ALINA
Erzählung
von uwesch
Vorwort
Die Personen:
Hannes geb. 1907
Ehefrau Hilde, geb. 1913, gest. 1966
Vater Paul geb. 1887, gest. 1967
Mutter Elisabeth geb. 1889, gest. 1960
Schwester Christine geb. 1930, gest. 1969
Alina, Tochter von Christine, geb. 1969
Die Erzählung beginnt im Jahr 1969 bei der Geburt von Alina. Hannes wohnt in Bremen, ist gerade vorzeitig in Rente gegangen, trägt eine Lesebrille und ist nicht mehr gut zu Fuß. Er kann zwar noch ohne Stock gehen, aber es schmerzt in der Hüfte. Seine 23 Jahre jüngere Schwester, ein ungeplanter Nachkömmling, wohnt in der Großstadt Hamburg. Sie ist Lehrerin und besitzt eine Eigentumswohnung in Eimsbüttel nahe Hagenbecks Tierpark. Schon seit mehreren Jahren hat er sie nicht mehr gesehen und auch keinen sonstigen Kontakt gehabt.
Ihre Eltern haben beide Weltkriege überlebt. Mutter Elisabeth kam vor neun Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben und Vater Paul starb vor zwei Jahren nach seinem zweiten Herzinfarkt im Altersheim.
Inhaltsverzeichnis
1. Eine überraschende Nachricht
2. Der Beschluss
3. Die ersten Wochen mit dir
4. Zuordnungen
5. Das Problem mit dem Kinderwagen
6. Krabbeleien
7. Wort und Satz
8. Beruf und Berufung
9. Eine unruhige Nacht
10. Mütter, Väter und Großmütter
11. Besuch eines schwarzhaarigen Mannes
12. Befreiung ungesagter Worte
14. Ein Riesensatz
15. Nachwort
1. Eine überraschende Nachricht
Das Telefon klingelt. Ein Anruf aus der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Der Arzt am anderen Ende berichtet:
„Wir haben einen Zettel mit Ihrem Namen im Portemonnaie einer Frau Christine Müller gefunden. Sind Sie mit ihr verwandt?“
„Ja, ich bin ihr Bruder. Was ist denn mit ihr?“
„Sie hat vor einer Woche nach einer schwierigen Geburt ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht, ist aber danach leider gestorben. Der Vater ist unbekannt und es gibt keine Hinweise darauf, wer es sein könnte. Wir müssen das Baby in Absprache mit den Behörden zur Adoption frei geben und fragen zunächst, ob Sie bereit sind, es eventuell aufzunehmen?“
Hannes ist völlig überrascht und erschrocken ….
Nach einer langen Pause fragt der Arzt nach: „Was ist nun?“
„Darüber muss ich erst eine Nacht schlafen. Ich habe lange keinen Kontakt mit meiner Schwester gehabt.“
„Gut sagt der Arzt. Rufen Sie bitte im Verlauf des nächsten Morgens bei uns an.“
Hannes gehen tausend Gedanken in der schlaflosen Nacht durch den Kopf. Er bereute es in den letzten Jahren immer mal wieder, dass er das Verhältnis zu seiner Schwester nicht mehr gepflegt hat. Sie war stark in die 68er-Szene involviert und legte keinen Wert auf regelmäßige Kontakte mit ihm, sodass er es irgendwann einfach hat sein lassen.
Selbst hat er keine Kinder, weil seine frühere Frau Hilde, die vor drei Jahren an einer Brustkrebserkrankung starb, keine bekommen konnte. Nun wird ihm plötzlich das mutter- und vaterlose Baby seiner Schwester angeboten.
Am Morgen beschließt er nach Rücksprache mit dem Arzt zur Klinik in Hamburg zu fahren. Auf der Autobahn geht ihm durch den Kopf, wie er das in seinem fortgeschrittenen Alter packen soll. So ein kleines Wesen ohne praktische Erfahrung versorgen und ihm ein guter Vater sein. Auf der anderen Seite hat er sich immer ein Kind gewünscht.
Am Bett des Babys fällt ihm sofort ein Schild mit dem Namen Alina Müller, geboren am 17.8.69, ins Auge. Er fragt, ob die Mutter das Kind Alina nennen wollte. Die den Arzt begleitende Krankenschwester antwortet:
„Ja, so hat sie es gewollt.“
Er sagt: „Den Namen habe ich noch nie gehört, aber ich finde ihn schön.“
Sie ergänzt: „Ihrer Schwester war es wichtig, dem Kind einen Namen zu geben, der strahlt. Als Variante von Helena bedeutet Alina < strahlend > oder < leuchtend >.“
Vom Baby sind nur tiefschwarze Haare sichtbar. Hannes wundert sich, denn noch nie hat in ihrer Familie jemand schwarze Haare gehabt. Vermutlich hat sich der unbekannte Vater mit seinen Genen durchgesetzt. Vielleicht ist er ein schwarzhaariger Grieche. Der Vorname des Kindes könnte darauf hindeuten.
Die Schwester nimmt Alina vorsichtig aus dem Bett. Das Baby gähnt und öffnet kurz die blauschimmernden Augen. Die kleinen Händchen sind zu Fäustchen geballt. Die Schwester reicht Hannes das Baby, der es auf den Arm nimmt und sofort weiß, dass er das Kind für immer aufnehmen möchte.
Bei der anschließenden Besprechung im Dienstzimmer empfiehlt ihm der Arzt, sich die Hebamme, die seine Schwester unterstützt hat, zu kontakten. Diese könne ihm in der ersten Zeit hilfreich zur Seite stehen. Hannes ist erleichtert und lässt sich die Telefonnummer geben.
Abschließend gibt der Arzt noch folgende Sachinformationen:
„Alina wird die Wohnung Ihrer Schwester im Pantherstieg 5 erben. Ein Testament liegt nicht vor und sie ist ihr einziges Kind. Ich gebe Ihnen den Schlüssel, damit Sie sich dort umschauen können. Vermutlich hat Ihre Schwester das Zimmer für das Baby entsprechend eingerichtet. Die notwendigen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Adoption müssen Sie mit den Behörden regeln. Ich gebe Ihnen ein Kärtchen mit den Daten eines Anwalts, mit dem Sie alle Fragen klären können. Das Baby kann noch ein paar Tage bei uns bleiben, aber bitte nicht zu lange. Wir brauchen hier alle Betten.“
2. Der Beschluss
Alles, was jetzt für mich zählt, bist du, mein kleines Mädchen. Ich werde dir, wenn ich dich in den nächsten Tagen aus der Klinik geholt habe, am Abend frische Windeln anlegen und in den Schlaf singen. Dann ganz leise dein Zimmer aufräumen, damit du ungestört schlafen kannst, mich an den Schreibtisch setzen und diese erste Geschichte für dich zu Ende bringen. Ich habe nämlich überlegt, dass du dich später dafür interessieren wirst, was in deinen ersten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren geschehen ist. Deshalb werde ich Geschichten für dich schreiben. Wenn nach einigen Sommern und Wintern du zu einer schönen und klugen Frau herangewachsen bist, wie ich mir das heute vorstelle, dann wirst du eines Tages innehalten und fragen: „Wer bin ich?“ und die Geschichten lesen wollen, falls ich dann nicht mehr leben sollte. Wenn doch, kann ich sie dir vorlesen. Vorausgesetzt du möchtest das.
Ich könnte dir erzählen, warum wir denselben Nachnamen haben, obwohl ich nicht dein richtiger Vater bin. Aber das ist nicht wichtig. Bei unserem ersten Treffen im Krankenhaus spielte das keine wesentliche Rolle. Ich staunte nur. Ein kleines Bündel mit pechschwarzen Haaren, graublauen Augen und geballten Fäustchen wurde mir entgegen gehalten. Ich bin kein junger Mann mehr und habe mir mein ganzes Leben ein Kind gewünscht. Am liebsten ein Mädchen. Und plötzlich bist du da. Deine Mutter, die meine Schwester war, ist bei deiner schwierigen Geburt gestorben, weil sie zu spät ins Krankenhaus eingeliefert wurde und viel Blut verloren hat.
Wir werden in ein Haus in der Nähe von Hagenbecks Tierpark ziehen. Die Wohnung, in der wir dann leben, gehörte deiner Mutter und wird jetzt dein Heim. Dieses liegt im ersten Stock eines Hauses in der Jaguarstraße, einer ruhigen Nebenstraße, wo es mir sehr gefällt. Ich stelle mir vor, dass ich später von da aus bei schönem Wetter mit dir in der Kinderkarre zu Fuß nach Hagenbeck gehen kann. Fast alle Kinder mögen Tiere.
Deine Mutter hat ein Zimmer mit Wickeltisch und Gitterbettchen perfekt eingerichtet. Auf einer Kommode liegen ein paar Stoffwindeln, wie man sie früher hatte. Ich frage mich, warum das? Hat sie den Tick gehabt, alles so altmodisch zu handhaben, statt die praktischeren Wegwerfwindeln zu nutzen. Es hätte zu ihr gepasst. Was mich besonders erstaunt, ist die Dominanz von Blautönen. Tapeten, Babystrampler, Lampen – alles in Blau. Ich frage mich, ob sie einen Jungen erwartet oder sich gewünscht hat. Sich aber bewusst nicht bei der Frauenärztin vor der Geburt auf Geschlechtsfeststellung per Ultraschall hat untersuchen lassen? Auch das hätte zu ihr gepasst.
Von dem großen Balkon im ersten Stock kann ich in einen wunderbaren Garten schauen. In der linken Ecke sitzt die Stille und ich höre meinen Atem. Wenn ich nach rechts schaue, knackt es leicht in meinem Nacken, weil meine Wirbel nicht mehr ganz neu sind. Ich denke, dass es ein guter Ort für uns ist. Ich habe zwar gehört, dass manche Babys auch bei Lärm ungestört schlafen und träumen können, aber es gibt auch welche, die schon leiseste Geräusche auffangen, wie die des Hundes, der viele Häuser weiter bellt oder der tropfende Wasserhahn in der Küche.
Ich beschließe, in der Wohnung zu übernachten und rufe noch am Abend die empfohlene Hebamme an, die mich in den ersten Wochen mit dir unterstützen kann. Sie ist zuhause und erklärt sich bereit, am nächsten Morgen zu einer Besprechung in die Wohnung zu kommen.
Dann mache ich mir eine Liste, was im Hinblick auf die Beerdigung meiner Schwester Christine, deiner Mutter, und meinen Umzug nach Hamburg zu erledigen ist, die Wohnung in Bremen kündigen, ein Umzugsunternehmen suchen und Kontakt mit dem empfohlenen Anwalt aufnehmen. Ich werde mich von einigen Möbeln trennen müssen. Vor allem von den sehr alten und dunklen Familienstücken, die der Zeit nicht mehr angemessen sind. Ich wollte mich eigentlich schon länger davon verabschieden, mir etwas modernere Stücke kaufen. Für die überflüssigen Möbel werde ich einen Auktionator beauftragen, der diese versteigern kann. Ein paar neuere Stücke deiner Mutter, vor allem die Bücherregale und die Sofaecke werde ich stehen lassen. Die Kücheneinrichtung gefällt mir auch und ich werde nichts daran ändern.
3. Die ersten Wochen mit dir
Jetzt wohnen wir seit gut zwei Monaten zusammen. Maria, die sehr patente und verständnisvolle Hebamme, hat mir über die Anfänge geholfen. Wichtig sind die Temperatur der Milch und die Sterilität von Schnuller und Trinkflasche. Nach der Mahlzeit sollte ich ein Bäuerlein anregen, indem ich dich auf meinen rechten Arm nehme und sanft mit der linken Hand auf den Rücken klopfe, bis du einen kleiner Rülpser entlässt. Das klappt schon recht gut.
Sie hat mir auch erklärt, wie oft und wann ich die Windel wechseln sollte, damit du nicht wund wirst. Immer mal wieder schiebe ich einen Finger unter die Windel, um festzustellen, ob sich darin große Nässe befindet. Wenn ich das zulange hab schleifen lassen und die zarte Haut gelitten hat, schmiere ich dich mit einer Wundcreme ein.
Nach der Speisung – du nuckelst sehr eifrig, fast gierig - bist du sehr müde und ich lege dich vorsichtig ins Bett. Maria hat mir erläutert, dass es sicherer ist, dich auf den Bauch zu legen, vor allem wenn du unbeaufsichtigt bist und die aufgenommene Nahrung hochkommt. Dann besteht die Gefahr des Erstickens. Die glücklicherweise noch nicht entsorgten Stoffwindeln sind gut geeignet, unter deinen Kopf zu legen, um den Sabber aufzufangen, damit das Laken nicht dauernd ausgewechselt werden muss.
Du hältst deinen friedlichen Mittagsschlaf. Ich schaue aus dem Fenster und sehe dem Herbstwind zu, wie er die Blätter draußen von den Bäumen fegt und frage mich, wie deine Zukunft aussehen wird, wenn ich nicht mehr bin, du erwachsen geworden bist? Wie wird es sein, wenn du auf einer Versammlung oder einer Party bist? Was ist, wenn du dich umdrehst, um dir ein Getränk zu holen, oder den Raum verlässt, um auf die Toilette zu gehen? Steht den anderen Menschen im Raum nicht in den Augen:
< Das ist die, die aus dem Leib der Mutter kam und sie dann tot zurückließ >.
Oder vielleicht auch:
< Das ist die, die vom sehr viel älteren Onkel großgezogen wurde und ihn immer noch Papa nennt >.
Ohne dass sie es wissen, spürst du vielleicht, was sie sagen.
Wirst du ihnen weiterhin den Rücken zudrehen oder mit einem inneren Lächeln darüber hinweggehen? Ich weiß es nicht. Vielleicht sind es nur meine Herbstgedanken mit Blick auf die dunkle Jahreszeit und einen kalten Winter und alles wird für dich ganz anders.
Du schnorchelst still vor dich hin und ich gehe hinüber in das Wohnzimmer, setze mich an den Esstisch und schreibe diese Gedanken nieder. Bevor ich mir einen Kaffee koche, schleiche ich auf Zehenspitzen mit angehaltenem Atem noch einmal in dein Zimmer, um dir ganz nah zu sein. Ich beuge mich hinunter und atme den Duft deines jungen Lebens ein.
Beim Hinausgehen quietscht die Tür etwas, sodass ich sie ganz vorsichtig schließe, aber einen Spalt offen halte, damit ich dich höre, wenn du aufwachst. Ich ärgere mich, dass ich vergessen habe, etwas Schmieröl zu kaufen. Morgen werde ich das nachholen und die Scharniere ölen.
4. Zuordnungen
Du liegst im Zimmer nebenan und schläfst. In der Nacht stehe ich auf, um nach dir zu sehen, warum es so still ist, oder warum du schreist. Dann gehe ich zum Kühlschrank, um zu kontrollieren, ob genug Milch für deine Morgenmahlzeit da ist.
Weil ich danach schlecht wieder einschlafe, erzähle ich dir eine nächste Geschichte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich dir vielleicht eine andere erzählt. Ich hätte Tatsachen verdreht und das Erzählte sicher ausgeschmückt.
Doch, wenn ich in die Dunkelheit hinausblicke, die zu mir durch das Fenster auf der Gartenseite hineinschaut, sehe ich Bilder, die viele Jahre zurückliegen.
Es sind nur noch drei Tage zur Wintersonnenwende. Kurz danach erlebst du dein erstes Weihnachten. Aber davon wirst du noch nichts wirklich mitbekommen. Einen Weihnachtsbaum werde ich nicht kaufen. Später erkläre ich dir genauer, was es mit diesen Tagen auf sich hat. Nur so viel vorweg:
Die Nationalsozialisten belebten die altgermanischen Sonnenwendfeiern und machten sie zu offiziellen Feiertagen. Die damit verbundene Symbolik von < Volk, Blut und Boden > wurde insbesondere durch die SS gepflegt.
Weihnachten wird gefeiert, weil angeblich ein Christkind in Betlehem in einem Stall von der Mutter Maria geboren wurde. Auf dieser Geschichte, die in der Bibel erzählt wird, basiert die christliche Religion, die noch heute unsere Zeitrechnung und das Wertesystem dominiert. Der Wahrheitsgehalt der Geschichte ist umstritten, so wie das auch bei anderen Religionen der Fall ist.
Du bist dagegen ganz konkret da und wirst irgendwann wissen wollen, wo du herkommst. Ich erzähle dir etwas über meine Eltern Paul und Elisabeth. Deinen leiblichen Vater kenne ich nicht, denn deine Mutter hat für sich behalten, wer das ist. Sie hat mehrere Beziehungen zu Männern in der wilden Zeit der 68er-Jahre Jahre gehabt, in der gravierende politische Umbrüche, ausgehend von der Studentenbewegung, stattgefunden haben. Möglicherweise war es ihr auch peinlich, nicht zu wissen, wer dein wirklicher Vater ist. Ich weiß es nicht.
Meine Eltern haben selten über die Nazizeit und die zwei erlebten großen Kriege gesprochen. Deshalb kann ich dir nur Bruchstücke ihrer Meinungen und Erlebnisse übergeben.
Ich fange an mit meinem Vater Paul. Er war Chemiker und Betriebsleiter einer Seifenfabrik am Rande von Berlin. Kurz nach seinem 52. Geburtstag brach der Zweite Weltkrieg aus. Da er zu alt war und der Betrieb als wichtig für die Versorgung der Wehrmacht und der Bevölkerung galt, wurde er nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Im Ersten Weltkrieg musste er im besten Mannesalter an mehreren Fronten kämpfen, was ihn sehr verändert hatte. Mutter erzählte mir kurz vor ihrem Tod, dass Vater in ihrer Ehe als junger Mann vor diesem Krieg einen offenen Blick hatte. Kein Gesicht, das etwas verbergen konnte. Seine Gefühle waren sichtbar darin. Die Gedanken spiegelten sich, so wie eine große Wasserfläche jedes Wetter widerspiegelt. Er hatte eine zugreifende Hand, die jeden halten konnte. Seine Augen strahlten Vertrauen aus. Selbst die Beichte intimster Gedanken und Gefühle war ohne Angst möglich. Und er besaß den Zauberschlüssel, der Frauenherzen öffnete.
Im Krieg sollte er möglichst viele gegnerische Soldaten töten, hatte es an der Westfront aber meistens so einrichten können, absichtlich daneben zu schießen, ohne dass die Kameraden und Vorgesetzten das mitbekommen haben. In dem Grauen dieser Zeit war allerdings viel mehr drunter und drüber gegangen, als er für ein ganzes Leben brauchen konnte. Seinen Körper hatte er weitgehend unverwundet retten können, doch Stellen seiner Seele, an denen er verwundet wurde, waren verhärtet und mit ihr das weiche, glücks- und liebesfähige Gewebe seiner Seele. Es war verwachsenes Narbengewebe geworden.
Meine Mutter Elisabeth hatte in der Nachkriegszeit sehr gelitten. Aber sie war fast immer liebevoll zu mir und selten streng. Vater war für die Prügel am Abend zuständig, wenn ich tagsüber Verbotenes angerichtet hatte. Ich weinte nie, wenn er mich schlug. Das machte ihn dann noch wütender und er schlug härter zu. Doch solche Situationen kamen glücklicherweise sehr selten vor, denn meistens hat Mutter mich nicht verpetzt.
Jede Familie lebt auch gute Phasen und Momente. Nach der späten Geburt meiner Schwester Christine, deiner Mutter, im Juli 1930 wurde Vater friedlicher. Er hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Darin ähnele ich ihm, doch mir war das nicht vergönnt, weil meine Frau Hilde nie Mutter werden konnte.
Du bist mir auf meine späten Jahre völlig unerwartet zugeflogen, wie ein gerade flügge gewordener Vogel, der Schutz vor den wilden Stürmen des Lebens sucht. Ich verspreche dir, dass ich dich großziehen werde, bis du selbst dein Leben gestalten kannst.
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ist der jüdische Eigentümer der Seifenfabrik, mit seiner Frau nach Argentinien geflüchtet, um der zunehmenden Judendiskriminierung zu entgehen. 1938 wurde das Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung beschlossen. Jüdische Unternehmer wurden gezwungen, alles was sie sich erarbeitet hatten, aufzugeben. Ihre Firmen wurden >arisiert<, d.h. enteignet und für Spottpreise an Nichtjuden verkauft.
Wir mussten die Villa in Grunewald, die der Firma gehörte, verlassen, Der neue Eigentümer, ein knallharter Nazi, wollte dort einziehen.
Vater war plötzlich arbeitslos.
Jetzt ist erst einmal genug mit diesem schweren Stoff. Ich habe vor Augen, wie du wohlig auf dem rechten Daumen herumnuckelst, denn den Schnuller, den ich dir kürzlich gekauft habe, spuckst du immer wieder aus.
Ich beschließe, dir als Weihnachtsgeschenk ein Kuscheltier zu kaufen.
5. Das Problem mit dem Kinderwagen
Du liegst nebenan und schläfst. Der Winter neigt sich dem Ende zu. Blühende Krokusse künden den Frühling an. Ich werde lange Spaziergänge mit dir machen. Mein Orthopäde hat mir nach der letzten Untersuchung empfohlen, viel zu gehen. Das wäre gut für meine Hüfte, der es offensichtlich an Gelenkschmiere fehlt.
Einmal muss ich es dir sagen, aber ich verspreche dir, dass ich es heute Nacht nicht wieder sagen werde: Ich habe manchmal Angst, dass ich dir kleinem Wurm nicht gerecht werden kann. Oder dich in Gefahr bringe, wenn ich mit dem Kinderwagen schnell über die vielbefahrene Osterstrasse laufe, um unseren Weg zum Einkaufscenter abzukürzen. Ein Mercedesfahrer musste kürzlich hart auf die Bremse treten. Das Auto kam glücklicherweise mit quietschenden Reifen kurz vor uns zum Stehen. Es gab ein heftiges Hupkonzert, weil wir den gesamten Verkehr zum Stillstand brachten. Einige Fahrer drehten ihre Fenster herunter und schimpften laut. Eine Fußgängerin mit Kind an der Hand schüttelte ihren Kopf und schrie:
„Unverantwortlich, dieser alte Mann gefährdet das Kind.“
Ich habe mir fest vorgenommen, ab morgen immer einen Fußgängerübergang mit Ampel zu nehmen, auch wenn das mit einem Umweg verbunden ist.
Wenn ich mit dir zum Kinderarzt gehe, müssen wir den Bus nehmen. Das Ein- und Aussteigen ist manchmal schwierig, obwohl meistens jemand mehr oder weniger geschickt dabei hilft. Einmal fragte mich eine Helferin, ob das mein Enkelkind sei. Ich musste lachen, denn das liegt nahe. Neuerdings packe ich dich in ein Tragetuch, wenn wir mit dem Bus fahren müssen. Das ist praktischer, denn der Wagen stört sehr, vor allem wenn viele Menschen mitfahren. Den Tipp mit dem Tuch habe ich von Maria, die auch das richtige Binden mit mir geübt hat. Es ist sehr schön, dich so nah am Körper zu spüren. Einige Menschen schauen erstaunt, denn diese Tücher sind gerade erst in Mode gekommen und werden bisher nur vereinzelt von jungen Frauen genutzt.
Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass ich aus dem umgestürzten Kinderwagen geschleudert wurde. Sie war nur kurz im Milchladen und hatte den Wagen draußen abgestellt. Plötzlich kippte der, ich rollte heraus und schrie wie am Spieß. Damals waren die Gefährte ohne Feststellbremse noch nicht so sicher wie heutzutage. Mutter hatte Angst, dass ich einen Dachschaden abbekommen haben könnte, weil auch eine dicke Beule sich am Kopf gebildet hatte. Mit meiner Abiturprüfung konnte ich dann später allerdings beweisen, dass es nicht der Fall war. Ich bekam in allen Fächern Einser, bis auf Sport, wo es nur für eine Vier reichte, weil ich zu ängstlich beim Turnen und auch kein besonders guter Läufer war. Vielleicht war es die Folge des Desasters mit dem Kinderwagen – aber wer weiß das schon.
Ich werde uns diesen Sommer eine Jahreskarte für Hagenbeck kaufen. Beim Elefantengehege hebe ich dich dann aus dem Wagen und zeige dir die großen Tiere. Vielleicht ist es noch etwas zu früh, aber wir werden sehen. Egal, ich werde viel mit dir Spazierengehen, auch um mich selbst fit zu halten.
Als Kind war ich viel draußen, immer auf Entdeckungen aus. Die Schule fand ich sehr langweilig, aber war schon früh davon überzeugt, dass ich an jedem Ort der Welt irgendetwas für das Leben lernen kann, also auch in der Schule. Selbst wenn dem nicht so war, kam Flucht nicht in Frage – wenn nicht aus Lust, dann aus Klugheit.
Seit du bei mir bist, spüre ich nicht mehr die Abwesenheit meiner verstorbenen Familienmitglieder. Du bist jetzt der greifbare Lebensmittelpunkt, um den sich die Dinge fügen und ihren Platz einnehmen.
So, jetzt bin ich müde und werde ins Bettgehen.
6. Krabbeleien
Du krabbelst zum ersten Mal auf dem Boden. Ich muss lachen, weil es noch etwas unbeholfen wirkt. Als du mich erreicht hast, streiche ich dir mit einer Hand über deine schwarzen Haare. Du strahlst über das ganze Gesicht.
Es ist ein erster Schritt in die Selbständigkeit. Ich glaube, dass du sehr ehrgeizig bist und schnelle Fortschritte, äh Fortkrabbeleien machen wirst.
Ich sitze auf dem Balkon, nachdem du endlich eingeschlafen bist. Etwas krabbelt mir im Nacken herum. Ich streife es ab. Eine Ameise, die jetzt in meiner Hand zappelt, versucht wieder auf die Füße zu kommen, um durch einen Spalt zwischen meinen Fingern zu entkommen. Ich hebe die Hand zum Mund, puste sie fort und schaue zu, wie sie fällt und unversehrt auf dem Boden des Balkons landet.
Ein neuer Abschnitt mit uns beiden beginnt. Du hast dich auf den Weg gemacht, die Welt selber zu erkunden, wirst die ganze Wohnung erobern. Wir werden morgen zum Baumarkt fahren und Sicherungskappen für alle Steckdosen kaufen, weil ich Angst habe, dass du aus Neugier deine kleinen Fingerchen da hinein steckst. Ich hätte das schon längst tun sollen.
Es ist spät und immer noch sehr warm draußen. Du hast mich heute gelehrt, dich in deiner Entwicklung zu akzeptieren und den Weg gemeinsam weiterzugehen. Das Geheimnis des Lebens scheint darin zu bestehen, Wandel und Veränderung anzunehmen und sich dem anzupassen. Nach dem Tod meiner Frau ist mir das sehr schwer gefallen. Aber es ist wohl so, dass alle Dinge fallen und immer wieder neu erbaut werden. Jene, die sie erbauen, sind dann zufrieden und manchmal auch sehr fröhlich, so wie ich heute mit dir.
Ein Lufthauch küsst mein Gesicht. Zur späten Stunde ist alles vorbei. Stille stürzt herein und füllt die Risse in der Nacht.
Im Bett decke ich mich mit der leichten Patchwork-Sommerdecke, die meine Frau auf einer Reise durch Cornwall gekauft hat, zu und versuche Teile der Fülle von Ereignissen nachzuerzählen, die sich wie Flickwerk in meiner Familie befunden haben - Fragmente aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Unvollständig. Es wird immer Stückwerk bleiben, da viele Unterlagen und Geschichten verloren gegangen sind. Meine Eltern wollten über Vieles aus der damaligen Zeit nicht sprechen.
7. Wort und Satz
Am besten gefällt es dir immer wieder bei den Pavianen in Hagenbecks Tierpark. Vor allem, wenn die Affenkinder Erkundungsversuche in dem Gehege machen, ausgelassen herum hüpfen und schon munter über die Felsen klettern. In den ersten fünf Monaten hängen die jungen Tiere noch an Mamas Seite und werden von ihr umsorgt. Für Stimmung im Gehege ist die ganze Affenbande zuständig. Durchaus vergleichbar mit Menschen, wenn sie zusammenhocken.
Heute sagt eine Mutter vor dem Gehege zu ihrem älteren Knaben, der sich schätzungsweise im Vorschulalter befindet: „Schau mal, die vielen Affen!“
Der meint etwas altklug: „Da laufen auch viele Affenkinder herum.“
Plötzlich zeigst du auf die Affenhorde, schaust dann zu mir hoch aus deiner Kinderkarre und rufst: „ Affe, Affe, Affe …“, willst dich überhaupt nicht mehr einkriegen. Es ist dein erstes klares Wort, das du bisher gesagt hast. Ich kann dich kaum vom Gehege wegbekommen.
Auf dem Nachhauseweg - es ist kalt geworden - sagst du plötzlich: „Ich riere am Topf!“
Mir ist zunächst nicht klar, was du meinst. Doch dann sehe ich, dass deine Ohren rot angelaufen sind und weiß es. Du meinst: „Ich friere am Kopf“, denn mir fällt ein, dass ich dir deine Wollmütze nicht aufgesetzt habe. Ich hole sie schnell aus der Tasche und ziehe sie dir über den Kopf. In der Karre fallen dir vor Erschöpfung die Augen zu und dein Gesicht entspannt sich.
Was für ein Tag. Du sprichst dein erstes klares Wort und wenig später befreist du das Alleinsein eines Wortes durch einen ersten kompletten Satz, auch wenn er noch etwas unverständlich war. Man könnte sagen, dass du wieder einen Satz in deiner Entwicklung gemacht hast. Ich freue mich immer, wie du die nächsten Schritte ins Leben gehst und bin mir sicher, dass du deinen eigenen Weg finden wirst. Jetzt hast du das Sprechen für dich entdeckt.
Bevor du ins Bett kommst wasche ich dich in der kleinen Kinderbadewanne, die in einem Gestell über der großen Wanne steht. Mir fällt dabei ein, wie meine Mutter jede Woche eine kleine Zinkwanne mitten ins Wohnzimmer - dem im Winter einzig warmen Raum mit einem großen Kachelofen - auf einen Schemel gestellt hat, um mich abzuseifen. Die Wanne füllte sie mit auf dem kohlebeheizten Küchenherd gewärmtem Wasser. Ich musste darin stehen, während sie mich wusch. Einmal pinkelte ich vor Aufregung einen Strahl mitten ins Wohnzimmer. Das fand sie überhaupt nicht witzig und gab mir einen heftigen Klaps auf den Hintern. Aber anschließend durfte ich noch eine Weile in der Wanne sitzen und mit meinem kleinen Schiffchen spielen.
Mein Vater hat mich nie gebadet oder gefüttert, war emotional auch später nicht für mich erreichbar, sehr streng und autoritär. Ein Mann, den ich im Grunde nie kennengelernt habe, weil ich immer nur seine Ansprüche erfüllen sollte. Freundlichkeit war ihm fremd. Ich hätte mir auch von ihm Offenheit und Zuneigung gewünscht, wie von meiner Mutter. Du bist besser dran, denn mir gefällt es, wenn du dich aufs Baden freust und in der kleinen Kinderwanne plantschen darfst, während ich dich nebenbei spielerisch waschen kann. Du bist danach so müde, dass ich dich ohne Widerstand in dein Bett legen kann.
Bevor ich schlafen gehe, lese ich noch einmal leise vor mich hin, was ich heute Abend für dich geschrieben habe. Meine Stimme ruht auf den Wörtern und Sätzen und lässt sie dann zum Boden hinunterschweben. Vielleicht erscheinen sie dir manchmal zu sprunghaft. Aber mein Gehirn entlässt sie Gedanke auf Gedanke. Je älter ich bin, desto mehr werde ich wieder zum Kind.
8. Beruf und Berufung
In diesem Jahr, dem Ende deines vierten Lebensjahres, haben wir das erste Mal den Geburtstag mit drei anderen Kindern gefeiert. Bei schönstem Wetter habe ich als Überraschung für euch einen Ponyritt bei Hagenbeck organisiert. Jedes Pferd wurde von einem Tierpfleger am Halfter durch einen Teil des Tierparks geführt. Es war sehr aufregend. Nach einem kleinen Imbiss - wieder zuhause - wolltet ihr mit den vielen Holzklötzen, die du geschenkt bekommen hast, Türme bauen. Michael und Lasse fingen sofort an, in die Höhe zu streben. Jeder wollte der Beste sein. Als alle Klötze verbaut waren, ragte Lasses Turm um Zentimeter höher als Michaels. Beate und du waren weit abgeschlagen, da ihr zusammen an einem Turm mehr in die Breite gebaut habt, um das Fundament stabiler zu machen. Im Gegensatz zu dem der Jungen verjüngte ihr Turm sich nach oben. Plötzlich zog Michael einen unteren Klotz von Lasses Turm heraus, so dass der mit Krach zusammenstürzte. Lasse war stinksauer, schrie und wollte auf Michael einschlagen. Ich konnte gerade noch eine Eskalation verhindern. Du schautest mit weit aufgerissenen Augen auf das Geschehen und fingst an zu weinen. Es gab dann noch einen Eisbecher und ihr habt euch wieder beruhigt, bevor die Mütter ihre Kinder abholten.
Du kannst sehen, dass schon im Kindergartenalter Konkurrenz und Zerstörung mit zum Geschehen gehören, selbst dann, wenn nur gefeiert wird.
Ich mache mir immer öfter Gedanken, was aus dir einmal werden wird, wenn du erwachsen wirst. Da du im August geboren bist, wirst du nächstes Jahr zur Schule kommen und viele Jahre dort verbringen. Vermutlich stehst du inzwischen, wenn du diesen Text liest, vor der Entscheidung, was du mal werden möchtest. Lies ihn gründlich, lies ihn zweimal. Fühl es!
Wenn du später einmal Musikerin werden solltest, wie deine Urgroßmutter, die exzellent Klavier gespielt hat, stell es dir vor, höre die Töne. Die sind kurz und flüchtig, sind da und schon wieder weg. Ein Nachhall bleibt vielleicht ein paar Sekunden und verschwindet dann, wie ein Ausatmen der Lunge oder Rauch im Wind.
Solltest du dich für das Malen entscheiden, ist auch dann der eigentliche Moment des Pinselstrichs von kurzer Dauer. Er ist da und bleibt, aber du kannst ihn übermalen, etwas ändern. Wenn du Ölfarben verwendest, dann muss die allerdings erst trocknen, was Geduld erfordert, da es mindestens einen Tag dauert - eher länger.
Wenn du dich, wie deine Großmutter, meine Mutter, dafür entscheidest, Schriftstellerin zu werden, dann schaffst du Gedanken für andere Menschen, auch wenn du selbst mal nicht mehr bist. Ich habe beim Lesen einer ihrer autobiographischen Texte ein klareres Bild bekommen. Anders als es sich in meinem Kindesdasein und ihrem Umgang mit mir damals je darstellte.
Als junger Erwachsener bin ich nach dem Abitur endlich meinen eigenen Weg gegangen. Vater wollte, dass ich Medizin studiere, doch ich habe mich geweigert und bin Ingenieur für Fernmeldetechnik geworden. Im späteren Zweiten Weltkrieg hat es den Vorteil gehabt, dass ich für den Fernmeldedienst zuständig war und nicht an vorderster Front kämpfen musste.
Gespannt bin ich darauf, wie einmal deine Schullaufbahn enden wird und für welchen Beruf du dich letztendlich entscheiden wirst. Immer mehr Frauen verabschieden sich heutzutage von der ausschließlichen Mutterrolle und ergreifen einen Beruf, um materiell unabhängig zu sein oder den eigenen Neigungen zu folgen. Aber vielleicht entscheidest du dich auch wie die Frauen in meiner Familie für eine künstlerische Ausbildung und lebst bescheidener.
Mitten in der Nacht wache ich auf, weil ich einen unangenehmen Traum hatte. Ich befand mich in einem brennenden Tunnel, rannte und rannte, um zu einem Ausgang zu kommen, fand aber keinen. Endlich wachte ich auf. Das Szenario habe ich immer mal wieder geträumt. Vielleicht hängt es mit Kriegserlebnissen auf dem Rückzug von der Krim zusammen. In diesem wunderschönen Gebiet mit Sonnenblumenfeldern so hoch, dass wir Soldaten uns oft mit unseren Geländewagen komplett darin verstecken konnten, hatte ich das erste Mal diesen Alptraum. Es drohte die Niederlage der deutschen Truppen. Als der sowjetische Angriff begann, wurde die Evakuierung endlich nach viel zu langem Zögern von Hitler gebilligt, doch die Sowjets wollten den Abzug verhindern. Meine Einheit schaffte es noch mit viel Glück, sich nach einer Einkesselung zu befreien. Sie konnte rechtzeitig von Odessa aus über das Schwarze Meer evakuiert werden. Mehrere zehntausend Soldaten ertranken im Meer, weil ihre Fluchtschiffe versenkt wurden.
Ich schaue aus dem Fenster. Weiß in der Dunkelheit der Gärten. Es hat geschneit. Der lange erwartete Winter hat sich sehr spät gemeldet. Wohin ich auch blicke ist Schnee, der eine friedliche Stimmung verbreitet. Auf der anderen Seite der Wohnung fängt das Licht der Straßenlaternen frische Flocken ein. Es sieht ein bisschen aus, als wenn Glühwürmchen vom Himmel fallen.
Ich werde früh aufstehen und den Gehweg vom Schnee befreien müssen. Die Räumfahrzeuge werden den Frieden auf den Straßen zerstören, damit die Menschen zur Arbeit fahren können.
9. Eine unruhige Nacht
Als ich dich nach deiner Geburtstagsfeier zu Bett gebracht habe, höre ich gegen Mitternacht plötzlich ein Weinen aus dem Kinderzimmer. Ich schaue kurz hinein und streiche dir sanft über den Kopf.
Zurück im Wohnzimmer schreibe ich Wort für Wort. Während jeder Satz zum Leben erwacht, wächst und wieder stirbt, wird dein Weinen leiser und leiser. Vermutlich hattest du einen schlechten Traum und die Anspannung brach sich Bahn. Der lange Geburtstag, das erste Mal mit Gästen, das Ponyreiten bei Hagenbeck und der Streit der Jungs beim Turmbau waren neu und sicher etwas zu viel für dich kleines Mädchen.
Mit deinem langsam leiser werdenden Weinen bekomme ich das Gefühl, als würde dich jemand von mir forttragen und immer weiter weggehen.
Du schläfst wieder. Es scheint alles vorbei und ich kann ins Bett gehen. Mit zunehmender Müdigkeit berührt dein Kummer mein Herz nur noch in der Ferne, wie eine einsame Insel in der Weite des Meeres.
10. Mütter, Väter und Großmütter
Ich denke zurück an die ersten Jahre nach deiner Geburt. Unsere Geschichte ist über Straßen gewandert, hat neue Ufer und fremde Häuser erkundet, ist anderen Herzen begegnet.
Mit offenen Augen ziehst du dir die Decke über deinen Kopf und kicherst. Drehst dich zur Seite, hebst sie etwas an, um mich anschauen zu können. Ein Lichtstrahl streift dein Gesicht und du versteckst dich wieder. Das Spiel wiederholst du ganz oft und kicherst jedes Mal, wenn du die Decke lüftest. Irgendwann bist du so müde, dass ich dir einen Gutenachtkuss geben kann und du schnell einschläfst.
Später wirst du vielleicht in Situationen geraten, wo du dir die Decke über den Kopf ziehst, weil dich etwas sehr belastet. Aber denke dann daran, dass du in jeder Angst mit etwas Fantasie immer auch einen Funken Liebe finden kannst.
Schon in den Sechzigerjahren bahnte sich das Ende der Väter als autoritäre Führer der Familien an, wie ich das noch bei meinem Vater habe erleiden müssen. Das war der Beginn eines neuen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern.
Wenn ich mit dir bei schönem Wetter am Wochenende zu dem kleinen Spielplatz mit der großen Sandkiste gehe, dann sitzen oft mehrere junge Frauen zusammen am Rand auf zwei Bänken, schauen ihren Kindern zu. Wenn es Streit gibt, diese sich mit Sand bewerfen oder die Bauwerke anderer zerstören, schreiten die Mütter ein. Meistens bin ich der einzige Mann und fühle mich irgendwie skeptisch beäugt von ihnen. Vermutlich, weil ich sehr viel älter bin. Vielleicht denken sie auch, ich sei der Großvater. Sie reden nicht mit mir. Doch seit einiger Zeit kommen auch ein, manchmal zwei Väter mit ihren Kindern. Die sind natürlich sehr viel jünger als ich und kümmern sich liebevoll um ihre Kinder, bauen Burgen oder helfen beim Sandtortenbacken.
Heute sprach mich eine ältere Frau an, die schon öfter mit ihrem Enkelsohn dort war und sich separat von den anderen Müttern zu mir auf die Bank setzte.
Nach ein bisschen Small Talk meinte sie:
„Ich bewundere Sie, dass in Ihren Augen immer etwas Jungenhaftes funkelt, wenn Sie mit ihrer Enkelin spielen.“
Ich war überrascht und meinte:
„Ich muss etwas richtigstellen. Das ist nicht meine Enkelin, sondern die Tochter meiner Schwester, die bei der Geburt von Alina gestorben ist. Ich bin der einzige Verwandte und habe mich bereit erklärt, sie zu adoptieren, da der Vater nicht bekannt ist.“
„Oh, das ist aber tragisch“, meinte sie.
Nach einer kleinen Pause sprachen wir über Gott und die Welt, fanden uns immer sympathischer und beschlossen, uns öfter mit den Kindern zu treffen. Sie heißt Maria. Ihre alleinstehende Tochter muss an drei Tagen in der Woche bis in den späten Nachmittag und manchmal auch am Samstag arbeiten. Maria holt dann deren Sohn Thorsten zu sich und versorgt ihn bis zum Abend.
Heute war sie mit ihrem Enkel bei mir zuhause. Die beiden Kinder haben zusammen einen Turm gebaut und sich den ganzen Nachmittag nicht gestritten. Du bist nach dem Abendessen sofort eingeschlafen.
Nach gut fünf Jahren Leben mit dir, den vielen Spaziergängen in dem weitläufigen Tierpark Hagenbeck stelle ich fest, dass ich keine Schmerzen mehr in der Hüfte habe. Mein Orthopäde hat Recht gehabt als er mir empfahl, mich viel zu bewegen. Er sagte nach jedem Besuch:
„Sie müssen sich viel bewegen in ihrem Alter. Die Knie- und Hüftgelenke brauchen Schmierstoff, der sich nur bei Bewegung bildet.“
Ich habe das früher nicht ernst genommen und viel zuhause vorm Fernseher gesessen oder im Sessel sitzend gelesen. Du bist somit ganz nebenbei zu einem Schlüssel für die Verbesserung meiner Beweglichkeit geworden, auch wenn es manchmal anstrengend ist.
Außerdem ist das Zusammensein mit dir Balsam für meine Seele.
11. Besuch eines schwarzhaarigen Mannes
Heute am späten Abend, du hast schon geschlafen, klingelt es plötzlich an unserer Wohnungstür. Ich kann mir nicht erklären, wer so spät etwas von mir persönlich möchte. Aber vielleicht ist es die Nachbarin, die sich manchmal etwas von mir ausleiht. Ich unterbreche mein Schreiben, gehe in den Flur und öffne die Tür. Ein kleiner junger Mann mit tiefschwarzen Haaren steht vor mir.
Er begrüßt mich höflich und sagt dann völlig unvermittelt:
„Zur Zeit lebe ich hier in Hamburg, weil ich eine Schulung bei Beiersdorf in Lokstedt mache. Ich bin Grieche, habe vor einigen Jahren Volkswirtschaft an der Universität Hamburg studiert und organisiere jetzt das Marketing für die Einführung der Damenbinde in Griechenland.“
„Ja und, was wollen sie von mir“, frage ich völlig konsterniert und schaue ihm in die dunklen Augen. Nach einem langen Blick fallen mir plötzlich Ähnlichkeiten auf, die ich von dir, mein Kind kenne. Zum Beispiel die eng anliegenden Ohren und der leicht schiefe Mund, der auf der linken Seite etwas nach unten hängt.
Nach dem Tausch dieses intensiven Sichanschauens antwortet er:
„Ich habe während meines Studiums in einer Wohngemeinschaft gelebt, in der auch Ihre Schwester wohnte. Wir hatten eine kurze intime Beziehung miteinander. Wenig später habe ich eine andere deutsche Frau, eine Lehrerin, kennengelernt, bin dort ausgezogen und habe geheiratet. Wir sind später nach Athen gezogen, weil ich dort eine Marketingabteilung für Beiersdorf aufbauen sollte. Meine Frau hat dort die Deutsche Schule mit deutschen Kollegen gegründet, die auch mit Griechen verheiratet sind.“
Ich bin ziemlich konsterniert über den Wortschwall, bitte ihn aber in die Wohnung, denn mir schwant, dass es etwas mit dir zu tun hat Alina.
Nachdem wir uns gesetzt haben, fährt er gleich fort:
„Übrigens ich heiße Spyros. Gestern habe ich einen alten Studienfreund, der damals auch in der Wohngemeinschaft gelebt hat, getroffen. Der hat mir erzählt, dass Ihre Schwester direkt nach der Geburt einer Tochter gestorben ist und ihr Bruder, also Sie diese jetzt aufzieht. Ich war völlig perplex, aber nach Durchrechnung der Daten, lag der Stichtag der Geburt fast genau neun Monate nach unserem Techtelmechtel. Warum Ihre Schwester mir nie etwas davon erzählt hat, weiß ich nicht.“
In mich zusammensackend tritt Schweiß auf meine Stirn und ich muss tief Luft holen. Hier sitzt offensichtlich der leibliche Vater von dir.
Ich falle in ein Schweigen, eines von durchgreifender Art, so tief, dass es etwas verändern musste. Wieder bekomme ich Zeit in meinem Leben für Gedanken, auch die schweren, die sich durch Beschäftigung nicht vertreiben lassen. Meine Hoffnung auf ein weiteres Zusammenleben mit dir, wie es sich eingespielt hat, schwindet wie Wasser in der Sonne.
Spyros fragt: „Was ist? Geht es Ihnen nicht gut?“
Ich frage schluchzend, kaum verständlich:
„Jetzt wollen Sie sicher ihr Kind zurück und mit nach Griechenland nehmen – oder?
Er antwortet:
„Das kann ich so kategorisch nicht sagen, wir haben schon zwei Kinder. Aber ich möchte Alina, so heißt sie doch?, gerne einmal bei Tag sehen.“
„O.K., damit bin ich einverstanden. Wir können am Wochenende einen Besuch bei Hagenbeck machen und ich stelle Sie als einen Bekannten vor.“
Er nickt, steht auf und meint: „Gut.“
In diesem Sinne verabschieden wir uns.
Ich kann die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Wirst du mich verlassen müssen? Wird dein leiblicher Vater dich akzeptieren und dir Liebe geben können, wo diese doch nichts anderes ist als eine Form des Nichtvorhandenseins von Angst? Dieses zu erreichen, erfordert Zuwendung und Trost. Kann den eine neue Familie weit in der Ferne leisten, mit einer Mutter, die nicht deine ist?
Ich habe mit dir im Zusammenleben begriffen, dass gegen die Angst, die das Leben eines jeden Menschen manchmal durchzittert, nur selten etwas unternommen werden kann. Dass kein Mensch einem anderen innerlich helfen kann und dass dies der Grund ist, warum der Trost, den ich dir immer geben konnte, so unendlich notwendig ist.
Nichts werde ich mehr verstehen können, denke ich heute Nacht. Aber im ganz Kleinen kann ich noch ahnen, dass mein Leben fortschreitet – auch ohne dich. Ich bin dein Onkel, aber ein ziemlich alter Vaterersatz und muss dich irgendwann loslassen.
In dieser schweren Nacht spüre ich, dass mir die Gewohnheiten der letzten Jahre mit dir morgen nichts mehr bedeuten können. In den Jahren habe ich immer gesehen, dass du die Wahrheit in dir trägst, wie es alle Kinder tun. Für kurze Zeit sind sie die Weisen. Vielleicht ist jedes neue Kind ein Versuch des Lebens, dem Ausdruck zu verleihen, was nicht verstanden werden kann.
Am frühen Morgen, du schläfst noch, puste ich in den Dampf über meinem heißen Tee, sitze da und warte darauf, dass mein Leben weiter geht. Jetzt ist beim Verstreichen der Zeit am schwersten hinzunehmen, dass du, die mir am meisten bedeutet, eingehüllt bist in Gedankenstriche.
12. Befreiung ungesagter Worte
Vor einer Woche habe ich deinen Vater Spyros getroffen. Wir hatten ein friedliches Gespräch. Ich erzählte ihm von dir und deiner Entwicklung, er von seiner Frau und den Kindern. Das Thema, ob er Anspruch auf seine Tochter stellen wolle, ließen wir erst einmal offen. Ich war erleichtert. Er schlug vor, dass wir seine Familie in den griechischen Sommerferien in Athen besuchen sollten.
„Wenn wir uns gut verstehen, können wir einen Zelturlaub an der Westküste des Peloponnes machen“, meinte er beim Abschied.
Nach kurzem Zögern stimmte ich zu und stellte erleichtert fest:
„Die Idee finde ich gut.“
Ich war einerseits erfreut, dass noch keine Entscheidung getroffen werden musste, andererseits hatte ich Angst vor den Ferien. Es sind jetzt noch vier Monate bis dahin.
Inzwischen habe ich mich mit der älteren Dame, der Oma von Thorsten, deinem Spielkameraden aus dem Kindergarten, angefreundet. Sie heißt Charlotte. Meistens holt sie ihren Enkel mittags im Kindergarten ab. Die Mutter des Jungen ist Lehrerin und schafft es oft nicht. Manchmal kommen die beiden mit zu uns nachhause, damit die ihr miteinander spielen können. Wir kochen dann gemeinsam und speisen zu viert. Mir ist nicht entgangen, dass Charlotte ein Auge auf mich geworfen hat. Wir verstehen uns gut und können über Alles reden.
Heute Mittag ist schönes Wetter und wir gehen mit einem Picknick im Rucksack auf den Spielplatz von Hagenbeck. Nach dem Essen baut ihr Kinder hingebungsvoll eure Sandburgen. Plötzlich wird der Frieden durch den Streit zweier Jungen gestört. Sie bewerfen sich mit Sand. Eine Mutter baut sich vor den Müttern der Streithähne auf und schreit sie an:
„Nun tun Sie doch endlich mal was. Sie sehen doch, dass die Situation eskaliert.“
Eine Mutter antwortet:
„Ich denke, dass es die Kinder selbst regeln sollten. Sie müssen das lernen.“
Die andere versucht zu beschwichtigen, indem sie auf die kleinen Kampfhähne einredet. Es nützt nichts. Ich stehe plötzlich genervt auf und packe den einen Jungen, der den Streit angefangen hat, an einem Arm und rede auf ihn ein. Tatsächlich hören beide auf. Vermutlich haben sie vor mir mehr Angst, weil ich ein Mann bin. Die Mütter schauen mich böse an, packen ihre Jungs und ziehen schimpfend davon.
Du schläfst schnell ein nach diesem ereignisreichen Tag. Ich sitze auf dem Sofa, die Beine hochgelegt, und lese in dem Wochenmagazin, das immer am Donnerstag erscheint. Leider kann ich mich dabei auf den Leitartikel über Recht und Unrecht nicht gut konzentrieren, sondern muss dauernd an deinen griechischen Vater denken. Sollte ich dich ganz in Anbetracht meines Alters hingeben in eine junge Familie? Kann ich beurteilen, was das Beste für dich ist? Wer urteilt kann die Wirklichkeit aus den Augen verlieren, steht in dem Artikel. Wenn ein Urteil gefällt wird, heißt das konsequent zu Ende gedacht, dass sich die Ganzheit einer Situation entzieht.
Charlotte, der ich von dem geplanten Treffen in Athen erzählte, meinte:
„Du kannst dann schauen, ob du Eindrücke über das Leben im fremden Griechenland, oder wenigstens das Fremde im Vertrauten findest und hast dann Zeit bis deine Entscheidung deutlicher erkennbar wird, ohne dass du zu sehr leidest. Du wirst ebenso wie deine Tochter geprüft und wissen, nicht ganz unbewusst, was Bestand hat und was nur Schein ist. Wir normal Sterblichen erfahren das nur äußerst selten, aber ich glaube, dass du das schaffst. Die Reise nach Griechenland wird sicher die Situation klarer machen.“
„Meinst du? Ich bin mir da nicht sicher“, warf ich ein.
Sie entgegnete:
„Ich glaube, dass es auch im Sinne von euch beiden ist, sich erst einmal im Athener Umfeld umzuschauen, bevor irgendwelche Entscheidungen getroffen werden. Ich nehme dich so wahr, dass du jemand bist, der seine immer noch vorhandene Neugier sortieren und in kluge Zusammenhänge stellen kannst.“
„Du hast gut reden“, meinte ich, …. „aber trotzdem ist es ein brauchbarer Satz, weil ich meine eigenen Gefühle in ihn hineinstecken kann oder sogar muss, damit sie deutlicher erkennbar werden.“
Bevor ich ins Bett gehe schaue ich wie jeden Abend noch einmal zum gegenüberliegenden Haus. Dort wohnt eine alte Frau im ersten Stock, die mehrmals am Tag ihr Fenster putzt, manchmal sogar nachts, wie auch heute. Es ist, als wolle sie vor ihrem Tod eine einzige Sache noch fertigmachen, an der niemand etwas auszusetzen hat. Was macht einen guten Tod aus?, sinniere ich. Es scheint ein großes Glück zu sein, einen guten Tod zu sterben. Ich glaubte schon immer daran, dass ich es schaffen werde, aufzugeben, loszulassen und zu erfahren, wenn ich an der äußersten Grenze angelangt bin. Kurz vor dem Sterben, wenn ich nicht zu sehr von Medikamenten betäubt bin, dass ich nichts mehr merke.
Ein gebrechlicher alter Herr im Haus, mit dem ich manchmal quatsche, kämpft ständig gegen das Sterben an. Je mehr er kämpft, desto härter scheint es zu sein.
Mir fällt ein, dass ich heute noch nicht in den Briefkasten geschaut habe, ob Post gekommen ist. Ich gehe die Treppen hinunter und schaue nach. Außer einer Rechnung angle ich einen Brief mit griechischer Marke hervor. Wieder oben angekommen, öffne ich ihn aufgeregt.
Die Ehefrau von Spyros schreibt:
Es ist etwas sehr Schreckliches passiert. Vor drei Wochen brachte mein Mann wie jeden Werktag die Kinder zur Deutschen Schule und wurde in einen Unfall verwickelt. Er hatte eine Vorfahrt nicht beachtet, sodass ein Lieferwagen mit voller Wucht in die Fahrerseite krachte. Mein Sohn und er waren sofort tot. Meine Tochter überlebte schwerverletzt und ihr droht wahrscheinlich ein Leben im Rollstuhl. Das Schicksal ist manchmal gnadenlos.
Eine schlaflose Nacht steht mir bevor.
13. Ein Riesensatz
Es ist Dienstagnachmittag. Oma Charlotte konnte Thorsten heute nicht abholen. Wir haben ihn mit nachhause genommen. Ich koche uns Nudeln mit einer leckeren Soße. Ihr sitzt euch breitbeinig im Kinderzimmer gegenüber, rollt einen Ball hin und her, kreischt und kichert, wenn der daneben geht.
Immer öfter sinniere ich über die Vergänglichkeit. Mein fortschreitendes Alter macht gefühlt größere Zeitsprünge, während der in die Küche verirrte Grashüpfer, den ich gerade beobachte, einen riesigen Satz vollführt.
Nun lebst du schon seit fast sechs Jahren mit mir und wirst mit Thorsten eingeschult.
Am letzten Wochenende war ich in das Landhaus von seinen Eltern mit eingeladen. Oma Charlotte war auch dabei. Als ihr Kinder am ersten Abend im Bett wart, hatten wir sehr intensive Gespräche, so auch über Religion. Ich wurde gefragt, ob du getauft bist und meinte:
„Darüber habe ich nie nachgedacht.“
Die Mutter von Thorsten wollte wissen, was denn mit Alina passieren würde, wenn ich zum Beispiel bei einem Unfall oder aus einem anderen Grund zu Tode kommen sollte.
Sie meinte:
„Was hältst du davon - wir duzen uns inzwischen -, wenn du Alina taufen lassen würdest? Wir wären dann gern die Taufpaten.“
Ich war sehr überrascht und sagte noch etwas zögerlich:
„Darüber will ich gern mal nachdenken …., es scheint mir sinnvoll zu sein, damit Alina nicht plötzlich ohne mich allein in der Welt steht.“
In den Tagen nach dem Wochenende ist die Vorstellung, dass ich sterben darf und du dann trotzdem versorgt bist, gut für dich und auch für mich. Ich finde, dass mir bis heute mit meinen 68 Jahren ein langes Leben beschieden war und ein besonders reiches im Zusammenleben mit dir und auch der Familie von Thorsten.
Viele Jahre habe ich in Sinnlosigkeit gelebt, bis Worte mit dir wieder Gewicht bekommen haben. Jedes einzelne Wort.
Erst jetzt, wo ich alt bin, begreife ich, dass die Sehnsüchte meiner Jugend zentrale Wünsche waren, doch sich nie erfüllt haben. Die Wirklichkeit einer Gemeinschaft erscheint mir heute sicherer und auch größer, obwohl die Jagd nach dieser auch Lebendigkeit abtöten kann.
Nachwort
An einem Freitag, kurz vor den Sommerferien, wurde Alina nicht aus dem Kindergarten abgeholt. Charlotte war beunruhigt und versuchte Hannes telefonisch zu erreichen, aber er meldete sich nicht. So beschloss sie, mit den beiden Kindern zu seiner Wohnung zu gehen. Auf das Klingeln hin rührte sich nichts, doch sie hatte inzwischen einen Schlüssel. Als sie sein Zimmer betraten, saß Hannes dort mit zusammengesacktem Oberkörper auf der Schreibtischplatte vor seinem Tagebuch. Er atmete nicht und ihr schien, dass er tot war. Sie rief sofort den Rettungsdienst an, der kurze Zeit später eintraf. Der Notarzt konnte nur noch sein Ableben feststellen.
Alina wurde von ihren Pateneltern aufgenommen. Nach einer schwierigen Zeit der Trauer und Eingewöhnung in der neuen Familie machte sie ein glänzendes Abitur und bekam die Aufzeichnungen ihres Onkels von ihrer Patenmutter überreicht.
Sie beschloss, Germanistik zu studieren und einen Roman mit dem Titel "Die Suche nach dem Vater" zu schreiben.