Startbahn

Text

von  Lilo

Wir fallen auseinander, dachte ich, als das Flugzeug rollte, unendlich langsam, wie mir schien. Ich sah nicht aus dem Fenster. Als Familie. Und jede und jeder für sich. Jetzt erst. Über dreißig Jahre nach der Trennung fallen wir auseinander. Das Flugzeug rollte noch immer. Es umfuhr die Hindernisse auf dem Weg zur Startbahn in großen Schlaufen. Ein paar Reihen hinter mir wimmerte ein Kleinkind. Ich hielt die Augen geschlossen. Ein paar Reihen vor mir wiederholte ein vermutlich älteres Kind immer wieder denselben Laut. Es klang wie krrrrrrreisch. Niemand bat es, still zu sein. Ich spürte etwas in mir aufsteigen. Ich hatte seit fünfzehn Tagen nicht geraucht. Aber das war es nicht. Seit wir auseinanderfielen, kamen unsere Stimmen von weit her, wenn wir uns anriefen. Ich hörte Erleichterung darin. Darüber, dass wir noch da waren. Beziehungsweise ich. Ich hörte die Erleichterung in den Stimmen der anderen. In meiner eigenen Stimme hörte ich nichts. Nichts von mir. Sie machte, was sie wollte. So war es immer gewesen seit der Trennung. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie ich ich davor gefühlt hatte. Ich begann mit der Trennung und hatte mit ihr aufgehört, ein Widerspruch in sich, den ich gedanklich nicht überwinden konnte. Ich begann erst, als ich mir fremd wurde. Die Beschleunigung traf mich plötzlich. Endlich waren wir auf der Startbahn angekommen. Als wir abhoben, schrie das Kleinkind ein paar Reihen hinter mir wie die Fahrgäste in einer Achterbahn. Wenn es nach unten geht.


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Kommentare zu diesem Text


 Redux (22.06.23, 19:39)
Eine sehr gute Kombination, die passt.
Schimmel (60)
(22.06.23, 21:28)
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