Hachschara

Erzählung

von  Quoth

Blatt15

Vilma an Gertrud

Darf ich noch liebe Gertrud zu Dir sagen, nachdem ich Dir so lange nicht geschrieben habe? Die Welt hat sich grundlegend gewandelt. Ob zum Besseren oder Schlimmeren, muss sich noch zeigen – ich befürchte, eher das Letztere. Die Lautstärke, mit der die Politiker brüllen, lässt nichts Gutes erwarten – und ich schreibe Dir auch nicht aus Röshof, sondern bin seit drei Jahren wieder in Hamburg, habe dort eine Gruppe 14-Jähriger im Kindertagesheim Fruchtallee, die mir ebenso viel Spaß wie Kummer macht, Kummer vor allem deshalb, weil sie aus den schrecklichen Verhältnissen des Gängeviertels stammen – rohe Gewalt und Unbildung, Kriminalität, Unzucht und Missbrauch von Anfang an, und das alles unter massivem Schnapskonsum. Oft lässt die Angst vor meiner Gruppe mich nicht einschlafen, und kaum schlafe ich, träume ich von mordlüsternen Gesellen, die über mich herfallen. Zum Glück habe ich meinen Ludwig, einen jungen Juristen, der demnächst sein zweites Staatsexamen macht. Er ist ein Jahr jünger als ich, und er blickt wirklich zu mir auf, denn er ist auch etwas kleiner. Mit ihm bin ich so gut wie verlobt, und obgleich ich arm bin wie eine Kirchenmaus, verehrt und liebt er mich mehr, als ich verdient habe. Ich schreibe nur kurz, weil ich das Gefühl habe, dieser Brief wird aus Himmelstein zurückkommen mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“. Seid Ihr tatsächlich nach Palästina ausgewandert? Verdenken könnte ich es Euch nicht, Familie Grünbach erwägt es auch und spart für die Kosten, ihr großer Junge besucht einen Kurs der Hachschara, in dem junge Juden landwirtschaftlich geschult werden. Möge es Dir gut gehen, liebe Gertrud – und ich hoffe sehr, noch einmal von Dir zu hören. Dein „maseltow“ hat nicht gewirkt, ja, manchmal denke ich abergläubisch, es hat das Böse herbeigerufen. Deine Vilma

(Wird fortgesetzt)



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