Leben am Meer

Tagebuch zum Thema Meer

von  Gabyi


   Seepferdchen und Seesterne sah sie noch nie in ihrem Meer und auch keine romantischen Muscheln mit ihren großen wunderschön rosa schimmernden Helixgehäusen. Auch Würfelquallen verirrten sich niemals hierher. 
   Stattdessen gab es jede Menge Krebse und unscheinbare kleinere schwarze und weiße Muscheln wie Miesmuscheln, auch Pfahlmuscheln genannt, die blauschwarz oder bräunlich perlmuttfarben glänzten. Und weißlich-gelb gerippte Herzmuscheln, dreieckige rosa bläuliche Plattmuscheln sowie weiße Sandklaffmuscheln. Außerdem Seepocken, versteinerte Seeigel, Seetang, Feuersteine und Donnerkeile, die fossilen Schalen urzeitlicher Tintenfische. Sie sollten vom Donnergott auf die Erde geschleudert worden sein und vor Hexenschuss schützen. Und natürlich konnte man auch gelb funkelnde Bernsteine finden, wenn man ganz genau hinschaute.
   Das alles fand man in einer aufgewühlt tosend blauen See, warm und mit hohen Wellen bei Ostwind. Und in einem flachen, grauen, kalten Meer bei Westwind, so schneidend kalt, dass die Füße blau anliefen. Es war das einzigartige Meer, in dem ihre Großmutter als Kind das Totenkopf - Schwimmabzeichen abgelegt hatte. Und in dem ihre Mutter bei 16 Grad Celsius durch die Wellen zur roten Ringelnatter schwamm, einer Boje, die weit draußen in der Bucht lag, während ihre Kinder am Strand stundenlang auf ihre Rückkehr warteten.
   Genau so kannte sie ihr Meer und sie liebte es dafür. Es bot ihr Schutz und Sicherheit. Nur in seiner Nähe konnte sie tief durchatmen. An der frischen Seeluft, am weißen Strand und nachts auf der kleinen, durchgelegenen Matratze in ihrem Kinderbett, gefüllt mit angespültem, getrockneten Seegras, das früher noch als Füllmaterial für Bettunterlagen verwendet wurde. Seegras - die einzige Blütenpflanze der Ostsee. Auf seinen Blütenblättern ausgestreckt und sicher ruhend auf seinen Blättern und Wurzeln, fiel sie im Sommer mehr als einmal in einen von Nesselquallen und Sonnenbrand fiebrigen, salzig-süßen Schlummer, bevor die peitschenden Sturmwinde kamen und bevor sie von der Brandung aus riesigen, turmhoch tosenden Wellenbergen mit tanzenden weißen Schaumkronen verschlungen wurde in die dunkelsten Tiefen der Baltischen See.

 
2003

 




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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (23.10.23, 16:27)
Klar,
für ein Kind sind Seepocken immer noch besser als die "richtigen."

Und das Meer? Ist immer "gnadenlos" schön, selbst wenn es seine grausame Seite auslebt,

weiß auch
der8.

 Gabyi meinte dazu am 23.10.23 um 20:38:
Danke, lieber 8. fürs Empfehlen :). In meiner Heimatstadt gab es gerade erst eine große Sturmflut, nach mehr als 100 Jahren. Zum Glück war ich nicht da, wie sonst meist zu dieser Zeit.
LG, Gabyi

 Quoth (24.10.23, 09:40)
Solche Kindheitserinnerungen werden noch kostbarer vor dem Hintergrund heutigen Wissens: 
"Unsere Meere werden geplündert, zerstört und verschmutzt, nur für den kurzfristigen Profit – mit drastischen Folgen für die Artenvielfalt und letztlich für uns alle", sagte Greenpeace-Meeresbiologe Thilo Maack. Nach Angaben der Organisation schwinden die Bestände von Dorsch und Hering in der Ostsee. Deutschlands einzige Walart, der Schweinswal, sei stark gefährdet.
Da ist die Vergiftung durch verrostende Munitionsmassen und hineingespülte Insektizide und Düngemittel noch nicht einmal erwähnt. Der Kindheitstraum besteht - aber er wird von uns gerade mutwillig zerstört.

 Gabyi antwortete darauf am 24.10.23 um 10:57:
Wollte eigentlich vorwiegend die positiven Aspekte "meines" Meeres beleuchten. Natürlich sind auch Menschen ertrunken, meine Eltern haben mich nach einem ertrunkenen Mädchen genannt und in Fukushima wurde die radioaktive Brühe ins Meer geleitet. Ist eben so, kann man wenig ändern. Und in die Ostsee zu pinkeln ist auch erlaubt (Gerichtsurteil).
Danke dir fürs Empfehlen, hat mich sehr gefreut :).
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