Die feinen Unterschiede der Andreas

Text

von  Lilo

Im ersten Schuljahr waren wir neunundzwanzig Kinder, dreizehn Mädchen und sechzehn Jungen. Drei Mädchen hießen Andrea, jeweils zwei Jungen Andreas, Tobias und Alexander. Müller, Müller, Mayer, Baier, Schmidt, Schulz, nur Schneider fehlte. Die Nachnamen der Zwillinge Harald und Eduard habe ich vergessen. Sie kamen in der zweiten Klasse aus Rumänien. Sie erzählten, dass der rumänische Diktator Ceaușescu goldene Wasserhähne habe. Ich sah einen Waschraum vor mir. Der Boden war rot gekachelt, die Decken hoch und stuckverziert. An jeder Wand hing ein einzelnes, bauchiges Waschbecken wie ein Kuheuter. Darüber der goldene Wasserhahn. Lang und geschwungen wie ein Schwanenhals, der Wasser spie. Sonst war der Raum leer. Es war kein Badezimmer. Es war ein Wasserhahnraum. Ab und zu beugte sich Ceaușescu über ein Waschbecken und schöpfte sich mit einer Hand einen Schluck Wasser in den Mund. Ceaușescu trank aus goldenen Wasserhähnen und vergiftete das Volk, das aus gewöhnlichen Wasserhähnen trank. Oder das Volk vergiftete Ceaușescu aus Rache dafür, dass er aus goldenen Wasserhähnen trank. Ich weiß nicht mehr, was die Zwillinge erzählten. Vielleicht ist das mit dem Gift auch meine Erfindung. Eine versehentliche Ergänzungsleistung meines Gehirns.

 

Ich dachte damals nicht in Geld und Gold. Ich dachte in Wohnungen und Häusern. Neun Kinder wohnten in Reihenhäusern, zwei in schönen, hellen Wohnungen, die restlichen sechszehn in Sozialwohnungen. Je näher die Wohnungen bei der Schule lagen desto heruntergekommener waren sie. Eine Andrea wohnte in der Biberkopfstraße, gleich neben der Schule. Diese Andrea war groß und knochig mit einem vorstehenden Kinn und spitzen Ellbogen. Sie trug lange, altmodische Röcke wie eine Oma. Ihr kleiner Bruder war rund und feist, fast noch ein Baby. Ich sah vor mir, wie ihre Mutter dem Bruder die besten Bissen in den Mund schob, während Andrea Krümel vom Teller pickte. Einmal sah ich sie nachmittags auf der Straße. Sie trug ein Kopftuch und schleppte den dicken Babybruder mit seinen roten aufgeplusterten Backen auf dem gebeugten Rücken wie einen Rucksack. Andrea war ein stilles Mädchen. Unauffällig, bis auf die Kleidung. Sie hielt ihre Sachen in Ordnung. Ein einziges Mal kam sie aus sich heraus. Die Lehrerin sprach über Essigsäure. Andrea wusste Bescheid. Ihr Vater habe einmal nach der Essigflasche gegriffen, einen riesigen Schluck daraus genommen und sich dabei die Kehle verätzt. Andrea war aufgeregt. Sie lachte. Ich sah den Vater, einen schlaksigen Typ mit breitem Grinsen, in einer kleinen Küche stehen. Seine Augen leuchteten fröhlich beim Anblick der Essigflasche. Er griff danach, hob sie an die Lippen. Die Lehrerin fuhr mit ihrer Stimme in das Bild. Sie sagte, dass das sehr dumm sei. Aber ihr Gesichtsausdruck sagte mehr. Sie schaute auf den Vater wie Erwachsene schauten, wenn sie Kakerlake sagten. Ihr Blick schrumpfte ihn. Wir sahen zu Boden. Als würden wir nach ihm suchen.

 

Unsere Eltern hatten uns verboten, durch die Biberkopfstraße zu laufen. Wir hielten uns daran, weil wir uns vor ihr fürchteten. Ich wusste nicht, welche Gefahr dort lauerte. An einem Nachmittag fuhr ich heimlich mit dem Fahrrad hindurch. Es war kaum jemand auf der Straße, obwohl das Wetter gut war. Der Spielplatz war nur ein schmutziger Sandkasten, die Fassaden der Häuser hatten eine ähnliche Farbe. Auf den Außenfensterbrettern lagen Butterpakete. „Warum?“, fragte ich meine Mutter. „Wahrscheinlich, weil sie keinen Kühlschrank haben“. Die Biberkopfstraße war die eine Sozialsiedlung. Später erfuhr ich, dass dort hauptsächlich Jenische wohnten. Die andere Sozialsiedlung lag in der Innsbrucker Straße. Sie lag ungefähr fünfzehn Minuten von der Schule entfernt hinter dem Auferstehungsplatz.

 

Die Innsbrucker Straße war erlaubt. Die Häuser waren höher als die in Biberkopfstraße und um einen großen Hof herum angeordnet, in dem einen Spielplatz gab und mehrere Tischtennisplatten. Die zweite Andrea wohnte in der Innsbrucker Straße. Diese Andrea war das kleinste und jüngste Mädchen der Klasse. Sie hatte zwei jüngere Schwestern, mit denen sie sich das Zimmer teilte. Es war winzig. Ein kurzer Schlauch. An der einen Wand standen ein Stockbett und das Kinderbett der jüngsten Schwester, an der anderen der Kleiderschrank und ein Schreibtisch. Dazwischen war ein schmaler Streifen. Zum Spielen. Ich war gerne im Hof der Innsbrucker Straße. Dort war immer was los. Am liebsten spielte ich Rundlauf. Andrea machte sich nichts aus Tischtennis. Sie war eines der drei Pferdemädchen in meiner Klasse. In den Pausen hüpften sie im Wechselschritt auf dem Schulhof herum und schnalzten mit den Zungen. Andrea hatte einen Kurzhaarschnitt und war sehr unglücklich damit. Während das lange Haar der beiden anderen beim Ausreiten auf dem Hof im Wind wehte, klebte ihres am Kopf fest. Ihr Haar sei zu dünn, um es lang zu tragen, meinte ihre Mutter. Das war kurz vor den Sommerferien, wir hatten eine Schulaufführung. Sie sagte es laut vor allen anderen Kindern. Plötzlich zischte die dritte Andrea: „lassen Sie sie doch, es sind ihre Haare!“. Die Mutter schluckte und erwiderte nichts.


Die dritte Andrea wohnte in der Reihenhaussiedlung. Dort gab es keine Straßen, nur Wege, die nach Kurorten in den Alpen benannt waren. Der Vater dieser Andrea war Kieferorthopäde. Im zweiten Schuljahr kaufte er das letzte Grundstück in der Siedlung und baute ein freistehendes Haus darauf. Früher hatten die Väter der Siedlung auf diesem leeren Grundstück Tennis gespielt. Die dritte Andrea war ebenso groß wie die erste Andrea, aber nicht ganz so knochig. Sie war die beste Schülerin der Klasse.



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Kommentare zu diesem Text

Agnete (66)
(10.10.23, 13:11)
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 Dieter_Rotmund (10.10.23, 14:50)
Unter "Pferdemädchen" versteht man im allg. junge Frauen, die sich um die Pferde anderer Leute kümmern (ausmisten usw.) und dafür das Pferd reiten dürften.

 franky (10.10.23, 15:02)
Hi liebe Lilo 

Habe mich gerne unter Deinen Schulkindern gemischt, 
es war eine schöne Zeit. 

Grüße von Franky
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