3. Aufnahme

Text

von  Elisabeth

Adarach schreckte aus seinen Gedanken auf, als Kaharach die Tür von innen ins Schloß drückte und begann, mit einem feuchten Lappen die Wein- und Blutflecken vom Boden wegzuputzen. "Meinst du, mein Bruder hat den...", begann Adarach zögernd und gleich nickte Kaharach, ohne den Blick von seiner Arbeit zu heben. "Und den für deinen Vater auch", erwiderte er dann nach einem Augenblick.

"Wie kommst du darauf, daß der König ermordet wurde?" wollte Adarach wissen. Wenn es entsprechende Gerüchte gäbe, hätten sie doch mit der Nachricht vom Tode des Königs auch die äußersten Bezirke seines Herrschaftsgebietes erreicht.

"Vielleicht hast Du es nicht gehört, aber am Schiffsanleger heißt es, man habe den König tot über seinem Nachtmahl gefunden. Die Gesichte der Prophetin hätten ihn sicher vor vergifteten Speisen gewarnt, doch nun..." Kaharach verstummte, musterte den sauber geputzten Boden und schien zufrieden. Er stand auf, den eingedreckten Lappen noch in der Hand, und sah Adarach mit einer seltsamen Mischung aus Zuneigung und Mitleid direkt in die Augen. Die Distanz, die er Adarach gegenüber bisher an den Tag gelegt hatte, schien verflogen. Hatte Adarach sich ihm bewiesen, weil es ihm gelungen war, nicht ermordet zu werden?

"Deine Mutter und ihr Bruder Jochawam waren... wir sind zusammen aufgewachsen", begann er. "Erst wurde Per... Prinzessin Peribil als Kriegsbeute nach Garam verschleppt, dann wurden der König und sein Geliebter in der Schlacht vor Verr getötet und schließlich verschwand der Kronprinz aus den Ketten, in die die Garamar ihn gelegt hatten. Nicht einmal die überlebenden Prophetinnen der Verrar konnten sagen, ob er entkommen oder getötet worden ist. Doch eines ist sicher, überall hatte Upatach seine Finger im Spiel. Vielleicht hatte er seinem Vater sogar eingeflüstert, trotz des klaren Sieges auf den Goldenen Feldern noch einmal gegen die Verrar zu ziehen um sie zu vernichten. Und ohne den Einfluß deiner Mutter auf Anaskan hätte es Prinz Buhachan in Garam trotz seiner Unterwerfung sicher nie ins Erwachsenenalter geschafft." Kaharach atmete tief durch. "Mein Vater und ich waren stets dem Königshaus von Verr verpflichtet. Mein Vater ist vor Verr gefallen, aber solange Atem in mir ist, werde ich dieser Verpflichtung weiter nachkommen. Als legitimer Enkel des letzten Königs der Verrar und einziger Prinz, der seinem Erbe nicht abgeschworen hast, bist du König der Verrar und Herr von Verr. Bei Grom, du bist mein Mawek!" und er schlug sich mit der leeren Faust vor die Brust.

"Aber ich bin doch nur ein dummes Kind", erwiderte Adarach bitter, "nur gerade wichtig genug, daß mich Upatach aus dem Weg haben will."

"Jetzt bist du noch ein Kind, aber morgen abend, wenn ich dich den nach Berresh geflohenen Verrar vorgestellt habe und wir das Fest feiern, nehme ich dich mit zum Geheimnis."

*



Als Adarach am Morgen von einem wie üblich eher mürrisch guckenden Kaharach geweckt wurde, dachte er, die Ereignisse der letzten Nacht seien doch nur ein Traum gewesen. Doch dann begann der Krieger, Adarachs Sachen zusammenzupacken, als sei er sein Leibdiener. "Beeil dich, Mawek", sagte er. "Heute erwartet uns beide die Freiheit."

Tatsächlich lag der Segen der Göttin auf diesem Tag. Die Klageweiber besangen bei der Abfahrt des Schiffes nicht des Königs Tod sondern bereiteten sich auf das Freudenfest am Abend vor, die Delphine begleiteten wieder das Schiff, der Himmel war wolkenlos und der junge Buhachan erzählte mit seiner angenehmen Stimme ebenso angenehm banale Geschichten.

Am Nachmittag tauchten vermehrt Felsen an der Küste auf, hinter denen sich landeinwärts immer höhere Berge erhoben. Fischerboote begleiteten nun ihren Weg, die Delphine waren fast alle verschwunden. Und dann zeigte einer der Lehrer zur Küste, in die Richtung, in die sie fuhren: "Dort kann man Berresh schon sehen", rief er über das Schiff. "Die Burg auf dem Felsen, von der die dünne Rauchsäule aufsteigt. Das ist der Rauch des Ewigen Feuers vor dem berühmten Tempel des Ungenannten."

Tatsächlich liefen daraufhin einige zur Reling, um ebenfalls einen ersten Blick auf das Ziel der Reise zu werfen. Selbst Adarach reckte den Hals ein bißchen, um die Burg der Stadt zu sehen, die nicht nur eine Bibliothek und einen anscheinend berühmten Tempel beherbergte, sondern auch eine den anwesenden Lehrern unbekannte awranische Gemeinde, die das Fest des Hirten beging. So weit wie man sehen konnte war der dunkelblaue Himmel noch immer völlig klar. Wenn der volle Mond beim Fest heute Nacht nicht von den Wolken verdeckt werden würde, so war das überaus glücksverheißend.

*



Bis die 'Königin der Wellen' den Hafen von Berresh erreichte, dauerte es allerdings noch eine Weile, und auf diesem Weg wurde das Schiff nun nicht mehr hauptsächlich von Fischerbooten sondern von riesigen Handelsschiffen begleitet, die Waren nach Berresh brachten. Männer mit tiefschwarzer Haut waren an Deck dieser Handelsschiffen tätig, mit roten Turbanen und in den bunten Tuniken des Südens. Sie kamen von der anderen Seite des Kreismeeres. Etwas befremdet stellte Adarach nach ein paar Blickwechseln mit den Besatzungen der anderen Schiffe fest, daß die an Bord der 'Königin' befindlichen Männer ebenso von den Südlern angestarrt wurden.

Der junge Buhachan winkte der Besatzung des nächsten Schiffes zu und rief: "Seid gegrüßt, ihr Ma'ouwati!", doch der Gruß wurde von den anderen nicht erwidert. Vielleicht hatten sie ihn nicht verstanden.

"Wenn es wirklich Ma'ouwati sind, sprechen sie Sa'atit, nicht Taribit", gab Adarach spontan zu bedenken, aber biß sich dann auf die Lippen, um nicht 'Sie nennen sich nicht Ma'ouwati sondern 'Sa'atik' und sie grüßen sich 'a nane'Hawat'' zu soufflieren. Was wußte er schon davon, wie die Erziehung eines normalen Adligen aussah. Vielleicht hatte nicht jeder der Jünglinge sämtliche Sprachen, die um das Kreismeer gesprochen wurden, lernen müssen.

Buhachan nickte. "Natürlich, du hast recht... nane'Hawat Ma'ouwati", rief er also. Einige der Männer grinsten darauf und ließen ihre strahlend weißen Zähne sehen, einer von ihnen winkte sogar zurück. "Sei du gegrrüßt, Ostmann."

*



Ein Lotse wurde in Sichtweite des Hafens von einem kleinen Ruderboot gebracht und dirigierte den Steuermann der 'Königin' zwischen zwei steinernden Pfeilern hindurch, die genau so aussahen, wie die anderen zwanzig Pfeiler, die aufgereiht wie auf einer Schnur eine lange Reihe vor der Hafenbucht bildeten. Adarach erinnerte sich, daß Chafaran von einer langen Kette, die zwei mal um die ganze Burg von Garam gelegt werden könne, erzählt hatte, mit der die Zufahrt in die Bucht versperrt werden konnte. Wahrscheinlich war es gar nicht eine lange Kette, sondern Kettenstücke zwischen den einzelnen Pfeilern - aber das klang in einer Erzählung natürlich nicht so beeindruckend.

Der Lotse wies dem Steuermann einen Liegeplatz an einem Anleger auf der Burgseite der Bucht zu und kassierte dann die Hafensteuer vom Kapitän. Und noch bevor alle Ruder eingezogen worden waren, sprang er von Bord auf den Anleger und verschwand in der bunten Menschenmenge, die auf der um die Hafenbucht laufenden Straße unterwegs war.

Die fünf anderen Lehrer winkten nahe des Anlegers herumlungernde Lastenträger heran, wiesen ihnen Gepäckstücke zu, sammelten dann ihre jeweiligen Leibwachen und ihre Schützlinge ein, verließen das Schiff und bewegten sich so zielgerichtet wie zuvor der Lotse in die Menge. Nur Chafaran diskutierte mit Kaharach und ereiferte sich schließlich, daß seine Planung wohldurchdacht sei und seinem Schüler einen seiner Stellung angemessenen Komfort bieten würde.

"Ich habe Anweisung vom Bruder seiner Mutter, mich in Berresh um seine Unterbringung zu kümmern", entgegnete Kaharach darauf entschieden. "Da ich hier Verwandte habe, bestehe ich darauf, deren Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen."

"Aber...", begann der Lehrer noch, aber Kaharach schnitt seinen Einwurf mit einem "Ihr seid meiner Familie selbstverständlich ebenfalls willkommen" ab. Dann befahl er seinen Männern, das Gepäck der Gruppe aufzunehmen und winkte Adarach an seine Seite. "Willkommen im Exil, Mawek", flüsterte er mit einem angedeuteten Grinsen, dann führte er die Gruppe an, weg von der Burg, nach Norden.

Berresh' Straßen und Häuser unterschieden sich nicht sehr von denen Garams, einmal davon abgesehen, daß der Stein, der hier verbaut worden war, einen eher rötlichen Farbton hatte, während in Garam der dortige Fels eher gelb-grau war. Auf ihrem Marsch passierten sie ein mächtiges Stadttor, aber dahinter ging die Stadt weiter, mit ebenso großen, wohlhabend wirkenden Häusern, mit Plätzen und Brunnen und Marktständen - und noch mehr Leuten, die jetzt in der beginnenden Dämmerung noch geschäftig unterwegs waren. Die meisten davon hatten die helle Haut der Awrani, nur vereinzelt sah man auch den etwas dunkleren Ton der Tarib. Praktisch alle Hauseingänge waren wie in Garam mit Tierfellen und Birkenzweigen festlich geschmückt, dies war ein ganzes Stadtviertel voller Awrani. Und der Dialekt, den sie sprachen, erinnerte an den in Garam immer etwas deplazierten Singsang Buhachans - oder den seiner Schwester, wenn sie ihren Kindern Geschichten erzählte... erzählt hatte.

Kaharach wurde von vielen Männern und auch von einigen Frauen gegrüßt, ebenso wie die anderen Leibwächter, von denen der eine oder andere sogar stehen blieb, um ein paar Worte mit jemandem zu wechseln, und dann im Laufschritt wieder zur Gruppe aufzuholen. Dies waren also die überlebenden Verrar, die sich dem Zugriff der siegreichen Garamar hatten entziehen können.

Der Hauseingang, vor dem sie schließlich stehen blieben, war nicht nur geschmückt mit den Symbolen des Festes, sondern war von mit Kreide geschriebenen Segenssprüchen umgeben, die man ansonsten nur innerhalb des Tempels der Großen Mutter sah.

"Das ist das Haus eurer Verwandten?" fragte Chafaran skeptisch, als Kaharach gerade die Hand erhob, um an die Tür zu klopfen.

"Nein, hier wird heute Nacht das Fest des Jägers gefeiert. Ihr seid herzlich eingeladen. Das Haus meiner Verwandten ist eine Tür weiter", und Kaharach zeigte auf die ebenfalls mit Zweigen und Fellen geschmückte benachbarte Holztür.

"Also, wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich mich vor der Feier gerne erst einmal etwas frisch machen. Und mein Schützling sicher auch", sagte Chafaran mit bemüht fester Stimme. Adarach sah regelrecht sein Unbehagen darüber, daß ihm die Führung der Expedition in 'seine' Stadt aus den Händen genommen worden war.

"Und wenn es Euch nicht zu viel abverlangt, möchte ich den Mawek eben ein paar Leuten vorstellen, dann schicke ich ihn zu Euch, damit auch er frisch gewaschen zum Fest erscheinen kann." Er winkte einen seiner Männer heran, der Chafaran bei den Verwandten einführen und mit den anderen Männern das Gepäck verstauen sollte, dann klopfte er endlich an die Tür.

Während die meisten der Leibwächter mit dem grummelnden Chafaran zum Nebenhaus gingen, warteten Kaharach und Adarach darauf, daß die Tür dieses... privaten Tempels für sie geöffnet wurde. Adarach kannte im privaten Bereich nur die Schreine der Großen Mutter, den großen in der Empfangshalle des Palastes, einen kleineren im Schlafzimmer des Königs und einen ebenso kleinen im Haus seiner Mutter. Und seit er denken konnte, war er auch unzählige Male im großen Tempel auf der Burg gewesen, bis auf das letzte Mal stets in Begleitung seiner Mutter, doch nie zu einem der Feste. Die hatte er, wie alle anderen Männer, zuhause oder in den heiligen Hainen, nur mit der Familie oder mit der halben Stadt gefeiert, wie es sich für einen Jungen geziemte. Nie hatte er die Grotte des Geheimnisses betreten, von der er nur flüstern gehört hatte, daß es sie gab, jedoch nie, was darin zu finden war, denn das war das größte Mysterium der Großen Mutter und darüber durften sich nur die Wissenden austauschen. War dies hier die Grotte des Geheimnisses in Berresh, in Ermangelung eines altehrwürdigen Ortes eben ganz profan ein Haus? Oder war dies eher ein Tempel, von dem aus dann in der Nacht der Festzug aus Wissenden und denen, die geladen worden waren, aufbrach zum Ort des Geheimnisses?

Obwohl Adarach nicht wirklich etwas Konkretes erwartet hatte, war er, als die Tür nach innen aufgezogen wurde und er einen Blick hinein werfen konnte, zugleich beeindruckt und enttäuscht. Es war ein ganz normaler Vorhof, so wie der des Hauses in Garam, in dem er aufgewachsen war, eher noch ein bißchen kleiner, doch die Wände hier waren mit so großer Kunstfertigkeit bemalt, daß sie die Illusion eines Hains der Göttin hervorriefen. Da waren Bäume und kleine Tiere, gemalte Bögen bewachsen mit Weinreben und Hopfenranken, an einigen Stellen auch geschmückt mit Birkenzweigen, außerdem ein kleiner Brunnen und das etwa menschengroße Abbild einer Statue der Großen Mutter, deren traditioneller Mantel jedoch nicht aufgemalt, sondern mit mehreren Haken an der Wand befestigt war.

Eine uralte Frau hatte ihnen geöffnet, die das Gewand einer Priesterin trug. Ihr Kopftuch hatte ähnlich wie das Kopftuch seiner Mutter lange blaue Troddeln, aber weder den feinen Spitzenrand, den die Kopftücher der Priesterinnen im großen Tempel in Garam hatten, noch war es bestickt wie das Kopftuch einer Prophetin.

"Sei gegrüßt, Großmama", sagte Kaharach in einem so liebevollen Ton, daß Adarach keinen Zweifel hatte, daß diese alte Frau tatsächlich seine Großmutter war. "Ich habe den jungen Mawek aus Garam gerettet."

Kaharachs Großmutter musterte Adarach einen Moment. "Ach, und er hat auch so schönes rotes Haar wie Jochawam. Sag, Kaharach, hatte Jochawam damals nicht deine Schwester mit zum Geheimnis genommen?"

Kaharach nickte. "Ja, Großmama, das hat er. Und das ist jetzt fast zwanzig Jahre her."

"Ich denke, es sind auf den Tag siebzehn Jahre, wenn ich mich recht erinnere", korrigierte die Frau ihren Enkel und tätschelte liebevoll seine Wange. Dann wandte sie sich wieder Adarach zu. "Deine Schwester ist natürlich noch etwas jung für das Geheimnis, aber du hast das rechte Alter."

"Avilah?" fragte Adarach alarmiert. "Was... wie...?"

"Sei ganz beruhigt. Prinz Buhachan hat sie gestern mitgebracht. Ihr könnt beim Festmahl euer Wiedersehen feiern. Sie erinnert mich übrigens an Mesanna als Kind. Deine Großmutter war das Lächeln der Göttin, Adarach. Wie gut, daß dein Großvater später als König fast immer auf ihren Rat gehört hat. Aber so ein Jammer, daß sie dann bei der Schlacht..."

"Das war ihr Bruder Fawach, der den König beriet, Großmama. Da war Mesanna längst gestorben. Und Fawach ist in der Schlacht gefallen."

"Unfug, ich weiß doch was ich weiß", beharrte die Großmutter und lächelte Adarach verschmitzt an. "Die Krieger sehen nur mit den Augen, nicht mit dem Herzen, nicht wahr? Seh' zu, daß es dir später nicht so ergeht."

* * *



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