt aus einem Revolverlauf und Glück ist ein buntes, mit Zahlen bedrucktes Stück Papier aus einem Bankautomaten.

Die Sonne ging im Smognebel unbemerkt unter. Rubie ging nach Hause, um sich zu betrinken.

Das fahle Licht des großen weißen Kühlschranks bot in der Dunkelheit ein beruhigendes, melancholisches Echo des Blau der Silhouette der Stadt da draußen.

Er legte eine Kassette Nine Inch Nails ein, die sein Denken wie ein Presslufthammer zerstäubte und starrte in die leere Wand. Das blaue Neon sickerte in seine Augen und er vergaß.

Rubie wollte niemandem den Gefallen tun, einfach aufzugeben, wollte nicht still und leise abtreten und aufhören zu existieren, also blieb der Strick unten im Schrank, wo auch seine Emotionen lagerten. Im übrigen gab es auch keinen Menschen, der sich dafür interessiert hätte. Er hatte alle Beziehungen abgebrochen, seine besten Freunde waren tot, machten Karriere oder hingen an der Nadel. Was auf dasselbe hinaus lief. Rubie war unumstrittener Gott in seinem Universum. Das Stampfen des Basses aus den hohen, schwarzen Lautsprecherboxen beruhigte seine Nerven und ließ etwaige Zweifel verschwinden. Der nahezu denaturierte Alkohol gaukelte ihm die Wärme ins Herz der Fickt euch-alle-Matrix. Rubie vergisst, was den Anschein von Bedeutung besitzt, verliert den Sinn, kennt keinen Zusammenhang mehr, der noch irgend zählen würde.


Rubie starrt die Frau an, als sei sie eine unwirkliche Erscheinung.

"Was ist denn jetzt, Du Penner. Willst Du jetzt ficken oder was ist los mit Dir? Draußen warten noch mehr Kunden auf mich und meine Muschi."

Sie spreizt die Beine und entblößt ihre Genitalien, den seifigen Lederslip hat sie bereits abgestreift. Rubie kann sich nicht rühren, blickt wie gebannt auf ihre nutzgewohnte, weite Scheide. Es ist zu lächerlich. Was macht sie nur, und wozu? Für Geld? Das kann doch nicht alles sein. Und was mache ich hier. Mit ihr.

"Ist schon gut. Ich gehe wieder."

"Nein, so schnell nicht, Freier!"

Unter der obszönen Schicht verbrauchter Schminke sieht sie sehr alt aus, und auf eine bizarre Weise grazil, hübsch beinahe. Naja.

"Ich will mein Geld sehen. Du musst zahlen."

"Wieso denn? Ich habe nichts gemacht."

"Natürlich nicht, Du abgefuckter Wichser,", sie kreischt, "Du kannst wohl auch nicht."

"Ja, sieht so aus."

"Gib mir mein Geld.“

Sie springt auf und greift in seinen Schritt.

"Raus mit der Kohle, mein Junge!"

Rubie springt zurück und schlägt ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Hure fällt auf das verschmutzte, fleckige Bett zurück und heult auf. Ein unbändiger Zorn über diese entwürdigende, hilflose Situation erfasst ihn. Doch es ist allein seine Schuld und er resigniert. Das billige rote Neonlicht lässt ihn allmählich kaltblütig erblinden, die erdrückende Hitze schält die Haut vom Körper, treibt klebrigen Schweiß auf seine Stirn.

Halt den Mund, hör auf zu schreien, bitte. Hier ist Dein Geld.“

Er wirft ihr die Scheine hin, geht still zur Tür, drückt die abgenutzte Klinke hinunter und geht in das grelle Licht des Flurs hinaus. Hinter der Tür wimmert die Prostituierte Schimpfworte, die ihn betreffen. Ein breitnackiger Mann, ein Kunde, drängt sich an ihm vorbei in das dunkle Zimmer. Das Schloss schnappt ein, und Rubie wartet noch eine Weile in einer Nische des hohlen Treppenauftiegs, bis er ihn schnaufen und ächzen hört, das fleischige Aufeinanderklatschen der Körper, das Schieben und Knarren des Bettes, die sexuelle Wut und gewalttätige phallische Macht und das Ineinanderkrallen von Lust und Schmerz. Er dreht sich um und tritt auf den regennassen, bläulich schimmernden Asphalt. In der ersten Etage schreit die Hure schrill aus dem roten Licht. Irgendjemand bezahlt.


Da ist diese kleine, in sich zusammengesunkene Kirche. Rubie beschließt einzutreten und der Stille eine kurze Weile zuzuhören. Durch die bleigefassten bunten Glasfenster fällt gebrochenes Licht ein und sprenkelt sein Gesicht rot und grün und violett. Sankt Martin ist erstarrt in der Geste des Zerteilens seines Mantels für den Bettler, der erbarmungswürdig zu der tot blickenden Gestalt auf dem Pferd emporschaut. Rubie setzt sich auf eine abgewetzte knarrende Holzbank und beachtet den in Glas geschmolzenen Heiligen nicht länger, sieht gedankenverloren in das hohe gewölbte Kirchenschiff. Der marmorne, goldverzierte Altar steht wie in weite Ferne gerückt vor dem Tabernakel im diffusen weihrauchgesättigten Dämmerlicht. Devote Marienbilder, auf denen die Gottesmutter mit jungfräulicher Debilität beseelt und verrenktem Hals an eine Wölkchendecke starrt. Halbnackte Männer, die Pfeile in sich stecken haben, mit einem dankbaren Gesichtsausdruck, fette Männer in braunen Roben und einem gelben Kranz um die Stirn, tanzende Skelettmänner mit großen schwingenden Sicheln, kleine, rundliche Kinder die aus unerfindlichen Gründen in der Luft zu hängen scheinen, Männer in Rüstungen mit riesigen blankgezogenen Schwertern, die sich windende grinsende Insekten unter ihren Füßen zertreten. Wer interessierte sich noch für die Namen von Heiligen, Märtyrern, Engeln und Teufeln, und für das zweifelhafte Sakrileg, Gott zu fragen, weshalb er uns verlassen habe. Auf dem Ölberg werden Kriege um Wasser und Olivenhaine geführt, und niemand fragt nach den Toten. Rubie nimmt eine zaghafte, in sanften Kerzenschein getauchte Bewegung am rechten Rand unter den Säulenbögen wahr, wo die Beichtstühle stehen. Behutsam tastet er sich näher. Der Beichtvater hat gerade seine Kabine betreten und den schweren Stoffvorhang zugezogen. Drei ältere, in Schwarz gekleidete Frauen harren wie versteinert ihrer Erlösung. Rubie wartet geduldig, bis sie ihre Beichte geflüstert haben. Wispern und Raunen. Er betritt die Sünderseite des Beichtstuhls.

"Vater vergib mir, denn ich habe gesündigt."

"Bekenne Deine Sünden offen und Gott wird Dir vergeben."

"Das mag sein, Pater."

"Wann war Deine letzte Beichte, mein Sohn?"

"Pater, ich bin nicht ihr Sohn. Meine letzte Beichte liegt wohl dreißig Jahre zurück oder länger. Das ist völlig gleichgültig, verstehen Sie?

Ich sage Ihnen, ich habe die Sünde der Blindheit begangen. Ich war blind und konnte doch sehen."

"Ich verstehe nicht ganz."

"Pater, können sie mir das nicht erklären, weshalb ich diese Leere spüre, diese Leere in mir und noch mehr in der Welt dort draußen?

Pater, können sie das?

Haben Sie sich nie gefragt, ob Gott nicht längst auf uns geschissen hat, dass er uns vergessen haben könnte? Uns vergessen."

"Das sind keine wohlfeilen Reden. Ich glaube, dass das Sakrament der Beichte nicht der Ort ist, um solche Fragen zu erörtern."

"Denken Sie, Gott ist gekommen, mich zu prüfen? Du Arschloch, glaubst Du nicht, dass ich genauso gut 'rausgehen könnte, um wahllos Menschen zu töten? Sie vor ihren Gott zu bringen?"

Rubies Stimme ist zu einem Schreien geworden, von dem das Schweigen der Kirche widerhallt. Pures Sonnenlicht fällt durch das Eingangsportal, zeichnet feine Staublinien über den Steinboden.

"Verlassen Sie den Beichtstuhl! Sofort! Gehen Sie! Ihre Beichte ist beendet."

Die Stimme des Priesters ist ein Zischen, überschlägt sich vor kaum verhohlenem Zorn.

"Ja, Pater. Ich gehe. Und sie gehen mit. Denn ich komme jetzt, sie zu holen. Um meinen Verstand zu behalten. Meine Seele, Pater."

Rubie tritt aus dem holzgetäfelten Verschlag, schiebt den Vorhang zur Kabine des Beichtvaters zur Seite und zerrt ihn heraus.

"Bitte, was wollen Sie?"

"Eine Antwort. Gerechtigkeit. Die Wahrheit, Pater. Ich will, dass sie die Wahrheit sagen."

"Aber welche Wahrheit?"

"Meine ! Meine!!"

Rubie zieht das Messer aus dem Holster, das in die Innenjacke genäht ist.

Der Mann in der schwarzen Robe ist untersetzt, kahl, wohl Ende fünfzig Jahre alt. Er starrt Rubie entsetzt und verständnislos an. Seine fleischigen Wangen zittern, er liegt auf den Knien. Rubie sieht ihn ausdruckslos an, legt das Messer an seinen Hals und macht einen kruden Schnitt. Das Blut sprudelt in einem Strahl auf den Boden, der Priester fasst sich mit einer ungläubigen Geste an die klaffende Wunde an seiner Kehle, stürzt vornüber und bleibt zuckend in seiner Blutlache liegen. Eine alte Frau in Schwarz blickt kurz auf, sieht mit abgewandtem Blick die Szene des Mordes und senkt wieder den Kopf, faltet die knochigen Hände, schweigt.

Es ist außerordentlich still und ruhig. Die Welt bewegt sich außerhalb dieses Raumes weiter.


Rubie steckt das Messer ein, sieht sich um. In seinem Gesicht bewegt sich kein Muskel. Er sieht die Frau lange an, wendet sich ab und geht auf die schweren Eichentüren zu. Er tritt in das Sonnenlicht.





Rainer M. Scholz



Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Adrian (47)
(12.02.22, 02:36)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 RainerMScholz meinte dazu am 15.02.22 um 14:54:
Vielen Dank.
Grüße,
R.

 mannemvorne (16.02.22, 02:24)
°

"Eine alte Frau in Schwarz blickt kurz auf, sieht mit abgewandtem Blick die Szene...."

°
feine Sache!
Gruß
mv
°

 RainerMScholz antwortete darauf am 20.02.22 um 15:44:
...sieht die Szene
und die Beene
von dem Knilch,
der den Pfarrer grad absticht
und durch die Hintertür entwischt.
Gruß + Dank,
R.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram