Quench

Text

von  Lilo

Die Stadt war von Kreuzen verhangen, die die Sicht auf den Himmel versperrten. Nur die Kirchtürme und die alten Fabrikschornsteine waren ihm nah. Die Menschen gingen zum Beten in die Kirchen und zum Arbeiten in die Fabriken. Dort war es dunkel. Das Licht ging von den Amis aus. Sie waren Götter auf Erden, wohlwollend und großzügig. Unseren Eltern hatten sie Kaugummis zugeworfen. Unseren Großeltern hatten sie Arbeit gegeben. Und sie hatten ihnen sofort verziehen. Der Gott im Himmel hatte sie erst schlecht beraten, dann hatte er sie hungern lassen. Die Erlösung stand nur als Möglichkeit in den Sternen, die selten zu sehen waren. Sie hätten durch den Rauch der Maschinenbauindustrie hindurchsehen müssen und über die Kreuze hinweg. Die Amis hatten die Bitten des Volks schon zu Lebzeiten erhört. Arbeit hilft gegen Gedächtnis. Kauen gegen Hunger. Uns Kindern hatten sie die bunten Bilder gegeben, die wie ein Weg aus dem Dunkel schienen. Sehen ist auch so etwas wie Leben. Die Amis hatten sich im Westen der Stadt eine amerikanische Ministadt gebaut. Dort, wo 1944 ein KZ-Außenlager von Dachau errichtet worden war, nachdem ein anderes bei einem Bombenangriff abgebrannt war. Die Stadt war schon zu Kriegszeiten groß in Maschinenbau. In der amerikanischen Ministadt gab es eine High School, einen Supermarkt namens PX, ein Schwimmbad, ein Kino, eine Skaterampe und Einfamilienhäuser mit offenen Vorgärten. Es sah aus wie im Fernsehen. Alles, was uns ausmachte, trennte uns von dieser hellen Ministadt. In der PX konnte man Levi’s Jeans für 20 Mark kaufen, hatte mir jemand erzählt, weil Jeans in Amerika als Arbeitskleidung galten, und Quench, ein buntes Getränkepulver. Wir bekamen kaum einen Ami zu Gesicht, aber wir wussten, dass sie da waren. Mit den KZ-Häftlingen, die täglich aus dem Dorf im Westen der Stadt in die Produktionsstätten der Messerschmidt AG und MAN gelaufen waren, hatte es sich umgekehrt verhalten: unsere Großeltern hatten sie gesehen, aber nicht gewusst, dass sie da waren. Wir Kinder lebten selbstverständlich in diesem verdunkelten Stadtgedächtnis. Aber im Klang des Wortes Ami schwang eine Helligkeit, die wir aus dem Fernseher kannten. Nur ein paar Frauen trafen die Amis in Kneipen und Discotheken, die an der Grenze der amerikanischen Ministadt lagen. Sie hatten einen schlechten Ruf. Wer in dieser Stadt nach dem Licht strebte, stand erst recht im Schatten. Wir Kinder konnten durch den Schatten sehen. Dahinter leuchtete Quench in allen Farben.  Melanies Mutter arbeitete im nächstgelegenen Maschinenbauunternehmen im Büro. Sie war sehr jung, mürrisch und immer müde. Wie fast alle Kinder in unserem Viertel, durfte Melanie keine Freundinnen mit nach Hause bringen.  Sie war tagsüber bei ihrer Oma, die nebenan wohnte und nur eine einzige riesige Brust hatte. Die Oma hatte einen behinderten Sohn, Robert, der nur zwei Jahre älter als Melanie war. Wenn die Oma ihren Nachmittagsschlaf hielt und wir auf Robert aufpassten, schlichen wir uns nach drüben in Melanies Wohnung. Die Wohnung war sehr klein, sehr ordentlich und sehr grau. Aber das störte uns nicht. Aus dem Fernseher strahlte ein amerikanisches Licht und in unseren Gläsern leuchtete Quench.


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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (25.06.23, 06:50)
Auf mich wirkt der Text professionell und spannungsreich im Aufbau. -
Meine Generation kennt ja die amerikanischen Lichtgestalten noch persönlich, die Care Pakete, die ersten hart ersparten Levis und Cola mit Rum (bäh!)
Das sitzt tief. Und es ist mir dehalb oft schwer gefallen, die andere Seite des unsagbar Guten zu sehen.

Viele Grüße
der8.
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