Taubengift

Märchen zum Thema Andere Welten

von  RainerMScholz

Der nackt und barfuß durch den Wald rennt. Der samtige Moosboden unter ihm, die gründunklen Kronen der Bäume der Höhe, die ehernen Wurzeln, die das Schimmern bannen.

Die Hexenmenschen, die Wolfsmenschen, die Boarmenschen, und alle grüßen die gelbe Sonne und den blauen Himmel, durch den weiße Schiffe segeln ohne Weg und Ziel.

Nur vor den grellen Grenzen schrecke ich zurück. Dort, jenseits der Welt, wohnen die Anderen, die Toten, die in ihren zementenen Bauten hausen, in ihren metallenen Vehikeln und in der Tiefe ihrer Selbst wohnen und nicht wissen, was das sei, dieses Ich, dieses Selbst, dieses Mein. Ich schaue und blicke; und dann kehre ich zurück unter das grüne Dach in die lebendige Welt, in die Traumzeit, in das pulsierende Hier und Jetzt. Und dies ferne Echo, der Donner, verhallt im Nirgendwo, der Lärm, das Tosen und Wüten, es verstummt unter den Blitzen, den schwarzen Wolken, im Rachen der Ungeheuer, die aus ihren Köpfen kriechen. Sie haben ihre Herzen geleert und so sehen ihre Leben nun aus.

Mir leuchten die Pfade im Schimmer des Wissens um diese Welt, dieses Sein, das helle Singen, der tiefe, scheinbar unhörbare Ton aus dem Innern, der alles und jeden zu geheimem Tanz fordert, klingt an meinen Saiten; über meine Zunge fließt das quickrige Silber; meine Füße berühren sanft das Moos der reinsten Ewigkeit; alle Wesen des Lichts lächeln mir zu und ich streichele sie und liebkose sie und ich liebe sie alle.

Hinter uns speit der Himmel ein Tausendfeuer und die Verkohlten herrschen über einen Abgrund aus Asche.



© Rainer M. Scholz



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (06.05.22, 15:30)
Ein schöner Text ist dir da gelungen, aus einer Bewusstseinstiefe, die sich offenbaren muss, um der Menschheit Erlösung zu bringen. "Lasst die Toten ihre Toten begraben" ist ein Jesuswort.

 RainerMScholz meinte dazu am 06.05.22 um 22:21:
Wusste ich nicht. Wo steht das Jesuswort? Das ist ja gewaltig. Besser als Bukowski, was ich nicht erwartet hätte.
Grüße,
R.

Antwort geändert am 06.05.2022 um 22:29 Uhr

 Quoth (06.05.22, 16:03)
Hallo Rainer M. Scholz, eine schöne Umkehrung von scheinbar Normal, sinnentleert, und scheinbar Märchenhaft, schön und sinnhaft.
Deutlicher würde mir diese Umkehrung noch, wenn es hieße, die anderen wohnten "in der Tiefe ihrer Verlorenheit" - statt "in der Tiefe ihrer Selbst", denn das Ich und Selbst und Mein werden ja im Folgenden gerade als sinnhaft apostrophiert.
Ein zu entschlüsselnder Text! Gruß Quoth

 RainerMScholz antwortete darauf am 06.05.22 um 22:23:
Ja, dient anscheinend zur Verdeutlichung. Was weiß ich schon über den eigenen Text.
Das Ich und das Selbst und das Mein werden nicht als sinnhaft "apostrophiert", im Gegenteil, als katastrophal im Hinblick auf die Tausendsonne.
Gruß + Dank,
R.

Antwort geändert am 06.05.2022 um 22:28 Uhr

 Thal (06.05.22, 16:35)
Ist schön da, nichtwahr?
Aber sorry, keine Zeit heute.

 RainerMScholz schrieb daraufhin am 06.05.22 um 22:24:
Vielleicht das nächste Mal. Du bist willkommen in diesem zeitweiligen Eskapismus.
Grüße
R.

Antwort geändert am 06.05.2022 um 22:36 Uhr
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