Nach dem Rausch

Text

von  Lilo

Zum Abschied sagten wir danke. Es war kalt. Ein blendendes Grau vom Himmel. Aber wir hatten uns Helles gesagt. Zwei Nächte und einen Tag lang. Enno hatte seine Jacke in der Wohnung gelassen. Er wolle nur kurz zu Rewe. Es war der Rewe, den ich den heruntergekommensten Rewe von ganz Berlin nannte. Enno stand da vor mir mit fiebrigem Blick, zittrig nur in Hemd und Hose, ein paar zerbeulte Pfanddosen unter den Arm geklemmt. Wir küssten uns kurz. Er würde dort nichts zu essen kaufen. „Ich mache es“, sagte er, „ich gehe in die Klinik“, ich verspreche es. Ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Zwischen zwei Lines passten zu viele Versprechungen, um die ich nie bitten könnte. Und seine Abstände waren kurz gewesen. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Ich hatte mich verrechnet. Ich hatte ihm nicht zugetraut, dass er so viel Helles zu sagen hatte. Dass dieser Mensch, dem das Blut gewohnheitsmäßig aus Nase rinnt, immer noch so viel zu geben haben kann.

 

Ich hatte es anders geplant gehabt und mich nicht darangehalten. Ich hatte es zu sehr gewollt. Es gab nichts, dass ich anführen hätte können, um mich herauszureden. Das Wort Hormone klang selbst in meinen eigenen Ohren fahl. Es glitt von meinem Verstand ab, der mir zwei Nächte und einen Tag lang fassungslos zugesehen hatte. Die schmutzige Wohnung, das brodelnde Geräusch, das im Schlaf aus seiner Nase kam. War das auch Blut? Die Wirklichkeit war eine saubere, weiße Wand auf der alles geschrieben stand, was ich ohnehin wusste, schon vorher gewusst hatte, seit meiner Kindheit, aus dem Fernsehen. Dass ich den Vorschriften anderer nicht folgen kann, ok. Ein Manko, ein Bremsfaktor, ein Geheimnis, das ich nicht zu lüften verstehe. Aber, dass ich so weit gehen würde, meinen eigenen Plan mit einer solchen Leichtigkeit, ohne zu zögern, nicht zu verfolgen, bei der ersten Gelegenheit davon abweichen würde, als hätte es meine sorgfältigen Überlegungen nie gegeben, war – ich wusste nicht, was ich von mir zu halten hatte. Ich hatte es zu sehr gewollt. Ich hatte mich nicht darum gekümmert, dass es falsch war. Ich war mir selbst fremd in meinem unbedingten Drang.

 

„Eine Sache nur“, hatte Enno vor einem Tag und zwei Nächten gesagt, als wir durch den strömenden Regen zu seiner Wohnung liefen, „eine Sache nur musst du mir versprechen“. Der Regen lief ihm übers Gesicht. Seine Haare waren klatschnass, die Jacke offen. Er schien nicht zu spüren, wie ungeschützt er war. Es war nicht mitanzuschauen. Ich hielt ihn an, um die Jacke zuzuknöpfen. Zwei Knöpfe fehlten, von einem dritten war die Hälfte abgebrochen. „Bitte sag mir sofort, wenn ich etwas falsch mache, bitte versprich mir das“. „Ansagen fallen mir eher schwer“, hatte ich geantwortet. Aber dann hatte er es mir leicht gemacht. Alles. So unfassbar leicht, ich selbst zu sein. „Erzähl mir von dir“, hatte er gesagt und es gemeint. „Ich meine, was ich sage und sage, was ich meine“, zitierte er seinen Doktorvater. Und es stimmte. Er hatte zugehört. Meine diffusen Selbsterklärungsbruchstücke in Worte gefasst, die von wirklichem Verstehen zeugten. Wie hätte ich damit rechnen sollen, dass das abgewrackteste Wrack aller, der zarteste Junge, der verrutschte Typ, der für alles drei Anläufe brauchte, mir in zwei Nächten und einem Tag alles hatte geben können, dessen Existenz ich zu bestreiten gelernt hatte. "Bitte hör auf zu weinen", hatte er gesagt "sonst verliebe mich in dich".

 

Ich taumelte nach Hause in den Bovarysmus. Zum Bersten gefüllt. Ich zweifelte daran, noch einmal aufwachen zu können.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (25.10.23, 14:40)
Junkies unter sich.

 LotharAtzert (25.10.23, 15:41)
Ich war mir selbst fremd in meinem unbedingten Drang.
Schade, daß hier nicht das Ende ist, denn eine Steigerung ist nicht mehr möglich.

 Melodia meinte dazu am 26.10.23 um 09:53:
Ich würde Lothar zustimmen. Nach dem Satz wäre es ein stärkeres Ende. Nichtsdestotrotz ein guter Text.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram