2. Aufbruch

Text

von  Elisabeth

Ein Rütteln an der Schulter weckte Adarach. Es dämmerte gerade erst, die ersten Vogelstimmen waren zu hören. Wieso wurde er schon geweckt? Und dann fiel ihm wieder ein, daß die Erste Prophetin von Garam von der Göttin zu sich gerufen worden war. Sie war für immer fort. Und er fühlte in sich das Loch, das ihr Verschwinden gerissen hatte. Buhachan hatte ihn geweckt, und vorsichtig zog Adarach seinen Arm unter der Schulter seiner schlafenden Schwester hervor, um sich von ihrem Bett zu erheben.


"Chafaran wartet und eine Leibwache von zehn Mann, die ein guter Freund von mir zusammengestellt hat", erklärte Buhachan flüsternd, um Avilah nicht zu wecken. "Mit der Flut wird das Schiff nach Berresh auslaufen, dein Gepäck ist schon an Bord."

Entspannt und mit einem sanften Lächeln auf den Lippen lag Avilah in die Kissen gekuschelt auf ihrem Bett. Adarach ließ sie nicht gerne allein, aber sie war hier bei Buhachan besser aufgehoben, während er sich vorerst nur außerhalb des Einflußbereiches der Garamar in Sicherheit fühlen konnte. Und seine Mutter hatte gewußt, daß es so kommen würde. Deswegen hatte sie ihren Bruder gebeten, für ihre Kinder zu sorgen - nicht weil sie dachte, Adarach wäre dazu nicht in der Lage, sondern weil sie auch seine Verzweiflung und die damit einhergehende Lähmung unmittelbar nach ihrem Verschwinden gesehen hatte.

Buhachan zog seinen Neffen aus Avilahs Schlafzimmer und schloß die Tür von außen. "Wir brechen heute mittag in das Landhaus auf, es ist alles dafür vorbereitet. Laß uns wissen, wenn du in Berresh angekommen bist."

"Ich werde euch schreiben", versprach Adarach. "Aber wir sehen uns sicher alle gesund wieder." Und er fühlte, wie dieser Satz düstere Erinnerungen in seinem Onkel weckte. Auch er hatte gedacht, die Trennung sei nur zeitweilig, als er vor etwa fünf Jahren aus Verr fort mußte, zu seiner erwachsenen Schwester nach Garam, in die feindliche Königsstadt. Doch nie hatte er seine Eltern oder seinen großen Bruder wiedergesehen. Verr war in dem Krieg dem Erdboden gleich gemacht worden, die Königsfamilie und die Bewohner der Stadt getötet oder versklavt, die anderen Verrar in alle Winde verstreut worden. Die Garamar hatten die Verrar verschlungen und behauptet, durch die Heirat Anaskans von den Garamar mit Peribil von den Verrar seien diese beiden Stämme zu einem neuen verschmolzen. "Du solltest nicht zurückkommen, bevor Upatach nicht gekrönt ist und einen Erben hat", sagte Buhachan schließlich mit finsterem Gesicht.

Ja, darauf lief es hinaus. "Bitte gib Avilah einen Abschiedskuss von mir", sagte Adarach, auch wenn er ihn ihr am liebsten selbst gegeben hätte, er nahm den Mantel und den breitkrempigen Reisehut entgegen, dann zog er neue Sandalen an. Die durch den Schlamm und das Wasser halb aufgelösten Sandalen lagen wahrscheinlich noch immer auf dem Tempelvorplatz auf der Burg.

Plötzlich umarmte Buhachan seinen Neffen ungewohnt herzlich. "Benutze auf dem Schiff deinen Vatersnamen nicht. Es muß nicht jeder wissen, daß du ein Sohn des Königs bist. Und hör auf Kaharach, wenn du doch in Schwierigkeiten gerätst. Er befehligt deine Leibwache und ist ein guter Mann, ein guter Verrar, auch wenn er eher Grom anhängt als der Großen Mutter. Er wird auch in Berresh bei dir bleiben."

Adarach nickte. Aber außerhalb der awranischen Städte war wohl kaum mit Schwierigkeiten zu rechnen, mit denen er nicht selbst zurecht kam.

"Kaharach hat auch dein Geld. Wenn du mehr brauchst, wird er dafür sorgen, daß du es erhältst."

Natürlich, er war nur ein kleines, dummes Kind, das nicht einmal den Wert von Münzen verstand. "Ja, Onkel", quetschte er also zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, um Buhachan durch eine unbedachte Äußerung nicht auch noch einen Beweis für diese Ansicht zu geben. Und so fiel der Abschied gleich viel leichter.

*


Chafaran empfing sie am Eingang zum Hafen und erklärte, daß sie mit der 'Königin der Wellen' reisen würden, einem Passagierschiff, das für die Nacht im jeweils nächsten Hafen anlegen und den Reisenden so Übernachtungen in Gasthäusern an Land ermöglichen würde. Für die auf diese Weise überaus bequeme Reise um das halbe Kreismeer brauchte das Schiff knapp vier Tage. Soweit Adarach wußte, legte ein berittener Bote die selbe Strecke auf der Taribischen Handelsstraße in etwas mehr als einem Tag zurück.

Adarachs Leibwächter standen an der Pier. Der Befehlshaber, Kaharach, war fast einen Kopf kleiner als Adarach, eher drahtig als muskulös und schätzungsweise dreißig Jahre alt. Sein wacher Blick und die selbstverständliche Art, mit der er sich in seiner Panzerung und mit dem Schwert an der Seite bewegte, zeigten, daß er diesen Aufzug offensichtlich gewohnt war. Als Adarach mit Onkel und Lehrer näher kamen, grüßte er militärisch. "Mawek", bellte er, um zu zeigen daß er bereit war, Befehle von seinem Herrn entgegen zu nehmen. Und seine zehn Männer reagierten ebenfalls mit sofortiger Habacht-Haltung. Das eine oder andere Gesicht kam Adarach von der Palastwache bekannt vor, aber die Öffentlichkeit war wohl nicht der geeignete Ort danach zu fragen, ob es sich bei allen Männer um Verrar handelte.

Adarach war nicht der einzige junge Adlige, der an diesem Morgen mit der 'Königin der Wellen' zwecks Studien nach Berresh reiste. Tatsächlich waren sie zu sechst, alle in vergleichbarem Alter, jeder mit seinem Hauslehrer, einer Handvoll Dienern und einer mehr oder weniger zahlreichen Leibwache, denn schließlich ging es in den gefährlichen Westen, wo hinter jedem Busch einer der kriegerischen Oshey hervorspringen mochte.

Nachdem alle an Bord des Zweiruderers gegangen waren und je nach Rang bessere oder schlechtere Plätze unter dem aufgespannten Sonnensegel zugewiesen und erfrischende Getränke und Frühstück serviert bekommen hatten, legte die 'Königin' endlich ab und nahm bald Fahrt auf.

Adarach war nicht in der Stimmung, mit irgendjemandem über seine angeblich beabsichtigten Studien oder über Seereisen im Allgemeinen zu sprechen, also nutzte er seinen Platz nahe der Reling und sah den Bugwellen zu, die der Kiel des Schiffes in das Meer pflügte. Sie waren noch nicht lange gefahren, als die ersten Delphine aus dem Wasser sprangen und mit dem Schiff um die Wette schwammen. Schließlich konnte er auf seiner Seite zehn verschiedene Tiere ausmachen, die immer wieder aus dem Wasser auftauchten und anscheinend mühelos mit dem Schiff mithielten. Daß die Lieblingstiere der Großen Mutter seine Reise begleiteten, war sicher ein gutes Zeichen, und ein bißchen war es auch wie ein Abschiedsgruß.

"Hast du Heimweh?" sprach ihn einer der anderen Bildungsreisenden so plötzlich an, daß Adarach unwillkürlich zusammenzuckte.

Dann schüttelte er schnell den Kopf. "Nein, aber ich war zum Geheimnis eingeladen, und nun..." Nun würde er wohl noch mindestens ein weiteres Jahr warten müssen, bis jedermann ihn als Erwachsenen ansehen mußte. Denn es war wohl eher unwahrscheinlich, daß ihn in den kommenden drei Tagen irgend ein Wissender einlud, in Berresh das Geheimnis zu besuchen.

"Oh", antwortete der dunkelhaarige Junge, und Adarach konnte das Mitleid in diesem kurzen Laut mitschwingen hören. "Wenn mich ein Wissender eingeladen hätte, wäre ich sicher nicht vor dem Fest abgereist."

"Ich hatte keine Wahl." Mochte der andere daraus machen, was er wollte. Angesichts seiner zarten Gesichtshaut war er noch deutlich jünger als Adarach und wußte daher sicher, wie es war, nicht dem eigenen, sondern fremdem Willen folgen zu müssen.

"Naja, aber vielleicht wird in Garam das Geheimnis diesmal ohnehin nicht begangen. Hast du nicht die Neuigkeiten von der Burg gehört? Der Hafen schwirrte davon, kurz bevor wir aufbrachen. Es müssen Priesterinnen aus dem Umland anreisen, weil die Große Mutter die Erste Prophetin und alle Priesterinnen der Stadt gestern abend vergöttlicht hat und niemand das Fest ausrichten kann. Mein Lehrer sagte, so etwas wäre das letzte Mal in taribischen Zeit vorgekommen, vor über fünfhundert Jahren."

Dieses neue Wissen war Adarach kein Trost.

*



Natürlich hatte Kaharach nicht vor Adarach, sondern von Buhachan salutiert. In Adarachs Schlafzimmer im Gasthaus nannte der Soldat seinen Schützling 'Junge', nur wenn fremde Ohren in der Nähe waren, ließ er sich zu einem 'Herr' herab. Adarach hätte zu gerne gewußt, wieso er dem gerade siebzehnjährigen Buhachan so viel mehr Respekt entgegenbrachte. Lag es daran, daß dieser in Verr von der Königin und nicht in Garam von einer unfreien Geisel geboren worden war? Aber Kaharach wirkte nicht so, als ob allein der Rang eines Mannes ihn beeindrucken konnte.

Auch am nächsten Tag war die Fahrt an der Küste des Kreismeeres entlang angenehm ereignislos. Der dunkelhaarige, braunäugige Junge, dreizehnjähriger Sohn eines Landadligen, hatte offenbar einen Narren an Adarach gefressen, denn er erzählte und erzählte, so daß ihm anscheinend gar nicht auffiel, daß Adarach sich mit eigenen Bemerkungen zurückhielt. Buhachan hieß er, wie Adarachs Onkel, ebenso wie dieser nach dem großen Helden der Sage benannt, der den Weltenverschlinger besiegte, indem er ihn betrunken machte und dann erschlug. Doch dieser Buhachan war sehr unglücklich mit seinem Namen, er fühlte sich nicht im Geringsten zum Helden berufen, er freute sich wirklich auf die jahrhundertealten, verstaubten Schriften, die in der Bibliothek von Berresh gesammelt wurden, seit diese Stadt das zweite Zentrum des Taribischen Reiches gewesen war, die Verbindung zwischen Ost und West, zwischen den awranischen Königsstädten und den Territorien der taribischen Stämme.

Es wurden Speisen und Erfrischungen gereicht, und Buhachan erzählte noch immer, von den Sagen der Tarib und wie sie den Sagen der Awrani glichen oder sich von ihnen unterschieden, und daß die Tarib erst durch ihre Herrschaft über die Awrani begonnen hatten, um ihre Heiligtümer herum Städte zu errichten, wie es die Awrani schon lange vor ihnen getan hatten. Es war nichts, was Adarach nicht auch schon von Chafaran gehört hatte, so daß er irgendwann die gar nicht unangenehme Stimme des Jungen wie das Rauschen der Wellen oder des Windes an sich vorbeiziehen ließ. Da Buhachan das anscheinend nicht störte, verbrachten sie auf diese Weise einen angenehmen Tag.

Abends liefen sie wieder eine kleine Siedlung an, und erstaunlicherweise freute Adarach sich darauf, diese Nacht in einem anderen fremden Zimmer, in einem anderen fremden Bett zu schlafen, wo es nichts gab, was ihn an Zuhause, an Avilah oder seine Mutter erinnerte. Und wie in der vorangegangenen Nacht war das Zimmer sauber und sogar recht vornehm eingerichtet.

Als er es beim Abendessen Chafaran gegenüber erwähnte, lachte der. "Gewöhne dich nicht zu sehr daran. Du siehst hier die letzten Außenposten der Zivilisation. Die Unterkunft, in der ich in Berresh mehrere Monate zubrachte als ich so alt war wie du, war ein besserer Stall."

Bevor er vielleicht ein ganzes Jahr in einem Stall wohnte, sollte er wohl besser Kaharach bitten, den Kauf eines eigenen Hauses ins Werk zu setzen. Aber Berresh war noch weit, und ein paar Tage würde Adarach es auch in einem Stall aushalten.

Als die Reisegesellschaft am nächsten Morgen das Frühstück auf einer dem Meer zugewandten Terrasse einnahm, wurde Adarach durch eine Ladung Birkenzweige, die von einem gerade eingelaufenen Schiff abgeladen wurde, an das anstehende Fest des Jägers erinnert - und an die Tatsache, daß er sich bei Tawaram nicht einmal verabschiedet hatte. Auf Nachfrage versicherte ihm der Gastwirt, daß eine Nachricht nach Garam bereits am Nachmittag dort eintreffen würde, und Chafaran stellte Adarach Schreibzeug zur Verfügung.

Es wurde ein kurzer und nicht sehr persönlicher Brief, da er seine Gefühle gar nicht in Worte pressen konnte. Aber so erfuhr Tawaram immerhin, daß Adarach aus Garam abreisen mußte und die nächste Zeit in Berresh wohnen würde. Als er den Brief zusammengefaltet und adressiert hatte, stand Buhachan plötzlich neben ihm. "Du heißt ja genau so wie der Sohn, den der König mit der Priesterin in Garam hat. Was für ein Zufall."

Adarach versiegelte das Schreiben. "Ja, was für ein Zufall", bestätigte er.

*


Die Erinnerung an Tawaram und an das vergangene Rauschfest, die göttlichen Freuden des Oinos und der Liebe machten Adarach wehmütig. Und im Laufe des Tages tat die unerfüllbare Sehnsucht nach Tawaram dann so weh, daß er die amüsanten Geschichten, die die Lehrer nun zur allgemeinen Erheiterung über ihre eigenen, zum Teil lange zurückliegenden Aufenthalte in Berresh und anderen Orten der Tarib erzählten, kaum noch ertragen konnte. Ungewollt hatte er dadurch erfahren, daß es in Berresh in der Nacht ihrer Ankunft keine Prozession zum Fest des Jägers und kein Geheimnis geben würde. Das Rauschfest wurde dort ebenfalls nicht gefeiert, auch wenn Chafaran zu berichten wußte, daß es überall auf der Welt für genügend Geld auch den besten Oinos zu kaufen gab. Was die Erzählungen der Lehrer über die sonstigen Sitten in Berresh betraf, wurde Adarach klar, daß es ihm auch schwer fallen würde, einen neuen Geliebten zu finden, ganz zu schweigen von einem, der ihn ebenso berauschte, wie das Tawaram ganz ohne Oinos vermocht hatte. Und als er zur Ablenkung über die Reling schaute und die Delphine zählen wollte, die das Schiff gewöhnlich begleiteten, stellte er fest, daß sie die 'Königin der Wellen' heute alleine fahren ließen, als habe die Große Mutter ihr Gesicht von ihnen abgewandt.

*



Endlich war es Abend und das Schiff erreichte den letzten Hafen vor der Ankunft in Berresh. Auch dieses Gasthaus war sehr ansprechend, aber angesichts der recht dunklen Hautfarbe der Bewohner des kleinen Ortes konnte man fast annehmen, daß sie bereits die taribischen Territorien erreicht hätten. Doch offensichtlich befanden sie sich noch im Gebiet der Garamar, denn das erste, was sie am Hafen sahen, waren die Klageweiber, die den Tod des Anaskan um-Buhachu, des Königs der Garamar und der Verrar und Herr über Garam, beklagten. Adarach sah, wie Kaharach die Kiefer aufeinander presste, als er das hörte. Für ihn war er sicher nie König der Verrar gewesen.

Während des Abendessens erfuhren sie, daß der König in der vorangegangenen Nacht verstorben war. Und gemeinsam gedachte die Reisegesellschaft des nun an der Tafel Groms liegenden Königs.

Die Nachricht vom Tod seines königlichen Vaters riß das Loch, das das Verschwinden seiner Mutter in Adarach hinterlassen hatte, nicht viel größer, vielleicht weil er seit den dunklen Worten seiner Mutter nur darauf gewartet hatte. Aber egal wie sein Onkel, Kaharach und andere Verrar zu ihm stehen mochten, Adarach gegenüber war der König immer ein freundlicher und gerechter, wenn auch oft zu beschäftigter und daher abwesender Vater gewesen.

Als Adarach sich in sein Schlafgemach zurückzog, fand er dort einen kleinen Krug Oinos vor. Vielleicht war er hier doch schon fast bei den Tarib, wenn der Oinos ganz profan als Abendtrunk, wie ein Becher Bier gereicht wurde. Adarach genoß den fruchtigen Geruch des roten Göttertrankes, er wagte jedoch nicht, davon zu trinken, da es ihn zu sehr an Tawaram erinnert hätte. Und dann wurde er wieder wehmütig, denn dadurch dachte er natürlich doch an das vergangene Rauschfest, das ihn zum Mann gemacht hatte, an den festen, muskulösen, sonnengebräunten Körper Tawarams, an seine Hände, Lippen und sein wunderbares Hinterteil, die er danach noch so oft genossen hatte und die er niemals vergessen würde.

Und anstatt sich mit Einbruch der Dunkelheit ins Bett zu begeben, sah er hinaus aus dem Fenster in den noch mondlosen Sternenhimmel über dem weiten Meer und träumte mit offenen Augen von dem blonden Sohn eines Waffenschmieds. Gedankenverloren begann er während dessen, sich mit den Händen weiter zu erregen und fühlte, wie das Blut schneller durch seine Adern floß und ihn erhitzte. Doch da war irgendetwas falsch!

Bevor sich die Tür seines Zimmers fast lautlos auf sehr gut geschmierten Angeln öffnete, wußte er schon, daß ein Bewaffneter davor stand. Adarach hielt mit der Beschäftigung seiner Finger inne und sah sich nach etwas um, was er zur Verteidigung nutzen konnte. Doch außer dem kleinen Metalltablett auf dem der Tonkrug mit dem Oinos stand, waren da nur die Möbel und der abgelegte Teil seiner Kleidungsstücke. Warum sollte er auch eine Waffe tragen, er hatte doch seine Leibwächter.

Der Bewaffnete rechnete damit, daß Adarach schlief, das konnte er deutlich sehen. Anscheinend plante er sogar, gar nicht seine Waffe, sondern einfach ein Kissen zu nehmen, um ihn zu ersticken. Allein daß er wach war und stand brachte Adarach also einen Vorteil, mit dem der andere nicht rechnete. Außerdem war er recht hochgewachsen und damit sogar vielen erwachsenen Männern an Größe überlegen. Zusammen mit dem Überraschungseffekt konnte das reichen, den Angriff des anderen zumindest so lange abzuwehren, bis Kaharach und seine Männer kamen, um ihn zu retten.

Wenn er die Tür ganz geöffnet hatte und herein kam, würde der Mann Adarach vor dem geöffneten Fenster stehen sehen, dazu reichte das Licht der Sterne und des gerade aufgehenden, fast vollen Mondes, das von der Meeresoberfläche noch einmal gespiegelt wurde. Wenn er jetzt jedoch einen Schritt beiseite trat, würde der Mann es hören und damit war der Überraschungseffekt auch dahin. Also wartete Adarach, sah, wie die Tür sehr langsam aufgeschoben wurde, und endlich der Bewaffnete einen Schritt in das Zimmer machte. Genau in dem Moment sprang Adarach ihm entgegen und schlug ihm etwas bedauernd den Krug mit dem edlen Oinos über den Kopf.

Schmerzerfüllt und auch überrascht schrie der Mann auf, griff nach seinem Schwert, doch Adarach gelang es, seinen Schwertarm zu umklammern. Er erinnerte sich an die Lektionen seines Ringlehrers, an die vielen Verbote, und rammte dem Mann kraftvoll das Knie in die Genitalien, so daß er zu Boden ging und Adarach den Unterarm auf seine Kehle drücken konnte und sich mit vollem Gewicht darauf stützte.

Natürlich wehrte sich der Mann und es gelang ihm auch, Adarach für einen Moment abzuschütteln, sogar aufzustehen. Aber Adarach ließ nicht locker, hängte sich mit seinem ganzen Gewicht wieder an den Waffenarm des Angreifers, trat und biss den Mann, und schwor sich, es ihm sehr schwer zu machen, ihn umzubringen.

Plötzlich erhellte eine Lampe das Zimmer, und der Mann sackte mit erstauntem Gesicht in sich zusammen. In der Tür stand Kaharach, mit einem blutigen Schwert.

Erst jetzt, als er sich bedanken wollte, merkte Adarach, wie atemlos er war, also nickte er dem Befehlshaber seiner Leibwache nur zu.

Und Kaharach salutierte. "Du hast wohl einen Fürsprecher an Groms Tafel, Mawek", sagte er und reinigte seine Schwertspitze an der Tunika des toten Meuchlers. "Ich werd' den Dreck gleich wegräumen."

Adarach schloß die Tür hinter Kaharach, der den Toten forttrug. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen. Was hatte er für Optionen, wenn ihm wirklich sein Bruder nach dem Leben trachtete? Seine Mutter konnte ihn nun nicht mehr vor der unbarmherzigen Wirklichkeit schützen.

Vielleicht sollte er wie Buhachan ebenfalls seinem Erbe entsagen, für einen Frieden mit Upatach. Doch der war viel aufbrausender als ihr gemeinsamer verstorbener Vater, dem Buhachan sich unterworfen hatte, und er bediente sich wo es nur ging dreckiger Tricks, und sei es nur um Spiele oder Wetten zu gewinnen. Er hatte selbst gesehen, daß Upatach sogar beim traditionellen Ringkampf, der in Garam heilig war, da der Stadtgründer auch diese Tradition begründet hatte, versteckte Stacheln an seinen Händen anbrachte, um sich einen unerlaubten Vorteil zu verschaffen. Natürlich konnte Adarach seinem Erbe entsagen, aber einen geruhsamen Lebensabend konnte er sich damit bei Upatach sicher nicht erkaufen. Allenfalls aus einer Machtposition heraus war eine erfolgreiche Verhandlung mit Upatach möglich. Doch dafür mußte er erst einmal als erwachsen gelten und das würde noch mindestens bis zum nächstjährigen Fest des Hirten dauern.

* * *



Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram