Damals, als ich durch die DDR fuhr
Tagebuch
von Gabyi
Kommentare zu diesem Text
Für uns gab es ja den berüchtigten Zwangsumtausch, unter dem ich aber wenig zu leiden hatte.
So kam ich doch günstig an wunderbare Bücher, manchmal sogar an Antiquarisches ...
So kam ich doch günstig an wunderbare Bücher, manchmal sogar an Antiquarisches ...
Auch darauf bist du stolz, nicht nur auf den Opa, der "in Ypern dabei war". Dachte ich mir schon, überheblich und stolz, den "Vopos" einen Streich gespielt zu habe. Es schüttelt mich.
@Achter, ich musste beim Transit zum Schluss 5 DM löhnen. Zwangsumtausch gab es bei der Einreise nach OstBerlin. Von dem Geld kaufte ich mir dann besagtes Pamphlet "Militärchemie". Und so schließen sich die Kreise
Danke fürs Empfehlen
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Taina (39)
(02.10.23, 20:40)
(02.10.23, 20:40)
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ich hatte das 4-Mächte-Abkommen auf meiner Seite. Andere aber haben auch anders gehandelt. Danke für die Empfehlung
Da kann ich zum Thema auch was beitragen. Ich musste in geheimer Mission (Buddhadharma im Osten) nach Ostberlin. Um nicht aufzufallen, rasierte ich den Bart ab, bedachte dabei aber nicht, daß der ja auf dem Personalausweis war. Bei der Einreise hat der Vopo endringlichst etliche male vom Bild aufs Original und zurück gestarrt, dann durfte ich irgendwann weiter.
Bei der Ausreise saß im Kabuff eine Vopöse, die vollzog dasselbe Ritual, wie ihr Kollege bei der Einreise. Dann sagte sie in strengem Ton: "Woher soll ich wissen, ob Sie das sind?"
Ich: "Ja dann muß ich wohl hierbleiben, bis der Bart wieder so aussieht, wie auf dem Foto."
In dem Moment glitt ein Lächeln über ihr ansonsten verhärmtes Gesicht und sie sagte wesentlich entspannter: "Machen Sie, daß Sie weiter kommen".
Bei der Ausreise saß im Kabuff eine Vopöse, die vollzog dasselbe Ritual, wie ihr Kollege bei der Einreise. Dann sagte sie in strengem Ton: "Woher soll ich wissen, ob Sie das sind?"
Ich: "Ja dann muß ich wohl hierbleiben, bis der Bart wieder so aussieht, wie auf dem Foto."
In dem Moment glitt ein Lächeln über ihr ansonsten verhärmtes Gesicht und sie sagte wesentlich entspannter: "Machen Sie, daß Sie weiter kommen".
Dieter Wal (58) äußerte darauf am 03.10.23 um 14:20:
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da habe ich auch noch eine Anekdote in "die matten Momente dazwischen" mit der rosa Zookarte.
Antwort geändert am 03.10.2023 um 16:15 Uhr
Laß lesen!
In der Geschichte: "Die matten Momente dazwischen".
Hallo Gabyi,
ein Text, der auf wundersame Weise zum Vorabend des Tages der Deutschen Einheit passt. In der Nähe von Kyritz liegt das Dorf Viesecke, in dem wir als Studenten vielleicht zur gleichen Zeit drei Wochen lang Kartoffeln nachlesen mussten. Von all unseren Studienkollegen hatte übrigens kein einziger ein Auto. Nur nebenbei.
Ich stelle mich hier auch ausdrücklich nicht mit Rosalinde auf eine Stufe, weil solche Anreden wie „Mein Freundchen“ nicht meine Welt sind, und gewisse Ansichten auch nicht in mein Weltbild gehören. Aber dein Text hat mir doch die Arroganz und Überheblichkeit von Leuten wieder vor Augen geführt, die 33 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch nicht begriffen haben, dass sie kulturell längst nicht vollzogen ist.
Ich erlaube mir deshalb, einen Artikel der Berliner Zeitung von gestern beizufügen, den du lesen kannst oder auch nicht, der aber stellvertretend die Ansichten widerspiegelt, für die 1989/1990 wohl vergeblich Leute auf die Straßen gezogen sind, weil sie glaubten, für etwas Gutes zu demonstrieren.
Der Ostdeutsche: Jetzt spricht er nicht nur Russisch, jetzt ist er auch noch wütend
33 Jahre nach der Einheit steht Deutschland vor einem Umbruch. Aber die Westdeutschen machen einfach weiter und die Ostdeutschen hacken aufeinander herum.
02.10.2023 | 16:43 Uhr von Anna Reich Berliner Zeitung
D ies ist ein Text zum Spezial zum Tag der Deutschen Einheit, den die Redaktion der Berliner Zeitung zusammengestellt hat. Lesen Sie alle Texte online hier.
Als die Anfrage von Jessy Wellmer eintraf, bekam ich einen Schreck. Sie wollte bei einer Veranstaltung mit Dirk Oschmann im Berliner Pfefferberg-Theater drehen. Ich war die Moderatorin. Es sollte um „ostdeutsche Identitätsfragen“ gehen, für eine „Prime-Time-Dokumentation“ in der ARD.
Jessy Wellmer ist Sportmoderatorin, berichtet aber seit kurzem auch über ihre ostdeutschen Landsleute. Vor einem Jahr fuhr sie durchs Land, um herauszufinden, warum Menschen wie ihre Eltern eine andere Sicht auf den Krieg in der Ukraine und Waffenlieferungen dorthin hatten als die Westdeutschen. Der Film hieß „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“. Ihre Fragen waren ungläubig, ihr Blick staunend. Als sei sie aus einer Art Deutschlandschlaf erwacht.
Der Zooblick ist immer nur auf den Osten gerichtet
Ich wurde das Gefühl nicht los, das ich oft bei Reportagen über den Osten bekomme: Ich nehme an einer Zooführung teil. Dem westdeutschen Publikum wird erklärt, was mit den Ostdeutschen nicht stimmt. Warum sie zwar die gleiche Sprache sprechen, aber seltsame Dinge sagen. Wie eine Spezies, die es zu erforschen, aber auch zu zähmen gilt, weil sie gefährlich werden könnte.
Ich stelle mir dann manchmal vor, es wäre andersherum: Ein westdeutscher Sportreporter befragt seine Landsleute in Sindelfingen oder Buxtehude, um herauszubekommen, wie sich der Kalte Krieg auf deren Amerika-Bild ausgewirkt hat, warum sie zusehen, wie die USA Kriege führen wie im Irak, die sie „Militäroperationen“ nennen. Aber der Zooblick ist immer nur auf den Osten gerichtet. Oder wie Dirk Oschmann sagt: „Der Westen begreift sich stets als Norm.“ Der Osten sei in dieser Systematik die „Abnormität“, ein Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereite. Besonders störe es, wenn das Geschwür sich regt, weil jemand aus dem Osten spreche. Jemand wie er.
Oschmann ist Literaturprofessor in Leipzig und – ähnlich wie Wellmer – 30 Jahre nach der deutschen Einheit aus einem langen Schlaf erwacht. Er sollte eine Rede zum 3. Oktober halten und beim Schreiben brach die Wut aus ihm heraus, über die Benachteiligung der Ostdeutschen, über die Art und Weise, wie der Diskurs über den Osten geführt wird: „zynisch, herablassend, selbstgefällig“.
Aus der Rede wurden ein Artikel und schließlich ein Buch. „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ erschien Ende Februar und schaffte es sofort auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, obwohl es zu mehr als 80 Prozent im Osten gekauft wurde. Oschmann hatte bei seinen Landsleuten einen Nerv getroffen. Auch aus ihnen schien nun etwas herauszubrechen.
Arroganz und Siegermentalität
Die Redaktion der Berliner Zeitung berichtete und erhielt eine Flut von Mails, in denen Leser von ihren eigenen Erfahrungen nach der Wende erzählten. Wie sie ihre Jobs verloren, wie ihre Studienabschlüsse nicht anerkannt wurden, sie beklagten die Arroganz und Siegermentalität der Westdeutschen.
Wir veröffentlichten die Briefe, es folgten weitere – eine Kettenreaktion, die zeigte, wie viel Frust sich angestaut hatte. Das war neu, das war großartig, und wichtig war es auch. Das wusste ich, weil ich in der DDR erlebt hatte, dass ein Staat untergehen kann, wenn er seinen Kritikern keine Stimme gibt. Aber auch, weil ich nach Donald Trumps Wahlsieg in New York gesehen hatte, wie schockiert alle waren, die Linken, die Journalisten, meine Freunde. Über Trumps Erfolg, aber auch über sich selbst. Dass sie die Gefahr nicht erkannt und es versäumt hatten, den Leuten, die ihn gewählt hatten, zuzuhören. Sie hatten die Macht der Ungehörten unterschätzt.
Auch darüber wollte ich mit Dirk Oschmann reden. Die Veranstaltung war seit Wochen ausverkauft, das ARD-Team fand gerade noch Platz. Von der Bühne aus sah ich die Kameras nicht, aber ich hatte sie im Kopf und auch die Sorge, Jessy Wellmers neuer Film würde in eine ähnliche Richtung gehen wie ihre „Putin“-Doku: der Ostdeutsche als seltsames, gefährliches Wesen. Jetzt spricht er nicht nur Russisch, jetzt ist er auch noch wütend.
Um ehrlich zu sein, war es mehr Gewissheit als Sorge. Jemand aus dem ARD-Team hatte es am Telefon angedeutet, und auch Oschmann selbst. Er war ein paar Tage zuvor von Wellmer interviewt worden, sie hatte ihm vorgeworfen, eine Wutbibel geschrieben zu haben, ein Handbuch zur Verweigerung, das die Skepsis gegenüber der Demokratie im Osten noch befeuere.
Ich kam mir vor, als sehe ich bei einem Schachspiel zu. Einem Kampf zwischen zwei Menschen, die beide aus dem Osten kamen, sich mit den gleichen Fragen beschäftigten, aber auf verschiedenen Seiten standen. Wellmer suchte die Fehler im Osten, Oschmann im Westen. Wellmer gab sich betont ahnungslos, Oschmann betont wütend. Wellmer wurde von Westdeutschen gelobt, Oschmann von Ostdeutschen. Zwei Landsleute, zwei Rivalen. Bei dem Schachspiel war an diesem Abend Oschmann am Zug, aber Wellmer bereitete ihren Gegenzug bereits vor. Fürs Primetime-TV.
Statt eine große gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, was schiefgegangen ist in den letzten 33 Jahren und was man in Zukunft besser machen kann, werden Schuldige gesucht. Und ostdeutsche Männer, die Wutbücher schreiben, sind besonders verdächtig.
Solidarität untereinander ist den Ostdeutschen fremd
Die Schriftstellerin Anne Rabe, die gerade auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht, machte sich im März dieses Jahres auf Twitter über Oschmanns Feststellung lustig, kaum eine gesellschaftliche Gruppe sei nach 1990 so benachteiligt worden wie ostdeutsche Männer, weil es ihnen „schlicht an Position, Vermögen und Karriereaussichten“ mangele. Sie spitzte seine Aussage zu, machte aus den ostdeutschen Männern „problematische Männer“, „gewaltbereite und gewalttätige Nazis“, vom Westen „erfunden/konstruiert“. Den Tweet hat sie später gelöscht, aber der Ton ist gesetzt. Man hört es immer wieder und immer öfter: Oschmann spalte mit seinen Thesen das Land, stehe in der rechten Ecke, mache gemeinsame Sache mit der AfD.
Auch das gehört zu den Phänomenen 33 Jahre nach der deutschen Einheit: dass Ostdeutsche sich gegenseitig zerfleischen und die Westdeutschen nur noch zusehen. Große Unterhaltung, bestimmt. Ostdeutsche sind misstrauisch, widerspenstig, kompliziert. Sie haben den autoritären Überwachungsstaat, aus dem sie kommen, gestürzt, sie wollten Reformen, wählten die D-Mark. Die Folgen wurden von einigen Ostdeutschen immer wieder beschrieben, mit wenig Erfolg. Und nun auch von Oschmann, mit großem Erfolg. Aber statt die Chance zu nutzen, sich gegenseitig zu unterstützen, hacken sie aufeinander herum. Werfen Oschmann vor, zu spät, zu wütend, zu undifferenziert zu sein. Solidarität untereinander scheint Ostdeutschen fremd zu sein, wie das oft ist in Gruppen, die zu den benachteiligten in der Gesellschaft gehören.
Das wäre eine Erklärung dafür, warum der zweite große Ost-Bestseller dieses Jahres, Katja Hoyers DDR-Geschichtsbuch „Diesseits der Mauer“, verrissen wird, als sei darin Lenin aus seinem Mausoleum auferstanden. „Sozialismus in Pastell“, schreibt der Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung spricht von „dubiosen Kronzeugen“ und die taz wirft der Autorin vor, Tochter einer DDR-Lehrerin und eines NVA-Offiziers zu sein, also eines „Systemträgerehepaars“.
Hoyer wurde 1985 in der DDR geboren, arbeitet als Historikerin und lebt in England. In ihrem Vorwort erklärt sie: „Geschichte wird von Siegern geschrieben.“ Es sei an der Zeit, einen neuen Blick auf die DDR zu wagen.
Man könnte sich freuen über diesen Blick, ihn annehmen, kritisieren und diskutieren. Das passiert, aber nicht oft. Einige ihrer Kritiker scheint vor allem zu ärgern, dass sie für ihr Buch keinen Antrag bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gestellt und mit Leuten wie Frank Schöbel und Egon Krenz gesprochen hat. Einem Schlagersänger und einem Staatsratsvorsitzenden. Dass sie sich ihre eigenen Zeitzeugen sucht und sich in England, wo sie ihre Texte verfasst, dem Einfluss derjenigen entzieht, die sonst den historischen Diskurs bestimmen.
Sahra Wagenknecht, die schwertschwingende Frau
In der Kritik schwingt, so kommt es mir vor, mitunter auch ein wenig die Furcht mit, dass die DDR den Kalten Krieg doch nicht verloren hat, dass der Sozialismus noch einmal zurückkommen könnte. Wie eine schwertschwingende Frau. In Gestalt von Sahra Wagenknecht. Noch so eine seltsame Person aus diesem untergegangenen Land, die nervt, die sich einmischt, keine Ruhe gibt. Egal, wie heftig sie in den Talkshows attackiert wird und wie viele Gäste eingeladen werden, um sie in die rechte oder in die Putin-Ecke zu stellen. Wagenknecht geht weiter hin, sagt, was sie denkt. Und wird am nächsten Morgen dafür – jede Wette – auf Spiegel Online auseinandergenommen.
Wenn ich das sehe und lese, frage ich mich, ob in den Redaktionen niemand auf die Idee kommt, sie könnten damit genau das Gegenteil erreichen von dem, was sie erreichen wollen: Die Zuschauer überzeugen, dass Deutschland in der Krise steckt, aber Demokratie, Wirtschaft und Staat funktionieren. Damit bei den nächsten Wahlen dann hoffentlich doch nicht so viele der AfD ihre Stimme geben. Oder der neuen Wagenknecht-Partei.
Manchmal habe ich den Eindruck, Sahra Wagenknecht kalkuliert diesen Effekt. Sie weiß, dass sie von allen Seiten beschimpft wird, wenn sie zu Anne Will in die Sendung geht, aber sie weiß auch, dass es ihr nutzt. Dass sich Zuschauer aus dem Osten auf ihre Seite schlagen, weil sie glauben, dass diese Frau so ausgegrenzt wird wie sie selbst.
Deutschland wird sich verändern, die neuesten Umfragen zeigen das. Die AfD liegt im Osten in vier von fünf Bundesländern vorn. Klar hat das mit Tendenzen zu tun, die es auch in anderen Ländern gibt: Angst vor Globalisierung, vor Inflation, vor Krieg, vor Flüchtlingen. Aber die Ursachen liegen auch in Deutschland selbst. 67 Prozent der Ostdeutschen sagen, sie tendierten zur AfD, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind.
Ich finde das extrem besorgniserregend. Genauso wie die Ignoranz und Routine, mit der darauf reagiert wird: das Feuer austreten, die Wütenden zum Schweigen bringen, sie belehren und umerziehen, statt ihnen zuzuhören. Der Radiosender Radio eins lädt zu einer Diskussionsrunde über „Demokratieverdruss und Ampelfrust“ ausschließlich Westdeutsche aufs Podium ein. Im Juni dieses Jahres wurde in Hamburg der Deutsche Sachbuchpreis verliehen. In der Jury saß kein einziger Ostdeutscher. Dirk Oschmann, der das erfolgreichste Sachbuch des Jahres geschrieben hat, war nicht mal nominiert.
Jurys und Preise: Gefeiert wird die richtige Haltung
Zur Jury des Deutschen Buchpreises, der in Kürze in Frankfurt am Main verliehen wird, gehören sieben Westdeutsche und ein Ostdeutscher, der allerdings 1981 im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie in den Westen umgesiedelt ist. Auf der Longlist standen drei Bücher über den Osten. Das eine wurde von Angelika Klüssendorf geschrieben und handelt von einem schweren Kinderleben in der DDR. Im zweiten, von Charlotte Gneuß, einer jungen Westdeutschen, verfasst, geht es um Republikflucht und Stasi-Verrat. Das dritte ist von Anne Rabe, der Autorin mit dem Nazi-Tweet über die ostdeutschen Männer. In ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ rechnet sie mit der DDR und der Nachwendezeit ab. Stasi, Jugendwerkhöfe, NSU, Amoklauf in Erfurt. Der Osten ist an allem schuld, das ist die Botschaft. Im Westen hört man das gern.
Das Preisgeschäft läuft so, auch das gehört zu den Erkenntnissen im Nachwendejahr 33. Gefeiert wird die richtige Haltung – Flucht-, Opfer-, Widerstandsgeschichten. Ines Geipel, Lutz Seiler, Helga Schubert, Anne Rabe. Wozu das führt, habe ich einmal beim Interview mit einer erfolgreichen Schriftstellerin erlebt, die sich lautstark über die Arroganz des Westens und die Benachteiligung der Ostdeutschen beklagte. Ein ehrliches, wütendes Interview. Aber als ich es ihr zur Autorisierung schickte, strich sie die wütenden Passagen raus. Aus Angst vor den Kritiken, den Konsequenzen.
Auch ich spüre diese Angst. Beim Schreiben dieses Textes spüre ich sie, bewundere Oschmann für seine Standhaftigkeit und beneide Katja Hoyer darum, in England zu sein, weit weg. Wie oft wünsche ich mir, diesen ganzen Einheitskram hinter mir zu lassen. Nicht mehr über diese Themen zu schreiben, nicht länger auf diesem dünnen Seil zu balancieren, überlegen zu müssen, was dem Westen zumutbar ist und was nicht. Man ist immer „der aus dem Osten, der spricht“, der „gewärtig sein muss, dass sein Sprechen erst dann zählt, wenn es auch vom Westen aus Zustimmung erfährt, als sei allein der Westen wahrheitsfähig“, sagt Dirk Oschmann auf der Bühne des Pfefferberg-Theaters.
Was denkt Jessy Wellmer, wenn sie das hört?, frage ich mich. Hat sie nie diese Erfahrung gemacht, die Oschmann beschreibt? Ist sie so naiv, wie ihre Fragen klingen? Glaubt sie wirklich, der Literaturprofessor könnte das Land spalten, einen Volksaufstand von rechts auslösen? Ist sie ins Theater gekommen, um das zu beweisen?
Sie war zehn, als die Mauer fiel, ist als junge Frau weggegangen aus dem Osten, wie so viele in den Neunzigern, hat die Welt bereist als Sportreporterin und kommt nun wieder zurück. Macht große Reportagen über das Land, in dem sie geboren wurde, für einen großen Fernsehsender. Ihre Chefs scheinen zufrieden zu sein mit ihr. Ein paar Tage vor der Oschmann-Veranstaltung wurde bekannt, dass Jessy Wellmer die neue „Tagesthemen“-Moderatorin wird.
Die Kameras laufen, Oschmann liest aus seinem Buch. Er erzählt, dass er bisher nur zu einer einzigen Lesung im Westen eingeladen war, und das auch nur, weil ein Freund die für ihn organisiert hat. Der Westen ignoriere sein Buch, sagt er, zwei Freunde hätten sich von ihm abgewendet. Er wirkt betroffen und entschieden. Das Publikum klatscht, stellt Fragen, berichtet von eigenen Erfahrungen. Ein guter Abend. Und zum Schluss denke ich, dass auch der Film gut wird, dass meine Skepsis unnötig war.
Dann sehe ich ihn, drei Monate später. Montag, 20.15 Uhr, ARD-Themenabend zum Tag der Deutschen Einheit. Der Titel klingt wie ein Manifest: „Hört uns zu“. Die Interviewten sind ehrlich und direkt. Steffen Baumgart, Trainer des 1. FC Köln, sagt, Leuten, die ihm erklären wollten, wie seine Kindheit im Osten war, erkläre er, sie sollten ihre Klappe halten. Ein alter Mann aus Sachsen antwortet auf die Frage, ob Ost und West nicht ein bisschen zusammenkommen könnten: „Als müssten das die Ostler entscheiden!“
„Deutschland ist ein föderaler Nationalstaat, nicht mehr“
Der Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak sagt, dieses Land sei auf einer politischen Verwaltungsebene vereinigt worden. Wir seien ein föderaler Nationalstaat, nicht mehr und nicht weniger, müssten uns von der Vorstellung verabschieden, auch kulturell vereinigt zu sein. Alles angenehm unaufgeregt.
Die Zahlen sagen das Übrige. Das durchschnittliche Vermögen eines Haushalts im Osten beträgt 43.000 Euro, im Westen ist es das Dreifache, nämlich 128.000 Euro. Groß sind auch die Unterschiede bei den Erbschaften (Durchschnitt im Osten: 52.000, im Westen: 92.000 Euro) und beim Lohn (Osten 45.000, Westen 58.000 Euro). Drei Viertel der Ostdeutschen hatten 1994 einen anderen Job als 1989.
62 Prozent der Ostdeutschen sagen, Ost und West seien gar nicht zusammengewachsen. 40 Prozent fühlen sich eher als Ostdeutsche denn als Deutsche. 68 Prozent der Ostdeutschen, die nach 1989 geboren wurden, sind dem Osten „besonders verbunden“.
Dirk Oschmann ist in Wellmers Film mit der wütendsten Passage, die er am Pfefferberg vorgelesen hat, vertreten: der Osten als Geschwür. Anschließend wird eine Zuschauerin interviewt. Sie sagt, dass sie jetzt auch wütend ist. Ihr sei gerade klar geworden, die Diskriminierung der Ostdeutschen existiere noch immer. Sie schlucke das nicht mehr, sie mache das zum Thema.
Es ist eingetreten, was ich befürchtet hatte. Aus zwei Stunden Filmmaterial, Lesung und Diskussion hat die ARD-Reporterin die Stelle herausgesucht, die am besten zu ihrer These passt. Oschmann ist der Einheizer der Ostdeutschen, die Zuschauerin wirkt wie ein Beweis. Im Interview wirft Wellmer dem Buchautor „Frontenbildung“ vor. Sie steht, er sitzt. Später gehen sie spazieren, verabschieden sich auf einer Brücke, laufen los – in entgegengesetzte Richtungen.
Viele Grüße zum Tag der Deutschen Einheit von Gil.
ein Text, der auf wundersame Weise zum Vorabend des Tages der Deutschen Einheit passt. In der Nähe von Kyritz liegt das Dorf Viesecke, in dem wir als Studenten vielleicht zur gleichen Zeit drei Wochen lang Kartoffeln nachlesen mussten. Von all unseren Studienkollegen hatte übrigens kein einziger ein Auto. Nur nebenbei.
Ich stelle mich hier auch ausdrücklich nicht mit Rosalinde auf eine Stufe, weil solche Anreden wie „Mein Freundchen“ nicht meine Welt sind, und gewisse Ansichten auch nicht in mein Weltbild gehören. Aber dein Text hat mir doch die Arroganz und Überheblichkeit von Leuten wieder vor Augen geführt, die 33 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch nicht begriffen haben, dass sie kulturell längst nicht vollzogen ist.
Ich erlaube mir deshalb, einen Artikel der Berliner Zeitung von gestern beizufügen, den du lesen kannst oder auch nicht, der aber stellvertretend die Ansichten widerspiegelt, für die 1989/1990 wohl vergeblich Leute auf die Straßen gezogen sind, weil sie glaubten, für etwas Gutes zu demonstrieren.
Der Ostdeutsche: Jetzt spricht er nicht nur Russisch, jetzt ist er auch noch wütend
33 Jahre nach der Einheit steht Deutschland vor einem Umbruch. Aber die Westdeutschen machen einfach weiter und die Ostdeutschen hacken aufeinander herum.
02.10.2023 | 16:43 Uhr von Anna Reich Berliner Zeitung
D ies ist ein Text zum Spezial zum Tag der Deutschen Einheit, den die Redaktion der Berliner Zeitung zusammengestellt hat. Lesen Sie alle Texte online hier.
Als die Anfrage von Jessy Wellmer eintraf, bekam ich einen Schreck. Sie wollte bei einer Veranstaltung mit Dirk Oschmann im Berliner Pfefferberg-Theater drehen. Ich war die Moderatorin. Es sollte um „ostdeutsche Identitätsfragen“ gehen, für eine „Prime-Time-Dokumentation“ in der ARD.
Jessy Wellmer ist Sportmoderatorin, berichtet aber seit kurzem auch über ihre ostdeutschen Landsleute. Vor einem Jahr fuhr sie durchs Land, um herauszufinden, warum Menschen wie ihre Eltern eine andere Sicht auf den Krieg in der Ukraine und Waffenlieferungen dorthin hatten als die Westdeutschen. Der Film hieß „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“. Ihre Fragen waren ungläubig, ihr Blick staunend. Als sei sie aus einer Art Deutschlandschlaf erwacht.
Der Zooblick ist immer nur auf den Osten gerichtet
Ich wurde das Gefühl nicht los, das ich oft bei Reportagen über den Osten bekomme: Ich nehme an einer Zooführung teil. Dem westdeutschen Publikum wird erklärt, was mit den Ostdeutschen nicht stimmt. Warum sie zwar die gleiche Sprache sprechen, aber seltsame Dinge sagen. Wie eine Spezies, die es zu erforschen, aber auch zu zähmen gilt, weil sie gefährlich werden könnte.
Ich stelle mir dann manchmal vor, es wäre andersherum: Ein westdeutscher Sportreporter befragt seine Landsleute in Sindelfingen oder Buxtehude, um herauszubekommen, wie sich der Kalte Krieg auf deren Amerika-Bild ausgewirkt hat, warum sie zusehen, wie die USA Kriege führen wie im Irak, die sie „Militäroperationen“ nennen. Aber der Zooblick ist immer nur auf den Osten gerichtet. Oder wie Dirk Oschmann sagt: „Der Westen begreift sich stets als Norm.“ Der Osten sei in dieser Systematik die „Abnormität“, ein Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereite. Besonders störe es, wenn das Geschwür sich regt, weil jemand aus dem Osten spreche. Jemand wie er.
Oschmann ist Literaturprofessor in Leipzig und – ähnlich wie Wellmer – 30 Jahre nach der deutschen Einheit aus einem langen Schlaf erwacht. Er sollte eine Rede zum 3. Oktober halten und beim Schreiben brach die Wut aus ihm heraus, über die Benachteiligung der Ostdeutschen, über die Art und Weise, wie der Diskurs über den Osten geführt wird: „zynisch, herablassend, selbstgefällig“.
Aus der Rede wurden ein Artikel und schließlich ein Buch. „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ erschien Ende Februar und schaffte es sofort auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, obwohl es zu mehr als 80 Prozent im Osten gekauft wurde. Oschmann hatte bei seinen Landsleuten einen Nerv getroffen. Auch aus ihnen schien nun etwas herauszubrechen.
Arroganz und Siegermentalität
Die Redaktion der Berliner Zeitung berichtete und erhielt eine Flut von Mails, in denen Leser von ihren eigenen Erfahrungen nach der Wende erzählten. Wie sie ihre Jobs verloren, wie ihre Studienabschlüsse nicht anerkannt wurden, sie beklagten die Arroganz und Siegermentalität der Westdeutschen.
Wir veröffentlichten die Briefe, es folgten weitere – eine Kettenreaktion, die zeigte, wie viel Frust sich angestaut hatte. Das war neu, das war großartig, und wichtig war es auch. Das wusste ich, weil ich in der DDR erlebt hatte, dass ein Staat untergehen kann, wenn er seinen Kritikern keine Stimme gibt. Aber auch, weil ich nach Donald Trumps Wahlsieg in New York gesehen hatte, wie schockiert alle waren, die Linken, die Journalisten, meine Freunde. Über Trumps Erfolg, aber auch über sich selbst. Dass sie die Gefahr nicht erkannt und es versäumt hatten, den Leuten, die ihn gewählt hatten, zuzuhören. Sie hatten die Macht der Ungehörten unterschätzt.
Auch darüber wollte ich mit Dirk Oschmann reden. Die Veranstaltung war seit Wochen ausverkauft, das ARD-Team fand gerade noch Platz. Von der Bühne aus sah ich die Kameras nicht, aber ich hatte sie im Kopf und auch die Sorge, Jessy Wellmers neuer Film würde in eine ähnliche Richtung gehen wie ihre „Putin“-Doku: der Ostdeutsche als seltsames, gefährliches Wesen. Jetzt spricht er nicht nur Russisch, jetzt ist er auch noch wütend.
Um ehrlich zu sein, war es mehr Gewissheit als Sorge. Jemand aus dem ARD-Team hatte es am Telefon angedeutet, und auch Oschmann selbst. Er war ein paar Tage zuvor von Wellmer interviewt worden, sie hatte ihm vorgeworfen, eine Wutbibel geschrieben zu haben, ein Handbuch zur Verweigerung, das die Skepsis gegenüber der Demokratie im Osten noch befeuere.
Ich kam mir vor, als sehe ich bei einem Schachspiel zu. Einem Kampf zwischen zwei Menschen, die beide aus dem Osten kamen, sich mit den gleichen Fragen beschäftigten, aber auf verschiedenen Seiten standen. Wellmer suchte die Fehler im Osten, Oschmann im Westen. Wellmer gab sich betont ahnungslos, Oschmann betont wütend. Wellmer wurde von Westdeutschen gelobt, Oschmann von Ostdeutschen. Zwei Landsleute, zwei Rivalen. Bei dem Schachspiel war an diesem Abend Oschmann am Zug, aber Wellmer bereitete ihren Gegenzug bereits vor. Fürs Primetime-TV.
Statt eine große gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, was schiefgegangen ist in den letzten 33 Jahren und was man in Zukunft besser machen kann, werden Schuldige gesucht. Und ostdeutsche Männer, die Wutbücher schreiben, sind besonders verdächtig.
Solidarität untereinander ist den Ostdeutschen fremd
Die Schriftstellerin Anne Rabe, die gerade auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht, machte sich im März dieses Jahres auf Twitter über Oschmanns Feststellung lustig, kaum eine gesellschaftliche Gruppe sei nach 1990 so benachteiligt worden wie ostdeutsche Männer, weil es ihnen „schlicht an Position, Vermögen und Karriereaussichten“ mangele. Sie spitzte seine Aussage zu, machte aus den ostdeutschen Männern „problematische Männer“, „gewaltbereite und gewalttätige Nazis“, vom Westen „erfunden/konstruiert“. Den Tweet hat sie später gelöscht, aber der Ton ist gesetzt. Man hört es immer wieder und immer öfter: Oschmann spalte mit seinen Thesen das Land, stehe in der rechten Ecke, mache gemeinsame Sache mit der AfD.
Auch das gehört zu den Phänomenen 33 Jahre nach der deutschen Einheit: dass Ostdeutsche sich gegenseitig zerfleischen und die Westdeutschen nur noch zusehen. Große Unterhaltung, bestimmt. Ostdeutsche sind misstrauisch, widerspenstig, kompliziert. Sie haben den autoritären Überwachungsstaat, aus dem sie kommen, gestürzt, sie wollten Reformen, wählten die D-Mark. Die Folgen wurden von einigen Ostdeutschen immer wieder beschrieben, mit wenig Erfolg. Und nun auch von Oschmann, mit großem Erfolg. Aber statt die Chance zu nutzen, sich gegenseitig zu unterstützen, hacken sie aufeinander herum. Werfen Oschmann vor, zu spät, zu wütend, zu undifferenziert zu sein. Solidarität untereinander scheint Ostdeutschen fremd zu sein, wie das oft ist in Gruppen, die zu den benachteiligten in der Gesellschaft gehören.
Das wäre eine Erklärung dafür, warum der zweite große Ost-Bestseller dieses Jahres, Katja Hoyers DDR-Geschichtsbuch „Diesseits der Mauer“, verrissen wird, als sei darin Lenin aus seinem Mausoleum auferstanden. „Sozialismus in Pastell“, schreibt der Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung spricht von „dubiosen Kronzeugen“ und die taz wirft der Autorin vor, Tochter einer DDR-Lehrerin und eines NVA-Offiziers zu sein, also eines „Systemträgerehepaars“.
Hoyer wurde 1985 in der DDR geboren, arbeitet als Historikerin und lebt in England. In ihrem Vorwort erklärt sie: „Geschichte wird von Siegern geschrieben.“ Es sei an der Zeit, einen neuen Blick auf die DDR zu wagen.
Man könnte sich freuen über diesen Blick, ihn annehmen, kritisieren und diskutieren. Das passiert, aber nicht oft. Einige ihrer Kritiker scheint vor allem zu ärgern, dass sie für ihr Buch keinen Antrag bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gestellt und mit Leuten wie Frank Schöbel und Egon Krenz gesprochen hat. Einem Schlagersänger und einem Staatsratsvorsitzenden. Dass sie sich ihre eigenen Zeitzeugen sucht und sich in England, wo sie ihre Texte verfasst, dem Einfluss derjenigen entzieht, die sonst den historischen Diskurs bestimmen.
Sahra Wagenknecht, die schwertschwingende Frau
In der Kritik schwingt, so kommt es mir vor, mitunter auch ein wenig die Furcht mit, dass die DDR den Kalten Krieg doch nicht verloren hat, dass der Sozialismus noch einmal zurückkommen könnte. Wie eine schwertschwingende Frau. In Gestalt von Sahra Wagenknecht. Noch so eine seltsame Person aus diesem untergegangenen Land, die nervt, die sich einmischt, keine Ruhe gibt. Egal, wie heftig sie in den Talkshows attackiert wird und wie viele Gäste eingeladen werden, um sie in die rechte oder in die Putin-Ecke zu stellen. Wagenknecht geht weiter hin, sagt, was sie denkt. Und wird am nächsten Morgen dafür – jede Wette – auf Spiegel Online auseinandergenommen.
Wenn ich das sehe und lese, frage ich mich, ob in den Redaktionen niemand auf die Idee kommt, sie könnten damit genau das Gegenteil erreichen von dem, was sie erreichen wollen: Die Zuschauer überzeugen, dass Deutschland in der Krise steckt, aber Demokratie, Wirtschaft und Staat funktionieren. Damit bei den nächsten Wahlen dann hoffentlich doch nicht so viele der AfD ihre Stimme geben. Oder der neuen Wagenknecht-Partei.
Manchmal habe ich den Eindruck, Sahra Wagenknecht kalkuliert diesen Effekt. Sie weiß, dass sie von allen Seiten beschimpft wird, wenn sie zu Anne Will in die Sendung geht, aber sie weiß auch, dass es ihr nutzt. Dass sich Zuschauer aus dem Osten auf ihre Seite schlagen, weil sie glauben, dass diese Frau so ausgegrenzt wird wie sie selbst.
Deutschland wird sich verändern, die neuesten Umfragen zeigen das. Die AfD liegt im Osten in vier von fünf Bundesländern vorn. Klar hat das mit Tendenzen zu tun, die es auch in anderen Ländern gibt: Angst vor Globalisierung, vor Inflation, vor Krieg, vor Flüchtlingen. Aber die Ursachen liegen auch in Deutschland selbst. 67 Prozent der Ostdeutschen sagen, sie tendierten zur AfD, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind.
Ich finde das extrem besorgniserregend. Genauso wie die Ignoranz und Routine, mit der darauf reagiert wird: das Feuer austreten, die Wütenden zum Schweigen bringen, sie belehren und umerziehen, statt ihnen zuzuhören. Der Radiosender Radio eins lädt zu einer Diskussionsrunde über „Demokratieverdruss und Ampelfrust“ ausschließlich Westdeutsche aufs Podium ein. Im Juni dieses Jahres wurde in Hamburg der Deutsche Sachbuchpreis verliehen. In der Jury saß kein einziger Ostdeutscher. Dirk Oschmann, der das erfolgreichste Sachbuch des Jahres geschrieben hat, war nicht mal nominiert.
Jurys und Preise: Gefeiert wird die richtige Haltung
Zur Jury des Deutschen Buchpreises, der in Kürze in Frankfurt am Main verliehen wird, gehören sieben Westdeutsche und ein Ostdeutscher, der allerdings 1981 im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie in den Westen umgesiedelt ist. Auf der Longlist standen drei Bücher über den Osten. Das eine wurde von Angelika Klüssendorf geschrieben und handelt von einem schweren Kinderleben in der DDR. Im zweiten, von Charlotte Gneuß, einer jungen Westdeutschen, verfasst, geht es um Republikflucht und Stasi-Verrat. Das dritte ist von Anne Rabe, der Autorin mit dem Nazi-Tweet über die ostdeutschen Männer. In ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ rechnet sie mit der DDR und der Nachwendezeit ab. Stasi, Jugendwerkhöfe, NSU, Amoklauf in Erfurt. Der Osten ist an allem schuld, das ist die Botschaft. Im Westen hört man das gern.
Das Preisgeschäft läuft so, auch das gehört zu den Erkenntnissen im Nachwendejahr 33. Gefeiert wird die richtige Haltung – Flucht-, Opfer-, Widerstandsgeschichten. Ines Geipel, Lutz Seiler, Helga Schubert, Anne Rabe. Wozu das führt, habe ich einmal beim Interview mit einer erfolgreichen Schriftstellerin erlebt, die sich lautstark über die Arroganz des Westens und die Benachteiligung der Ostdeutschen beklagte. Ein ehrliches, wütendes Interview. Aber als ich es ihr zur Autorisierung schickte, strich sie die wütenden Passagen raus. Aus Angst vor den Kritiken, den Konsequenzen.
Auch ich spüre diese Angst. Beim Schreiben dieses Textes spüre ich sie, bewundere Oschmann für seine Standhaftigkeit und beneide Katja Hoyer darum, in England zu sein, weit weg. Wie oft wünsche ich mir, diesen ganzen Einheitskram hinter mir zu lassen. Nicht mehr über diese Themen zu schreiben, nicht länger auf diesem dünnen Seil zu balancieren, überlegen zu müssen, was dem Westen zumutbar ist und was nicht. Man ist immer „der aus dem Osten, der spricht“, der „gewärtig sein muss, dass sein Sprechen erst dann zählt, wenn es auch vom Westen aus Zustimmung erfährt, als sei allein der Westen wahrheitsfähig“, sagt Dirk Oschmann auf der Bühne des Pfefferberg-Theaters.
Was denkt Jessy Wellmer, wenn sie das hört?, frage ich mich. Hat sie nie diese Erfahrung gemacht, die Oschmann beschreibt? Ist sie so naiv, wie ihre Fragen klingen? Glaubt sie wirklich, der Literaturprofessor könnte das Land spalten, einen Volksaufstand von rechts auslösen? Ist sie ins Theater gekommen, um das zu beweisen?
Sie war zehn, als die Mauer fiel, ist als junge Frau weggegangen aus dem Osten, wie so viele in den Neunzigern, hat die Welt bereist als Sportreporterin und kommt nun wieder zurück. Macht große Reportagen über das Land, in dem sie geboren wurde, für einen großen Fernsehsender. Ihre Chefs scheinen zufrieden zu sein mit ihr. Ein paar Tage vor der Oschmann-Veranstaltung wurde bekannt, dass Jessy Wellmer die neue „Tagesthemen“-Moderatorin wird.
Die Kameras laufen, Oschmann liest aus seinem Buch. Er erzählt, dass er bisher nur zu einer einzigen Lesung im Westen eingeladen war, und das auch nur, weil ein Freund die für ihn organisiert hat. Der Westen ignoriere sein Buch, sagt er, zwei Freunde hätten sich von ihm abgewendet. Er wirkt betroffen und entschieden. Das Publikum klatscht, stellt Fragen, berichtet von eigenen Erfahrungen. Ein guter Abend. Und zum Schluss denke ich, dass auch der Film gut wird, dass meine Skepsis unnötig war.
Dann sehe ich ihn, drei Monate später. Montag, 20.15 Uhr, ARD-Themenabend zum Tag der Deutschen Einheit. Der Titel klingt wie ein Manifest: „Hört uns zu“. Die Interviewten sind ehrlich und direkt. Steffen Baumgart, Trainer des 1. FC Köln, sagt, Leuten, die ihm erklären wollten, wie seine Kindheit im Osten war, erkläre er, sie sollten ihre Klappe halten. Ein alter Mann aus Sachsen antwortet auf die Frage, ob Ost und West nicht ein bisschen zusammenkommen könnten: „Als müssten das die Ostler entscheiden!“
„Deutschland ist ein föderaler Nationalstaat, nicht mehr“
Der Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak sagt, dieses Land sei auf einer politischen Verwaltungsebene vereinigt worden. Wir seien ein föderaler Nationalstaat, nicht mehr und nicht weniger, müssten uns von der Vorstellung verabschieden, auch kulturell vereinigt zu sein. Alles angenehm unaufgeregt.
Die Zahlen sagen das Übrige. Das durchschnittliche Vermögen eines Haushalts im Osten beträgt 43.000 Euro, im Westen ist es das Dreifache, nämlich 128.000 Euro. Groß sind auch die Unterschiede bei den Erbschaften (Durchschnitt im Osten: 52.000, im Westen: 92.000 Euro) und beim Lohn (Osten 45.000, Westen 58.000 Euro). Drei Viertel der Ostdeutschen hatten 1994 einen anderen Job als 1989.
62 Prozent der Ostdeutschen sagen, Ost und West seien gar nicht zusammengewachsen. 40 Prozent fühlen sich eher als Ostdeutsche denn als Deutsche. 68 Prozent der Ostdeutschen, die nach 1989 geboren wurden, sind dem Osten „besonders verbunden“.
Dirk Oschmann ist in Wellmers Film mit der wütendsten Passage, die er am Pfefferberg vorgelesen hat, vertreten: der Osten als Geschwür. Anschließend wird eine Zuschauerin interviewt. Sie sagt, dass sie jetzt auch wütend ist. Ihr sei gerade klar geworden, die Diskriminierung der Ostdeutschen existiere noch immer. Sie schlucke das nicht mehr, sie mache das zum Thema.
Es ist eingetreten, was ich befürchtet hatte. Aus zwei Stunden Filmmaterial, Lesung und Diskussion hat die ARD-Reporterin die Stelle herausgesucht, die am besten zu ihrer These passt. Oschmann ist der Einheizer der Ostdeutschen, die Zuschauerin wirkt wie ein Beweis. Im Interview wirft Wellmer dem Buchautor „Frontenbildung“ vor. Sie steht, er sitzt. Später gehen sie spazieren, verabschieden sich auf einer Brücke, laufen los – in entgegengesetzte Richtungen.
Viele Grüße zum Tag der Deutschen Einheit von Gil.
Hallo Gil, finde mich überhaupt nicht arrogant. Zu deiner Info: ich hatte, damals nur den Mindestsatz an BAFÖG zur Verfügung, wovon ich erst kürzlich die letzte Rate abgezahlt habe. Das Auto habe ich mir zusammengespart, weil ich meinen Freund in Geesthacht damit besuchen konnte und ansonsten habe ich auch am Essen gespart.
Ich würde mich freuen, wenn du einen link des Zeitungsartikels einstellen würdest zur besseren Übersichtlichkeit - anstelle des weitschweifigen Textes.
Und übrigens hatte ich nie den Wunsch nach einer Wiedervereinigung gehabt. Eine autarke und selbstbestimmte DDR wäre mir viel lieber gewesen.
LG, Gabyi
Ich würde mich freuen, wenn du einen link des Zeitungsartikels einstellen würdest zur besseren Übersichtlichkeit - anstelle des weitschweifigen Textes.
Und übrigens hatte ich nie den Wunsch nach einer Wiedervereinigung gehabt. Eine autarke und selbstbestimmte DDR wäre mir viel lieber gewesen.
LG, Gabyi
hr
Antwort geändert am 03.10.2023 um 14:12 Uhr
Antwort geändert am 04.10.2023 um 09:53 Uhr
Hallo Gabyi,
mit Links bin ich nicht so firm. Berliner Zeitung online vom 2.10. ist aber für jeden abrufbar.
Ob jemand den Wunsch zur Wiedervereinigung hatte oder nicht, ist Angelegenheit jedes Einzelnen. Für mich, der ich vier Jahre Deutsches Reich, vier Jahre Sowjetische Besatzungszone und vierzig Jahre DDR erlebt habe, kam die Einheit auch überraschend. Kulturell, und das deutet Dieter Wal ja klug an, gehören die beiden Staaten zusammen.
Und zwar gleichberechtigt. Ich habe Dirk Oschmanns Buch sofort gekauft und werde mir auch Katja Hoyers Werk zulegen, allein, um es mit meinen eigenen Erlebnissen und denen meiner Familie zu vergleichen. Oschmann hat mir vieles bestätigt. Ob katja Hoyer es kann, wird sich noch herausstellen. Aber eines steht fest, die Arroganz und Überheblichkeit (ob nun gerade bei dir, ist die Frage) besteht nach wie vor.
Aber den Osten zu beurteilen, ist schwierig genug. Das belegen nicht nur die Zahlen, die im Text aufgeführt sind.
Rot-Gelb-Grün (plus Schwarz) haben sich übernommen. Und werden es weiter nicht begreifen. Schade!
LG von Gil.
Vielleicht noch ein Nachtrag von mir, der mir gut gefällt, weil er prägnant ist, und weil er von jemand kommt, der es bestimmt weiß.
Steffen Baumgart: Trainer des 1. FC Köln
„Was der Ossi nicht mag, und ich auch nicht, ist, dass der Westen mir erklärt, wie ich früher gelebt habe und wo ich sage: ‚Ihr wart nicht da‘.“
mit Links bin ich nicht so firm. Berliner Zeitung online vom 2.10. ist aber für jeden abrufbar.
Ob jemand den Wunsch zur Wiedervereinigung hatte oder nicht, ist Angelegenheit jedes Einzelnen. Für mich, der ich vier Jahre Deutsches Reich, vier Jahre Sowjetische Besatzungszone und vierzig Jahre DDR erlebt habe, kam die Einheit auch überraschend. Kulturell, und das deutet Dieter Wal ja klug an, gehören die beiden Staaten zusammen.
Und zwar gleichberechtigt. Ich habe Dirk Oschmanns Buch sofort gekauft und werde mir auch Katja Hoyers Werk zulegen, allein, um es mit meinen eigenen Erlebnissen und denen meiner Familie zu vergleichen. Oschmann hat mir vieles bestätigt. Ob katja Hoyer es kann, wird sich noch herausstellen. Aber eines steht fest, die Arroganz und Überheblichkeit (ob nun gerade bei dir, ist die Frage) besteht nach wie vor.
Aber den Osten zu beurteilen, ist schwierig genug. Das belegen nicht nur die Zahlen, die im Text aufgeführt sind.
Rot-Gelb-Grün (plus Schwarz) haben sich übernommen. Und werden es weiter nicht begreifen. Schade!
LG von Gil.
Vielleicht noch ein Nachtrag von mir, der mir gut gefällt, weil er prägnant ist, und weil er von jemand kommt, der es bestimmt weiß.
Steffen Baumgart: Trainer des 1. FC Köln
„Was der Ossi nicht mag, und ich auch nicht, ist, dass der Westen mir erklärt, wie ich früher gelebt habe und wo ich sage: ‚Ihr wart nicht da‘.“
Antwort geändert am 04.10.2023 um 07:57 Uhr
„Was der Ossi nicht mag, und ich auch nicht, ist, dass der Westen mir erklärt, wie ich früher gelebt habe und wo ich sage: ‚Ihr wart nicht da‘.“
Was meinen Fall, den ich hier geschildert habe, betrifft, so war ich ja dabei
Was meinen Fall, den ich hier geschildert habe, betrifft, so war ich ja dabei
Stimmt, bezieht sich auch mehr auf die Kontroversen zwischen Ost und West.
Und was dein Dabeisein betrifft, du bist schließlich nicht Piet Klocke, der allein und hinten im Fahrzeug sitzt.
Und was dein Dabeisein betrifft, du bist schließlich nicht Piet Klocke, der allein und hinten im Fahrzeug sitzt.
Und da sind wir wieder auf der Ebene: "der hat aber einen Längeren."
Dieter Wal (58)
(03.10.23, 13:18)
(03.10.23, 13:18)
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Pechmarie und Goldmarie finde ich zu wertend. Wie wärs mit gleichberechtigt?
Dieter Wal (58) meinte dazu am 03.10.23 um 19:57:
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ja, die Figuren kannte ich auch aus dem Märchen. Ich wollte lediglich das Wertende der beiden ansprechen. Aber ohne zu werten geht es wahrscheinlich nicht.
Herrlich - wie sich die Vopos und die Finanzkasse geärgert haben müssen! Sei stolz darauf!
Verlo (65) meinte dazu am 05.10.23 um 11:44:
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Verlo (65)
(05.10.23, 11:42)
(05.10.23, 11:42)
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Gerne gelesen, könnte ausführlicher sein!
Lieber Dieter, du willst ja häufig mehr Ausführlichkeit bei meinen Texten hören. Ich habe alles gesagt, was war und mehr wäre Erfindung und das wäre dann Geschichtsverfälschung.
Danke für die Empfehlung
Du hast vielleicht auch keine Vorstellung, welchem Stress man damals ausgesetzt war. Erst die ellenlange Abfertigung an der Grenze und danach der Rest und man befand sich in einer Diktatur und wurde gehasst. Ich habe komplett meine Gefühle abgeschaltet. Das fällt mir erst jetzt auf, muss ich feststellen.
Die DDR war ein (Wortgelöscht)-Staat.
LG, Gabyi
Danke für die Empfehlung
Du hast vielleicht auch keine Vorstellung, welchem Stress man damals ausgesetzt war. Erst die ellenlange Abfertigung an der Grenze und danach der Rest und man befand sich in einer Diktatur und wurde gehasst. Ich habe komplett meine Gefühle abgeschaltet. Das fällt mir erst jetzt auf, muss ich feststellen.
Die DDR war ein (Wortgelöscht)-Staat.
LG, Gabyi
Antwort geändert am 05.10.2023 um 15:31 Uhr
Jaja, du und deine "Wahrheit", ich weiß schon, deshalb der Konjunktiv!
Heute wird man auch gehasst. Im Internet.
Heute wird man auch gehasst. Im Internet.
Konjunktiv: meinst du wäre oder flöss ?
Nein, könnte.
ok. Gehasst im Internet oder DDR. Interessante Gegenüberstellung
Beides ziemlich anonym, nicht?
@R.:
stolz, den Vopos einen Streich gespielt zu haben, bin ich keineswegs. Sie wollten etwas von mir und ich wollte das nicht tun. Wo ist das ein gespielter Streich?
stolz, den Vopos einen Streich gespielt zu haben, bin ich keineswegs. Sie wollten etwas von mir und ich wollte das nicht tun. Wo ist das ein gespielter Streich?
@ Gabyi,
Versuche gerade, mir künstlich empörte Literaten beim Sich-Schütteln vorzustellen, aber es gelingt mir (glücklicherweise) nicht.
LG,
Oggy
Versuche gerade, mir künstlich empörte Literaten beim Sich-Schütteln vorzustellen, aber es gelingt mir (glücklicherweise) nicht.
LG,
Oggy
sie ist 83, da zittert man schon mal mehr.
Antwort geändert am 21.11.2023 um 12:23 Uhr