Fantasie und Erinnerung

Szene zum Thema Freundschaft

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  LEBENSUNWÄGBARKEITEN (Prosa)

„Hallo Hannes, wie geht´s dir?“
Wir umarmen uns mit Küsschen rechts, Küsschen links. Nachdem wir uns gesetzt haben, rufen wir die junge Bedienung herbei und bestellen alkoholfreies Weizenbier nach dem Tennismatch.
„Weißt du was? Gestern meinte meine Frau, dass ich spinne. Ich erzählte beim Besuch eines befreundeten Ehepaares von unserem Urlaub vor fünfzehn Jahren auf den Malediven. Beim Tauchen war ich dort einem Haifisch begegnet, der dauernd um mich rum schwamm und mir mächtig Angst einjagte. Sie tauchte etwas entfernt hinter mir und meinte, dass es ein Delphin gewesen sei und dass ich das auch wüsste. Mir war das saupeinlich, da meine Vergesslichkeit mit dem Alter immer mehr zunahm. Sie sagte auch, dass meine Fantasie immer blühender würde. Doch gestern Abend las ich in der Zeitung, dass bei uns Menschen, je weiter wir in unsere Vergangenheit schauen, sich immer mehr Fehler einschleichen und das nicht nur Vergesslichkeit ist. Mitmenschen und Lesen beeinflussen ebenfalls unser Gedächtnis, das quasi eine Art Video aufnimmt. Erinnern ist dann später beim ´Abspielen` eine Art kreativer Prozess, in dem wir Eindrücke aus unterschiedlichen Orten und Zeiten formen, was sich wie eine Erinnerung anfühlt“.
Hannes meint:
„Oh ja, das werfe ich auch meiner Frau vor. Als sie neulich Freunden von zwanzig Katzen erzählte, die vor unserer Pension auf Korfu vor neun Jahren herumlungerten. Ich korrigierte sie und sagte, dass es nur zwei waren. Sie war richtig böse“.
Ich fahre fort:
„In dem Artikel stand auch drin, dass Fantasien und Erlebnisse dem gleichen Gehirnareal entspringen, aus zusammengesetzten Datenfetzen, so dass nicht mehr klar unterschieden werden kann zwischen Realität und Fantasie. Jedes Mal, wenn wir den gespeicherten Inhalt abrufen, passen wir ihn an“.
„Aha, ich verstehe“, meint Hannes, „die Stimmung, in der wir uns gerade befinden und neue Informationen, z.B. über die Malediven, die wir damals noch nicht hatten, verändern die Realitäten, … das ist ja irre. Jetzt weiß ich endlich, warum Egon dauernd erzählt, dass er mich früher im Tennis meistens besiegt hatte, obwohl er erst im letzten Jahr mein Niveau erreicht hat. Da überholte wohl seine Fantasie die Realitäten, denn er hat damals fast immer verloren“.
„Klar, unsere Vergangenheit wird so immer gefälliger. Prost Hannes“.
„Prost“.



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