1. Die Gelegenheit nutzen

Text

von  Elisabeth

Er wollte ihn nach... nach... Bussir bringen.

War das hier Bussir? Er lag unter einer als Sonnenschutz aufgehängten Decke, ein einfacher Strick hielt sie, der an zwei Dattelpalmen festgebunden war. Eine Decke auf ihm, eine unter ihm; ein... zwei Wasserschläuche und ein Proviantbeutel neben ihm. Als er sich erheben wollte, brannte durch die Bewegung sein ganzer Rücken, aber er stand trotzdem auf, denn im Liegen konnte er nicht erkennen, wo er war.

Eine kleine, unbewohnte Oase, eine Tränke mit Schöpfrad neben dem Brunnen, noch ein paar weitere Palmen und Felsbrocken, die aussahen wie verfallene Häuser. Das schien wirklich Bussir sein. Die Sonne stand tief über einer entfernten Bergkette, das mußte der Drachenrücken sein, hinter dem das Kreismeer lag. Dort war also Osten und es war früher Morgen.

'Ich bringe dich zur Karawanenstraße, nach Bussir', hatte der Arzt gesagt. 'Die Schwarze Tinte ist verblaßt, mit dieser Kleidung wird jeder dich für einen Städter halten.' Er schaute an sich herunter, ein etwas über knielanges Untergewand mit ausgefranster Knopfleiste, eine fadenscheinige Schärpe als Gürtel, eine Hose aus dünnem Stoff, Sandalen - keine Stiefel - und zwischen den Decken lag ein gestreiftes Stoffbündel: ein Mantel mit Kaputze. Er war nichts mehr. Warum sollte er sich die Mühe machen, dem Ratschlag des Arztes zu folgen, sich eine Karawane zu suchen, um irgendwo anders ein neues Leben anzufangen?

Münzen klingelten und fielen auf die Decke, als er den Mantel aufnahm, um ihn überzuziehen. Er zählte, knapp ein Tar war das. Für einen mittellosen Ausgestoßenen ein Vermögen. Anscheinend wollte der Arzt wirklich, daß er das unerwartete Geschenk des Überlebens noch etwas fortführte.

'Ich nehme die erste Karawane, die hier eintrifft, egal wohin es geht', versprach er dem abwesenden Arzt in Gedanken. Seine Mühen verdienten es, gewürdigt zu werden. Vielleicht war es auch ein Versprechen an die Götter, die anscheinend mit ihm noch nicht fertig waren. 'Und am Ziel der Karawane spreche ich mit dem ersten Menschen, den ich dort sehe und mache, was er von mir verlangt.' Sollten die Götter entscheiden, was sie mit ihm machten.

Unbewußt strich er sich mit der Hand über den Schädel, fühlte die fast fingerlangen Haare. Schon wieder zu lang für einen Mann, ging ihm durch den Kopf, doch dann verbot er sich den Gedanken an den Urheber dieser Frisur und schwor sich, seine Haare bis zu seinem vermutlich bald eintretenden Lebensende nicht mehr zu schneiden. Die undenkbaren Gedanken schafften es aber doch in seinen Kopf und die Ausweglosigkeit seiner Situation zog wie ein untragbares Gewicht an seinen Gliedern. Die Gedanken kreisten und kreisten, schufen eine beängstigende Finsternis, doch irgendwann bemerkte er, daß er einem kleinen Käfer zuschaute, der sich zwischen Steinchen und einzelnen Grashalmen in die trockene Erde eingrub und keinen Schatten zu haben schien: die Sonne hatte sich bereits dem Zenit genähert.

Er stand auf und entdeckte einen dunklen Fleck am südlichen Horizont, der rasch größer wurde. Da war also die Karawane, mit der er reisen würde. Er rollte die Decken zusammen und machte sich mit dem Strick ein Bündel daraus, an das er auch den Proviantbeutel und die Wasserschläuche knotete. Reisefertig erwartete er dann im Schatten der Palmen die Ankunft seiner Karawane.

In Sichtweite der Oase beschleunigten die bepackten Kamele ihren Schritt, so daß die begleitenden Reiter auf ihren erschöpften Pferden sie erst an der leeren Tränke einholten. Zehn Kamele, sechs Pferde - und drei Oshey, deren Nasenwurzeln mit den drei senkrechten Strichen der Mehaly bemalt waren. Die beiden jungen Männer begannen unverzüglich, die Tränke zu füllen.

"Hey, faß mal mit an", forderte ihn der mit dem grauen Bart auf Taribit auf.

Also ließ er sein Bündel fallen und zog mit an dem Schöpfrad, um den Wasserstrom in die leere Tränke zu erhöhen. Auch wenn sein Rücken dabei wie Feuer brannte.

*



Als die Tiere zufrieden waren und während die beiden anderen Männer sich ebenfalls erfrischten, wandte sich der graubärtige Mann vom Wildkatzenstamm wieder an ihn. "Du hast ordentlich mit angepackt, danke. Ich bin Isan Mehaly, ich führe diese Karawane, die beiden anderen sind meine Söhne. Wie heißt du?"

Sein Rücken fühlte sich an, als ob die Wunden fast alle wieder aufgerissen waren und das Blut heraussickerte. Wenn es den Stoff des Mantels verfärbte, kam er in Erklärungsnöte. "Ich heiße Nefut", antwortete er nach einem Moment des Abwägens, ob er denn überhaupt noch Nefut war. "Ich komme aus Menrish." Die Stadt war nur ein paar Wegstunden von Bussir entfernt, also mochte es seine Anwesenheit in dieser unbewohnten Oase hinreichend erklären.

Der Mehaly grinste. "Und willst du nach Norden oder nach Süden?"

Die Karawane war aus dem Süden gekommen. "Ich will nach Norden", antwortete Nefut also.

"Unser Ziel ist Taribai in den Grasbergen, heute Nacht übernachten wir in der Kameloase. Wenn du weiter mithilfst, kannst du mitkommen."

Taribai war immerhin ein gutes Stück entfernt von den Stammesgebieten. Nefut nickte und schlug in die ausgestreckte Hand des Mehaly ein.

*



Isans Söhne waren schätzungsweise in Nefuts Alter, ihm gegenüber distanzierter als ihr Vater, aber freundlich genug, ihn nicht mehr als nötig merken zu lassen, daß er eigentlich nicht dazu gehörte, denn während er in der Nähe war sprachen sie Taribit, anstatt sich ihres Stammesdialektes zu bedienen. Und nachdem die Sonne schon über den Zenit hinausgezogen und Tiere und Männer genügend erfrischt waren, brachen sie auf.

Während die anderen die Befestigung der Lasten kontrollierten, bekam Nefut die Aufgabe, sich um eine etwas eigenwillige Kamelstute zu kümmern, die sich weigerte, sich von ihrem Ruheplatz zu erheben. Nefut sah ihr in die Augen und sie blickte unter dem restlichen Winterfell auf dem Kopf mit einer Würde zurück, die ihn an seine Großmutter Marat erinnerte. Das brachte ihn zum Lächeln. Das Kamel schnaubte ihn an, und er kraulte der Stute den Kopf, so daß sich große Fetzen des Winterfells lösten. Sie schloß die Augen und schnaubte wieder, streckte das Maul nach oben und bot ihm den langen Hals dar mit einem Winterfellbart, der einen hundertjährigen Heiligen neidisch gemacht hätte. Nefut griff mit beiden Händen in die Wolle und rubbelte so stark, daß sich viel von dem losen Fell tatsächlich löste aber auch die Haut über seinen Schulterblättern wieder zu brennen begann. Doch das Kamel schien es zu genießen, also machte Nefut weiter, bis die Stute aufstand und gemächlich zu den anderen ging.

Glücklicherweise war das städtische Untergewand, das der Arzt ihm überlassen hatte, bis zur Hüfte geschlitzt, so daß er problemlos auf das Pferd steigen konnte, das Isan ihm anbot. Aber die ungewohnten Sandalen, die in den Steigbügeln keinen vernünftigen Halt und vor allem keinen Schutz für seine Schienbeine boten, waren eine Herausforderung, der er sich wohl stellen mußte.

*



Die Kamelstute hieß Firat erzählte Isan, während sie nebeneinander ritten, und Nefut mußte über die Wege der Götter lachen, um nicht zu weinen.

"Was ist daran so lustig?" fragte der Mehaly, auch wenn ihn Nefuts Gelächter zumindest zu einem Grinsen verleitete.

Nefut schaffte es, sich mit ein paar Atemzügen zu beruhigen. "Weil sie so viel würdevoller und freundlicher ist, als die letzte Firat, der ich begegnet bin."

"Und bestimmt auch ehrlicher und treuer", ergänzte Isan, der sich wohl denken konnte, daß Nefut von einer Frau gesprochen hatte.

"Ganz bestimmt", pflichtete Nefut ihm bei. Firat die Kamelstute wäre niemals sein Verderben gewesen.

* * *



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