4. Einweihung

Text

von  Elisabeth

Nachdem Adarach sich in dem Zimmer, das Kaharachs Onkel, der praktischerweise auch Gastwirt war, für ihn zurecht gemacht hatte, gewaschen und dem Fest angemessen gekleidet hatte, eilte er hinunter in den festlich geschmückten Innenhof, in dem die mit so vielen Leckereien voll beladenen Festtafeln standen. Hier hatten sich schon einige der in Berresh ansässigen Verrar eingefunden, manche schienen auch gerade erst aus größerer Entfernung eingetroffen zu sein, denn es gab viele herzliche Begrüßungen, die auf das Auffrischen tiefer Freundschaften oder familiärer Bande schließen ließen. Und auch Buhachan und Avilah waren da. Das Mädchen flog ihrem Bruder in die Arme und drückte sich fest an ihn. "Ich hab dich sooo vermißt", flüsterte sie. Dabei waren sie doch schon häufiger für ein paar Tage getrennt gewesen.

"Du bist ja gar nicht besonders überrascht, uns hier zu sehen", bemerkte Buhachan und schien etwas enttäuscht.

"Die Großmutter von Kaharach hat mir gesagt, daß ihr hier seid", erklärte Adarach.

"Sie war die erste Prophetin von Verr", erinnerte Buhachan sich. "Ich glaube, außer Kaharach hat sie ihre ganze Familie damals bei der Schlacht und der Schleifung der Stadt verloren." Sein Blick wanderte zu Boden und er versank in seinen eigenen düsteren Gedanken, aber da stand die ehemalige erste Prophetin hinter ihm und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.

"Gestern und vorgestern waren die Tage, Unglücke zu betrauern," erinnerte sie ihn, "heute ist der Festtag. Heute macht die Große Mutter alles wieder heil."

Sie strahlte so viel Zuversicht aus, daß Adarach spontan ebenfalls zutiefst überzeugt war, daß die Göttin alles heil machen würde. Alles, was für die Anwesenden im vergangenen Jahr zu betrauern gewesen war, alles, was in den vergangenen sechs Jahren für die überlebenden Verrar zu betrauern gewesen war. Und auch Buhachan schien neue Zuversicht gewonnen zu haben.

Die Prophetin lächelte, dann streckte sie Avilah ihre faltige Hand hin. "Komm einmal mit, mein Kind. Laß uns über deine Ausbildung und meine Nachfolge sprechen."

Avilah löste sich so spontan von Adarach, daß er sich fast mißachtet fühlte, ergriff die dargebotene Hand und zog sich mit Kaharachs Großmutter in eine entfernte Ecke des Innenhofes zurück.

"Hier wird ihr nichts Böses widerfahren", versprach Buhachan. "Avilah hat geträumt, daß Upatach selbst Hand an seinen Vater legen wird und uns ebenfalls Gefahr droht. Deswegen sind wir dann doch nicht ins Landhaus gereist, sondern in Verkleidung nach Berresh geritten. Wie gut, daß Kaharach dich sicher hergebracht hat."

Adarach nickte. "Und er hat mich zum Geheimnis eingeladen", konnte er sich nicht verkneifen, aber das mit dem Überfall des Meuchlers sollte ruhig Kaharach erzählen, wenn er es denn für notwendig hielt.

Buhachan riß die Augen auf. "Kaharach hat dich... das... erstaunt mich tatsächlich. Aber ich vertraue seinem Urteil. Und dir sei es von ganzem Herzen gegönnt. Und wenn du jemals die Last des Erwachsenseins zu schwer auf deinen Schultern spürst, werde ich auch weiterhin für dich da sein."

"Du bist gerade einmal zwei Jahre älter als ich", entgegnete Adarach frech, aber insgeheim dankte er seinem Onkel für das Angebot. Kaharachs Worte nach dem Attentatversuch hatten ihm schon einen kleinen Vorgeschmack auf diese Last gegeben. Was war, wenn er das, was Männer unter seiner Führung von ihm erwarteten, nicht erfüllte? Was, wenn er das Gegenteil dessen, was sie wünschten, für richtig hielt? Wie lange war er dann noch ihr 'Mawek'? Aber heute war der Festtag, diese Gedanken mußten ruhen und durften sich erst nach dem Geheimnis wieder melden.

"Ah, da bist du ja, Adarach", begrüßte ihn plötzlich Chafaran, dann stellte er fest, daß neben seinem Schüler Buhachan stand. "Und ihr auch hier, Herr? Ich dachte, ihr wolltet in das Landhaus reisen."

Buhachan riss das Gespräch gleich an sich. "Ja, das war unser Plan, doch noch bevor wir alles zusammengepackt hatten, erreichte uns eine Einladung aus Berresh, hier das Fest zu feiern. Wir haben dann einfach den schnelleren Landweg genommen."

Chafaran nickte zustimmend. "Ja, die Taribische Straße ist von vorzüglicher Qualität. Ich denke, auch die nächsten fünfhundert Jahre können ihr nichts anhaben... hier müsste es doch auch irgendwo etwas Oinos geben, nicht wahr?"

"Wir werden schon etwas für euch auftreiben, da bin ich mir sicher", versprach Buhachan und geleitete den Lehrer zu den Tischen, die von den übrigen Gästen bisher ignoriert worden waren.

Adarach nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Dieser Hof wirkte mit seinem festlichen Schmuck wie der Innenhof eines reichen Privathauses, in dem der Hausherr zum Fest geladen hatte. Ob sie nach der Feier einen Umzug durch die Stadt, hinaus in ein Wäldchen und zu einer Grotte, die das Geheimnis barg machten, wie das in den Städten der Awrani üblich war? Oder verließen sie nur das Gasthaus um in dem nebengelegenen... ja was eigentlich... vielleicht Tempelhaus? einzukehren, und dort das Geheimnis zu entdecken? Er hatte nicht alle Wände des Vorhofes gesehen. Vielleicht war eine ja bemalt wie ein Felsen mit einem Höhleneingang, durch den dann eine Tür in eine gemalte Grotte führte.

"Seid willkommen, meine lieben Freunde, Brüder und Schwestern der Verrar. Laßt uns heute die Gnade der Großen Mutter feiern, die sich dieses Jahr in ganz besonderer Weise zeigt. Mawek Adarach um-Anasku umar-Achawu beehrt uns heute mit seiner Anwesenheit, der König der Verrar und Herr von Verr."

Adarach wußte nicht, ob ihm diese öffentliche Zurschaustellung durch den Gastwirt oder die unübliche Verbindung seines Namens mit dem seines Großvater, den er nie kennengelernt hatte, mehr mißfiel. Das kurz nach dieser Vorstellung aufbrandende, ohrenbetäubende "Aiaiaiaiai" der jubelnden Gäste erschreckte ihn jedoch zutiefst. Aber je länger der Jubel anhielt, desto klarer wurde ihm, daß er es einfach über sich ergehen lassen mußte. Das war wohl der Preis dafür, entgegen seinen Befürchtungen noch in dieser Nacht das Geheimnis besuchen zu können.

*



Trotz der leichten Kopfschmerzen vom reichlichen Oinosgenuß in der Festnacht wurde Adarach mit dem Wachwerden zugleich bewußt, daß er nun vor Göttern und Menschen als erwachsen galt. Keiner hatte ihm mehr zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte, keiner durfte mehr die Hand auf sein Geld halten, und wenn Upatach ihn beiseitebringen ließ, so war es ein Mord, der selbst von den Gerichten in Garam geahndet werden würde.

Und er konnte Einladungen von freundlichen älteren Damen ohne Nachfragen annehmen. Wie hatte die Frau noch gleich geheißen? Ochesa, nein Ochasa Kasiterim, eine adlige Berreshi mit einer Mutter aus Verr, die seit fast dreißig Jahren, also schon vor der Schlacht auf den Goldenen Feldern, mit der das Unglück der Verrar begann, mit einem der hiesigen Ratsherren verheiratet war. Die fünf Ratsherren von Berresh waren so etwas wie Teilkönige, wenn er das bei Chafaran richtig verstanden hatte. Alle zusammen hatten die Macht, die bei den Awrani der König als Herr der Stadt hatte, aber jeder einzelne war damit auch eine der fünf wichtigsten Personen in Berresh.

Ochasa hatte gesagt, daß er sie an ihren vor zwei Jahren verstorbenen, jüngsten Sohn erinnere, und daß sie es für ein Geschenk der Großen Mutter halte, ihn nun gerade am Festabend kennengelernt zu haben. Da sie den beweglichen Geist der Jugend in ihrem Hause seit dem Tode des Sohnes... Oseram vermisse, hatte sie ihn zu einem informellen Abendessen eingeladen, am... heute abend, richtig, zu dem auch ein paar Freunde und Verwandte kommen würden. Daran konnte doch nicht einmal Kaharach etwas Bedrohliches finden.

Die Wachen vor Adarachs Tür salutierten stramm, als er aus seinem Zimmer trat, und das Personal des Gasthauses, das er um ein Frühstück bat, verneigte sich tief vor ihm und dankte, daß er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Er war durch den vergangenen Abend also wirklich zu einem anderen geworden, oder vielleicht eher zu einer besseren Version seines vorherigen ichs. Vielleicht lag das auch an der Ansprache des Gastwirtes am Vorabend, aber Adarach selbst wollte es lieber der Erkenntnis des Geheimnisses zuschreiben, die er nun endlich auch gewonnen hatte. Er bekam an einem eigenen Tisch im Innenhof ein reichliches Frühstück serviert und genoß für den Moment die ihm entgegengebrachte Dienstbeflissenheit. Vielleicht war es doch ganz praktisch, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.

Ein Räuspern sorgte dafür, daß er seine Aufmerkamkeit von Brot, Käse und exotischen Früchen dem Störenfried zuwandte. Da stand Chafaran. "Herr, natürlich solltet ihr euch als König der Verrar und Herr von Verr auch wieder der kriegerischen Ertüchtigung und dem Studium der Schriften der Kriegsphilosophen widtmen, aber wie wäre es zum Auftakt mit einer kleinen Stadtbesichtigung sobald ihr euer Frühstück beendet habt?"

Hatte Chafaran ihn jemals zuvor als 'Herr' angesprochen? Seine plötzliche Ehrerbietigkeit verdiente wohl eine Belohnung, außerdem hatte Adarach bis zum Abend ohnehin nichts Besseres vor. "Gerne, Chafaran. Eine Stadtbesichtigung klingt interessant. Möchtest du vorher vielleicht noch eine Kleinigkeit zu dir nehmen?" und er lud seinen Lehrer mit einer Handbewegung ein, das Frühstück mit ihm zu teilen.

Sie aßen und Chafaran erzählte von seinem ersten Studienaufenthalt in Berresh vor fünfzehn Jahren, der beeindruckenden Bibliothek, in der sich alle Schriften der taribischen Philosophen fanden, der berühmten Schule der Kriegskunst, der mit Murhan Darashy - auch genannt 'der Städtezerstörer' - damals ein legendärer Schwertkämpfer und Taktiker vorstand, ein Söldnerführer aus den taribischen Stämmen, der bei einem seiner Kriegszüge dann selbst einer Übermacht und vielleicht Verrat aus den eigenen Reihen zum Opfer gefallen war. Chafaran hatte Adarach schon so oft von ihm erzählt, das dieser meinte, Murhan Darashy schon fast wie einen Nachbarn zu kennen. "Laßt uns als erstes das Haus besuchen in dem er seine Schule unterhielt. Vielleicht wird dort immer noch unterrichtet. Ihr profitiert sicherlich davon, euch auch mit der Kampfkunst des Westens zu beschäftigen, denn sie unterscheidet sich in einigen Dingen erheblich von der unsrigen."

Das klang in der Tat so interessant, daß Adarach sich sogar auf den Besuch dieser Schule der Kriegskunst freute. Als Sohn des Königs der Garamar hatte er natürlich den Kampf in der Phalanx und den Zweikampf mit Schwert und Schild gelernt, doch einige Passagen in den Schriften der taribischen Kriegsphilosophen ließen auf einen grundsätzlich anderen Ansatz im Kriegshandwerk der Tarib schließen, als die Awrani ihn hatten.

*



Letztlich war die Stadtbesichtigung bezüglich der Schule der Kriegskunst enttäuschend, denn diese Schule existierte nicht mehr. Das Haus in der Unterstadt, das der Söldnerführer Murhan Darashy bewohnt hatte, während er in Diensten des Rates von Berresh stand, fanden sie rasch, gerade außerhalb der Inneren Stadtmauer um die Oberstadt. Chafaran beteuerte auch, daß es noch immer genau so aussah, wie bei seinem Besuch vor fünfzehn Jahren, doch nun wohnte dort ein adliger Berreshi namens Manord Havatim, der laut den Auskünften auf dem Markt nahe dem Stadttor in die Oberstadt einen Ruf als in seinen Methoden gewissenloser aber stets siegreicher Gerichtsredner hatte. Man sagte ihm auch nach, daß er es schon seit langem auf ein Ratsamt abgesehen habe, aber bisher nie die erforderlichen Mehrheiten auf sich vereinigen konnte, eben weil er mit seiner Skrupellosigkeit auch immer wieder einmal wichtige Leute verärgerte. Auf dem Markt riet man ihnen auch, den Tempel des Ungenannten auf der Burg der Stadt zu besuchen und empfahl bestimmte Tageszeiten, zu denen dort Opfer geschlachtet wurden und preiswertes Opferfleisch zu kaufen war.

Da Kaharachs Onkel es als seine Ehrenaufgabe ansah, Adarachs Reisegruppe frei von Kosten zu halten, war das preiswerte Opferfleisch natürlich nicht so interessant, aber den Tempel wollten beide sich anschauen. Adarach hatte eine Art fremdartiges Grom-Heiligtum erwartet, davor einem Altar, auf dem für die Gunst des Gottes Ziegen oder Schafe geopfert wurden, aber der tatsächliche Anblick beeindruckte ihn mehr als erwartet. Auf dem Schiff war ja schon die Schale mit dem Ewigen Feuer erwähnt worden, aber Adarach hatte nicht erwartet, daß die flache steinerne Schale für dieses Ewige Feuer so groß war, daß ihr ganzes Haus in Garam hinein gepaßt hätte. Bei Nacht waren die Flammen dieses Feuers sicher von weit her sichtbar, doch auch im hellen Tageslicht war der Anblick dieser gezähmten Feuersbrunst, in der ganze Baumstämme in Flammen standen und aus der ein eigentümlich harziger Geruch aufstieg, sehr eindrucksvoll. Es gab auch einen Altar, jedoch ebenso überdimensioniert wie die Feuerschale, fast wie ein steinernes Schiff, zu dem eine Rampe hinaufführte. Es zeigte sich, daß er dieses Ausmaß hatte, damit ein Pferd von mehreren Männern hinaufgeführt werden konnte, dem dann dort oben von einem Priester in weißer Kleidung die Adern aufgeschnitten wurden, so daß es ausblutete. Das Blut lief vom Altar auf den ungepflasterten Boden um die Schale, wo es langsam versickerte, während Haut und Knochen des Tieres ins Feuer gegeben wurden, damit ihr Rauch zum Gott aufsteigen konnte. Doch der Geruch des Harzes war so dominant, daß man von dem frischen Blut und dem brennenden Fell so gut wie nichts roch.

Tatsächlich wurde dann kurz nach der Opferung auch das Fleisch des Tieres zum Kauf angeboten - und nach dem Interesse der Kundschaft zu urteilen galt das Fleisch durch das Opfer wohl als gesegnet. Einige der Leute, die den kleinen Stand nahe der Schale, in der das Ewige Feuer brannte, aufsuchten, kauften zwar von dem Pferdefleisch, fühlten sich aber offensichtlich unwohl an diesem Ort. Gerade der harzige Geruch schien bei einigen düstere Erinnerungen zu wecken an menschliche Opfer, deren Blut hier geflossen war. Und diese Berreshi wirkten nicht besonders betagt, sie waren vielleicht so alt wie Kaharach oder der Wirt. Adarach hatte Grom ja schon bisweilen für einen grausamen Gott gehalten, aber Menschen hatte man ihm seit Jahrhunderten nicht mehr dargebracht, abgesehen von denen, die während einer Schlacht im Namen Groms, der Ehre und einer Stadt gefallen waren.

"Der Gott erschien hier auf diesem Berg seinem ersten Priester", erklärte ein Mann, der ebenfalls das priesterliche Weiß trug, einer Gruppe von Jünglingen, die ebenso wie Adarach das Feuer bestaunten. "Es war eine Vollmondnacht und der Gott hatte sich in eine menschliche Gestalt verhüllt, aber er konnte doch das Feuer in sich nicht so weit verdecken, daß es nicht einen Stapel Bergfichtenholz entfacht hätte. So erkannte der spätere Priester ihn als Gott und versprach ihm seine Gefolgschaft. Als Dank für diesen Treueschwur lehrte der Gott ihn die Künste der Heilung, die Mittel, seine dämonischen Feinde zu erkennen und zur Strecke zu bringen und nicht zuletzt die Kunst der Argumentation. Der Gott sagte dem Mann auch seinen Namen, doch verbot er ihm, diesen Namen jemals auszusprechen.

Aus Ehrfurcht vor der Begegnung unterhielt der Priester nicht nur das Feuer, das von der wahrhaftigen Gestalt des Gottes entzündet worden war, sondern nahm auch Schüler bei sich auf, um das Gelernte weiterzugeben und nach ihm auch das Feuer weiter zu unterhalten. Ihr seht also, dieses Feuer hier ist noch immer jenes, daß der Gott selbst entfachte. Im Laufe der Zeit wurde anstelle der Hütte des ersten Priesters ein Tempel gebaut und das Feuer wurde in eine Schale umgesetzt, da sie ein angemessenerer Ort schien als der blanke Boden. Und da der Tempel ein Ort großer Gelehrsamkeit wurde, der bald weithin bekannt war, wuchs er durch den Anbau von Gebäuden und Hallen, und je mehr der Tempel wuchs, desto größer mußte auch die Feuerschale sein, um die Bedeutung dieses Feuers für unseren Tempel zu verdeutlichen."

* * *



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