2. Wege und Pläne

Text

von  Elisabeth

Lange bevor die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster bis zu ihrem Bett drangen, erwachte Patrais. Wie vor seiner Geburt hatte sie im Traum ihren Sohn als Mann vor den Toren Hannais gesehen, ein Bild von einem Oshey, diesmal mit einer berittenen Armee der Stämme hinter sich. Wenn Hermil also bei den Stämmen zu einem braven Oshey erzogen worden war und alle einem Fürsten anstehenden Künste erlernt hatte, würden die Götter dafür sorgen, daß er mit Hilfe der Stämme den Thron zurückgewann.

Der Traum zeigte ihr auch, daß sie jetzt handeln mußte. Es beunruhigte sie jedoch, daß sie kein Anzeichen einer dauerhaften Herrschaft ihres Sohnes gesehen hatte, aber das mochte an den momentanen Verhältnissen in Hannai liegen. Während er bei den Stämmen aufwuchs - und das in seinen bernsteinfarbenen Augen so deutlich sichtbare unirdischer Erbe würde dafür sorgen, daß sich die Fürstenfamilie selbst um ihn kümmerte -, konnte sie Hermil in der Stadt den Weg bereiten. Patrais mußte nur einen verläßlichen Boten finden, der ihren Sohn allein zu seinem Stamm brachte, denn kein Oshey würde jemals erlauben, daß eine Mutter ihr unmündiges Kind verließ, ohne durch den Tod dazu gezwungen zu sein. Und als sie mit Ensha frühstückte, legte sie kurz ihr Vorhaben dar, um der Hebamme zu erklären, warum sie Letran gerade jetzt verlassen mußte.

"Wenn du Hermil allein zu den Stämmen schicken willst, frag doch beim Handelsposten in den Grasbergen an der Straße nach Taribai, der liegt nur eine Tagesreise südlich von hier", schlug Ensha daraufhin vor. "Von dort brechen jeden Tag Karawanen in den Süden auf. Du wirst doch sicher erkennen können, ob einer der Reisenden zuverlässig genug ist, um ihm deinen Sohn anvertrauen zu können."

"Ja, das würde ich erkennen", gab Patrais ihr Recht.

"Und du wirst nicht so bald zurückkehren, oder?" fragte Ensha dann traurig. Als Patrais nickte, stand die Hebamme auf und umarmte sie. "Ich werde dich vermissen", sagte sie leise und in ihrer Stimme waren die Tränen zu hören, die sie zurückhielt.

Patrais erwiderte Enshas Umarmung. Wenn sie die mit ihren etwa dreißig Jahren gerade einmal gut zehn Jahre ältere Hebamme unter anderen Umständen kennengelernt hätte, wären sie jetzt vielleicht Liebende, und Patrais hätte Ensha den Trost, den ihr weicher Körper ersehnte, in ganz anderer Weise als durch eine bloße Umarmung schenken können. Doch wie es nun stand waren sie zumindest Freundinnen und so küßte sie die Hebamme schwesterlich auf die Wange. "Bevor ich abreise muß ich auch noch Urzan Bescheid geben", sagte sie dann und löste sich von Ensha. Und sie mußte natürlich auch von der liebeshungrigen Manala in angemessener Weise Abschied nehmen.

*


Am frühen Nachmittag hatte Patrais sich verabschiedet und von ihren Ersparnissen ein nicht mehr ganz junges Pferd gekauft. Hermil würde vor ihr mit auf dem Sattel sitzen können, um auch Amit eine bequeme Reise zu ermöglichen befestigte sie den Weidenkorb am Sattel, ihr weniges Gepäck nutzte sie als Gegengewicht und wollte aufbrechen.

"Du reist ja wirklich ab", hörte sie da die erstaunte Stimme von Manala, die im Schatten des Torgangs stand.

"Das hatte ich dir gesagt", erinnerte Patrais sie, klopfte dem Pferd beruhigend auf die Kruppe und ging hinüber zu ihrer Geliebten.

Kaum daß sie in den Schatten trat, streckte Manala sich ihr entgegen, schlang die so auffällig hellen Arme um ihren Hals und schmiegte sich an sie. "Ich hatte gedacht, du wolltest nur besondere Leidenschaft schmecken", flüsterte sie, ihre weichen Lippen so dicht, daß sie Patrais Wange streiften.

"Deine Leidenschaft schmeckt immer besonders", gab Patrais zurück und küßte sanft Manalas zarte Wange, dann gieriger ihre Lippen. Wie erregend sie sich an ihr rieb, wie ihre Lust sie umhüllte wie ein kostbares Parfum. Vielleicht war es ihr Awrani-Erbteil, das sie so besonders machte, über ihre helle Haut und die rötlichbraunen Haare hinaus, auch wenn sie immer wieder betonte, daß sie eine Letrani sei. Es fiel so schwer, sie in Letran zurückzulassen, aber Patrais wollte ihr nicht erklären müssen, warum sie in Hannai als Frau auftreten würde.

"Ich habe nie zuvor einen Mann wie dich getroffen, Harhan", hauchte Manala in Patrais Atem, "und ohne prahlen zu wollen, ich habe viele gekannt." Dann ging sie einen halben Schritt auf Abstand und lächelte frech.

Patrais gab das Lächeln zurück. "Ich weiß, Geliebte." Dann verneigte sie sich nach Art der Stämme. "Dies ist der Abschied, Manala. Ich reise zurück in den Süden."

"Und wirst du meine Künste besingen und meinen schönen Körper preisen, um mir an deiner Stelle neue Liebhaber zu verschaffen, Harhan?" Und Patrais sah, das sich hinter diesen aus einem beliebten Soldatenlied entliehenen Worten echter Abschiedsschmerz verbarg.

"Das werde ich tun", sagte Patrais, auch wenn sie nicht wußte, wem gegenüber sie von Manalas Künsten singen sollte. "Und nun muß ich gehen."

"Dann geh'", stieß Manala mit halberstickter Stimme hervor, drehte sich um und lief davon. Und als Patrais das Pferd durch den Torgang geführt hatte, war ihre Geliebte schon nicht mehr zu sehen.

*


Patrais nahm die Taribische Straße, die bei Letran westlich des Amaar verlief und seinem Verlauf folgte. Gerade außerhalb der Stadtmauern standen rechts und links der Straße die Kasernen für Letrans großes Heer. Die in dieser Garnisonsstadt untergebrachten Männer von nah und fern sorgten dafür, daß nicht nur die Stadt sondern auch die letranischen Dörfer trotz der Nähe der Berge und der dortigen Banditenverstecke sicher waren. Zudem ermöglichten sie ihrem ehemaligen Arbeitgeber Urzan und den zahlreichen anderen Bordellbesitzern Letrans florierende Geschäfte.

Schon bald merkte Patrais, daß sie lange nicht so schnell voran kam, wie sie gehofft hatte. Im Frühjahr waren viele Reisende unterwegs und rasteten neben der Straße oder am Ufer des Amaar, so daß Patrais sich bei jeder Stillpause für Amit ein sichtgeschütztes Plätzchen an der flußabgewandten Seite der Straße suchen mußte. Da der Amaar sich immer weiter nach Westen schlängelte, verlief auch die Straße immer näher am westlichen Gebirgszug, an dessen Hängen zahlreiche kleine Dörfer lagen, wodurch sich die Zahl der für Patrais geeigneten Rastplätze noch weiter verringerte. Wäre sie als Frau unterwegs gewesen, hätte sie den Säugling wie die Bäuerinnen einfach am Wegesrand stillen können.

Erst als sich der zweite Reisetag dem Ende neigte, flammten mit Beginn der Dämmerung die Lichter der großen Stadt Tetraos an den Steilhängen des westlichen Gebirgszuges auf. Um größere Menschenmengen bei der Übernachtung zu vermeiden, verzichtete Patrais darauf, der Straße noch das Stück weiter bis zu der aus taribischer Zeit stammenden großen Brücke über den Amaar zu folgen, sondern führte ihr Reittier weg von der Straße weiter nach Westen und suchte sich und den Kindern zu Füßen Tetraos ein hübsches Plätzchen in einem kleinen Hain, durch den ein in den letzten rötlichen Sonnenstrahlen glitzerndes, munter plätscherndes Rinnsal floß, das sich wohl erst viel weiter im Westen mit dem breiten Flußdelta des Amaar vereinte. Sie füllte ihren Trinkschlauch mit dem klaren Wasser, stillte die Kinder und sang ihnen das Wiegenlied. Dann aß sie selbst und richtete sich für die Nacht ein.

*


"Orem, schenke mir die Gnade einer ruhigen Nacht und beschütze meinen Schlaf", hörte Patrais plötzlich eine Männerstimme und dachte für einen Moment, sie träume von ihrem Vater. Aber das war kein Traum, ganz in der Nähe mußte ein Mann aus den Stämmen sein Nachtlager eingerichtet haben. Vielleicht konnte sie sich einen oder sogar zwei weitere Reisetage bis in die Grasberge sparen, wenn sie schon hier einen Oshey antraf, dem sie Hermil mitgeben konnte.

Patrais erhob sich also wieder, steckte Lanas' Schwert in den Gürtel, nahm den schlafenden Knaben aus dem Körbchen und nahm das Bündel mit den Besitztümern ihres Großvaters, die Hermils Herkunft und Erbe belegen sollten. In einem Bogen näherte sie sich dem Lichtschein des Kochfeuers, an dem der Oshey sitzen mußte, dessen Gebet an den nächtlichen Träumer sie geweckt hatte.

Ein grauhaariger Mann war es, der da am Kochfeuer saß und sich einen Tee bereitete. Sein Pferd graste friedlich weiter, doch er sprang sofort auf und griff nach dem Heft seines langen Schwertes, als Patrais in den Lichtschein des Feuers trat. Auch die Narben an seinen Händen und in seinem Gesicht zeigten, daß er eher ein Kämpfer als ein Händler war. Die gemalte Spirale zwischen seinen Augenbrauen stand für den Steinbock der Temhaly, wenn sie sich recht erinnerte.

"Seid gegrüßt, Temhaly", begrüßte Patrais den Mann mit einem Lächeln. "Mein Name ist Harhan. Meine Herrin Patrais Tashrany wünscht, daß ihr Sohn sicher zu ihrem Stamm gelangt und ich wollte euch bitten, das zu übernehmen." Sie ließ ihn sehen, was er erwartete und gab ihm ein, daß sie und das Kind vollkommen harmlos waren. Es mußte unbedingt gelingen, daß Hermil allein zu den Tashrany gelangte und dieser Mann war zuverlässig in den Dingen, die er versprach, das konnte sie sehen. 'Versprich mir, daß du Hermil zu den Seinen bringst.'

Der zunächst skeptische Gesichtsausdruck des alten Mannes wurde immer freundlicher, er kam näher und sah das schlafende Gesicht Hermils an. "Ich heiße Neshrim Temhaly. Meine Empfehlung an eure Herrin. Ich war Söldner in Letran und bin nun auf dem Weg zum Handelsposten vor Taribai, um mit einer Karawane zurück zu meinem eigenen Stamm zu reisen. Aber ich bin gerne bereit, sie und den Knaben zu den Tashrany zu begleiten. Wie heißt der Junge denn?"

"Meine Herrin nannte ihn Hermil, da ihn ein großes Schicksal erwartet. Er hat unirdisches Blut in seinen Adern", antwortete Patrais freimütig. Hermil regte sich leicht im Schlaf, als merke er, daß über ihn und sein Schicksal gesprochen wurde. 'Schlaf ruhig, mein Sohn. Wir werden uns wiedersehen, sobald du alt genug bist, den Goldenen Thron Hannais zu erobern und ich sichergestellt habe, daß man deine Herrschaft dort ersehnt', versprach Patrais ihm und küßte ihn auf den lockigen Schopf, dann drückte sie ihn dem Temhaly in den Arm. Und so wie der Mann ihn entgegen nahm hatte er wohl selbst Kinder und Enkel, Hermil würde bei ihm in sehr guten Händen sein. "In diesem Bündel sind das Schwert und ein paar weitere Besitztümer seines toten Urgroßvaters, die sein Erbteil sind", erklärte Patrais.

"Legt es dort ab, Tashrany", sagte der Temhaly und zeigte auf ein paar Taschen, die sein eigenes Gepäck darstellten. "Wollt ihr nicht einen Tee mit mir trinken, um unsere Freundschaft zu besiegeln?"

Ja, damit hatte der Alte recht, und er würde sich noch mehr dazu verpflichtet sehen, Hermil auch getreulich abzuliefern. Also willigte Patrais ein, zog das Schwert aus dem Gürtel und legte es neben sich, um sich bequem an das Feuer zu setzen.

Als der Mann Hermil auf die Decken legte, die sein eigenes Nachtlager waren, war der Junge wieder völlig ruhig, dann begann er, an einer geträumten Brust zu nuckeln. 'Du wirst gut bei den Tashrany ankommen und du wirst zum Mann heranwachsen', versprach Patrais ihm. 'Und du wirst eine Dynastie gründen, die mindestens ebenso lange Bestand hat, wie die erste Tashrany-Dynastie.' Daran glaubte sie so fest, daß sie plötzlich anstelle des alten Temhalys, der gerade die Teetassen füllte, ihren Sohn in fortgeschrittenem Alter auf seinem Thron sitzen sah, zu seinen Füßen ein schwarzgelockter Säugling, der sein Enkel, ihr eigener Urenkel war. Verwirrt durch diese Doppelsicht schüttelte Patrais unwillkürlich den Kopf, und das Bild verging, aber nun war sie beruhigt, ihr Sohn hatte eine Zukunft nach der Eroberung Hannais.

"Wo bleibt eure Herrin?" fragte der Alte natürlich, als sie beide an ihrer ersten Tasse nippten. "Und wie kommt es, daß ihr sie nicht zu ihrem Schutz begleitet, Tashrany?"

Patrais sah in das Kochfeuer des Alten. 'Frag das nicht', bat sie im Stillen, denn sie wollte den freundlichen Alten nicht noch mehr anlügen. "Seine Mutter hat Anteil an unirdischem Blut und...", begann sie dennoch und sah, wie sich dieser Halbsatz in den Gedanken des Temhaly mit den altbekannten Sagen über die Unirdischen, die diese Welt in Falkengestalt verließen, vermischte. Bevor er nachfragen konnte, warf sie schnell ein: "Ihr habt doch sicher ebenfalls Kinder, Temhaly."

"Natürlich, aber es ist lange her, daß sie so klein waren." Der Blick des Temhaly zu Hermil war so liebevoll, daß Patrais das Herz leichter wurde. "Und so schnell wird ihnen die Stirnlocke geschoren, daß man sich wundert, wo die Zeit geblieben ist. Ich habe vier Enkel bei den Stämmen, und eine kleine Tabit, die Tochter meiner Tochter."

*


Nach den zwei Tassen Tee, die die Höflichkeit gebot, verabschiedete Patrais sich. "Ich danke euch zutiefst, Neshrim Temhaly. Mögen die Götter über euch wachen. Und wenn ich noch etwas für euch tun kann, zögert nicht, es vorzubringen."

Der alte Mann lächelte und schüttelte den Kopf. "Ich freue mich auf meine Heimat. Nach so vielen Jahren in der Fremde gibt es nichts, was mir ebensolche Zufriedenheit geben könnte wie die Aussicht, in wenigen Tagen wieder in den Zelten meines Stammes zu sein."

"Dann wünsche ich euch eine gute Reise und ein langes, gesundes Leben im Kreise eurer Familie." Patrais verbeugte sich tief.

"Diesen Wunsch erwidere ich in dem Geist, in dem er gegeben wurde", antwortete der Alte formell und verneigte sich ebenfalls. Und Patrais kehrte, wiederum in einem weiten Bogen, zu ihrem eigenen Lager an dem kleinen Bach zurück.

Es war ein seltsames Gefühl, Hermil zurückzulassen, auch wenn Patrais ihn in guten Händen wußte. Und sie ahnte, daß dieses vage Gefühl der Entlastung bald dem Schmerz des Verlustes weichen würde. Ob es der Unirdischen ebenso gegangen war, als sie ihr Kind Patrais überlassen hatte?

Als Patrais unirdische Mutter dereinst ihr Kind dem Mann in die Hände legte, der es gezeugt hatte, war es bereits ein Jahr alt gewesen. Zu alt, um weiter in den Gärten der Freude zu bleiben. Doch das Kind, das die Unirdische Patrais vor ein paar Wochen in die Arme gelegt hatte, war nun maximal ein halbes Jahr alt. Und die Unirdische hatte gesagt, sie käme wieder... nein, die Unirdische hatte gar nicht gesprochen, fiel Patrais nun auf. Es waren eher Gefühle oder eine Lenkung ihrer Gedanken gewesen. Ob die Unirdische ihr den alten Temhaly geschickt hatte? So konnte Patrais sich nun ganz der Tochter der Unirdischen widmen, bis deren Mutter sie wieder abholte. Bei den Stämmen würde Hermil zu dem Mann heranwachsen, den sie in ihren Visionen gesehen hatte, erst dann würde sie ihn wiedersehen. Bis dahin blieb ihr nur die Erinnerung an ihn und die Aufgabe, seiner Eroberung Hannais den Weg zu bereiten.

* * *



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